25.7 Urteil des Strafbezirksgerichts I Wien

Materialitätstyp:

  • Durchschlag
Datum: 23. Februar 1927
Seite von 4

Geschäftszahl U XII. 71/26

Im Namen der Republik

Das Strafbezirksgericht I Wien hat heute in GegenwartDr. Oskar Samek als Vertreter des P.A. Karl Kraus in Abwesenheitdes Angeklagten Dr. Marc Siegelberg und in Anwesenheit Dr. Walter Guttmann über die Anklage verhandelt, die der Privat-ankläger gegenDr. Marc Siegelberg 24.VI.1895 geb. verh. Redakteurwegen der Übertretungnach § 45 Ziffer 4 Urh.Gesetz erhoben hatte,und über den vom Ankläger gestellten Antrag auf Bestrafung und Zuspruchder Befugnis zur Urteilsveröffenltlichungzu Recht erkannt:

Dr. Marc Siegelberg ist schuldig, als verantwortlicher Redakteurder „Stunde“ den Brief des P.A. vom 10.VI.1900 gerichtet an WilhelmLiebknecht, ohne Zustimmung des Verfassers in der Nummer 827 desdritten Jahrganges der „Stunde vom 10. Dezember 1925,veröffentlicht, sohin entgegen der Vorschrift des § 24, Abs. 2 Urh.Ges. herausgegeben zu haben.

Er hat hiedurch die Uebertretung nach § 45 Ziff. 4 Urh.Ges. begangen und wird gemäss § 45 Urh.Gesetz zu40 (vierzig) Schilling Geldstrafeim N.E.F. zu 24 Stunden Arrest und gemäss § 389 StPO. zum Ersatze der

Kosten des Strafverfahrens verurteilt.

Gemäss § 51 Urh.Gesetz wird dem Verletzten Karl Kraus die Be-fugnis zugesprochen, die Verurteilung innerhalb 14 Tagen nach Rechts-kraft des Urteiles durch Veröffentlichung des Urteils (ohne Gründe)in den Zeitungen „Die Stunde“ und „Arbeiter-Zeitung“ auf Kosten desSchuldigen öffentlich bekannt zu machen.

Gründe

Der P.A. erachtet sich dadurch beschwert, dass in der im Ur-teilsspruche angeführten No. der „Stunde“ ein von ihm am 10.VI.1900an Wilhelm Liebknecht gerichteter Brief abgedruckt wurde, ohne dassdie Zustimmung des Verfassers zur Veröffentlichung eingeholt wor-den war. Der Besch. ist wie auf Grund seines Geständnisses unddes Zeitungsimpressums feststeht, zur Zeit der Publikation verant-wörtlicher Schriftleiter der „Stunde“ gewesen. Er behauptete dassder Artikel, in dessen Kontext der fragliche Brief veröffentlichtwurde, ihm nicht zur Kenntnis gekommen sei und es konnte in der Tatdiese Verantwortung im Zuge der durchgeführten Vorerhebungen nichtwiderlegt werden. Dessenungeachtet erscheint er als verantwortli-cher Schriftleiter nach seinem eigenen Geständnis für die inkri-minierte Veröffentlichung, wie die Anklage mit Recht ausführt, ver-antwortlich und zwar als fahrlässiger Täter (da es in seinen Pflicht-kreis gehört hätte, von dem gegenständlichen Brief Kenntnis zunehmen und sich zu gewissern ob nicht durch die Veröffentlichungeine strafgesetzwidrige Handlung begangen werde), natürlich unterder Voraussetzung, dass objektiv ein gegen das Strafgesetz hierUrhebergesetz, verstossender Tatbestand gegeben ist.

Das Gericht hat vorliegendenfalls diese Frage allerdingsbejahen zu müssen erachtet. Dass die Zustimmung des P.A. zur Veröf-fentlichung des Briefes nicht vorlag, hat der Besch. gar nicht inAbrede gestellt und auch nicht einen bei ihm, Besch., etwa bestandenenIrrtum über die Autorisation zur Publizierung behauptet. Ebensowenig

hat der Besch. geltend gemacht, dass die Veröffentlichung „einemrücksichtswürdigen Interesse entsprach“. (§ 24 letzter Satz Urh.Ges.)Auch an sich erscheint ein solches berücksichtigungswertes In-teresse hier nicht gegeben. Mit einer Polemik gegen den P.A. hates nichts zu tun, wenn – wie es im bezeichneten Briefe geschieht –der Führer der reichsdeutschen Sozialdemokraten aufgefordert wird,seinem von der Meinung der „Wiener Sozialdemokraten“ in kulturellenBelangen angeblich abweichende Ansicht klarzulegen. Der Besch. hatvielmehr nur den Einwand erhoben, dass der fragliche Brief kein lite-rarisches Werk sei und daher überhaupt nicht unter eine Urheber-rechtliche Schutzbestimmung falle. Das Gericht konnte jedoch dieserAnsicht nicht beipflichten. Es ist ein anerkannter Grundsatz des Urheber-rechtes, dass von dem künstlerischen oder literarischen Wert, desWerkes die Bedeutung die es für die Allgemeinheit hat, abgesehen wird.Ein urheberrechtlich geschütztes Geisteswerk liegt schon dann vor,wenn der Verfasser sich damit oder darin an die geistige Persön-lichkeit des Lesers wendet, wenn er darin Gedanken entwickelt, die vonunmittelbarer praktischer Nutzanwendung absehend, der Leser zu einem„geistigen Anschauen“ veranlassen. Dies trifft im erwähnten Briefegewiss zu. Es werden darin vom Verfasser Gedanken über die Frage aus-gesprochen inwieweit die Sozialdemokraten sich für bestimmte In-teressen der „jüdischen Bourgeoisie“ engagieren sollen und dieStellungnahme des Briefschreibens selbst zu dieser Frage festgelegt:zweifellos also eine geistige Arbeit. Es ist auch nicht zu verkennendass, wenn man mit dem Besch. erst einem Werk von literarischerBedeutung den Urheberschutz zuerkannte, so gut wie jeder Brief ausdem gesetzlichen Schutzbereich herausfiele, die Bestimmung des § 24Abs. 2 Urh.Recht also fast nur auf dam Papier stände.

Der Besch. war sonach der Uebertretung nach § 45 Ziffer 4Urh.Ges. schuldig zu erkennen.

Mildernd: war das Geständnis des Tatsächlichen und der Um-stand, dass dem Besch. nur fahrlässige Begehungsweisezur Last fällt,Erschwerend: nichts

Die verhängte Geldstrafe erschien danach angemessen.

Die übrigen Entscheidungen gründen sich auf die angeführten

Gesetzesstellen; insbesondere hat das Gericht dem P.A. – obwohles sich vorliegendenfalls nur um eine Uebertretung handelt –die Publikationsbefugnis zuerkannt, folgend dem vom Landes-gericht f. Strafs. Wien I in der Entscheidung Bl. XV. 358/26 entwickeltenGedankengängen, wonach im Hinblick auf die ratis legis und den Um-stand dass der Wortlaut des § 51 Urh.Ges. keine Einschränkung der Anwend-barkeit der bezüglichen Gesetzesbestimmung auf das Vergehen nach§ 44 Urh.Ges enthält – im Gegensatze zu dem §§ 49, 50 u. 51 leg.cit. zu schliessen ist, dass auch im Falle nur eine Uebertretung vorliegt –doch dem Verletzten das Publikationsrecht gewährt wird. Es erschiendem Gerichte auch angemessen, konform dem Antrage des P.A. diesemnicht nur die Befugnis zur Veröffentlichung in der „Stunde“ selbstin der der gegenständliche Artikel erschienen ist, zuzusprechen,sondern auch das Publikationsrecht in der „Arbeiter-Zeitungals dem „Zentralorgan der Sozialdemokraten Deutschösterreichs“zuzuerkennen; letzteres, weil dem abgedruckten Briefe der P.A. die Stellungnahme der Sozialdemokraten zu gewissen kulturellenProblemen erörtert wird und die Veröffentlichung das Briefes nachZugeständnis des einbegleitenden Artikels den Zweck verfolgte,den P.A. bei den Sozialdemokraten zu denunzieren, dem P.A. alsoeine Abwehr auch in dieser Richtung zu ermöglichen billig scheint.

Wien am 3. Dezember 1926Der Richter: Der Schriftführer:Dr. Fryda m.p. Dr. Reichl m.p.Mit der Urschrift gleichlautend.

4./2. 27 U XII 71/26

Vorstehendes Urteil ist in Rechtskrafterwachsen und vollstreckbar

KrausStunde (Siegelberg) § 45/2 UG.

Wien, am 23./II. 1927[Unterschrift]