95.2 Strafanzeige gegen unbekannte Täter wegen gefährlicher Drohung (Staatsanwaltschaft beim Landesgericht für Strafsachen Wien I)

Materialitätstyp:

  • Durchschlag
Datum: 18. September 1927
Seite von 4

An dieStaatsanwaltschaft beim Landesgericht für Strafsachen IWien.

Karl Kraus,SchriftstellerWien IV., Lothringerstrasse 7.durch:

1 fach1 Beilage

Erstattet Strafanzeige gegen unbekannte Täter wegen gefähr-licher Drohung.

Ich erhielt am 18. September 1927 den bei-liegenden anonymen Brief, in welchem ich mit einer schwerenKörperverletzung bedroht wurde. Ich erstatte deshalb die An-zeige gegen unbekannte Täter wegen gefährlicher Drohung. ZurEruierung der Täter möchte ich Folgendes anführen. Der Schrei-ber oder die Schreiber des Briefes sind darüber orientiert,dass mir vor zirka einem Jahre von der Polizei zwei Kriminal-beamte zum Schutze beigegeben wurden, weil die Polizei in Er-fahrung gebracht hatte, dass gegen mich ein Attentat geplantsei. Es kann sich nur um Personen handeln, die von dieser Be-wachung gewusst haben. Am meisten liegt der Verdacht nahe, dassder Schreiber des Briefes dies von den mir zum Schutze bei-gegebenen Kriminalbeamten erfahren hat. Es ist nämlich ausge-schlossen, dass der Brief von einer Person herrührt, die übermeine jetzige Tageseinteilung orientiert ist. Wohl aber musser von einer Person herrühren, die über meine damalige Tages-einteilung orientiert war. Ich habe nämlich damals am Spät-nachmittag das Café Attaché besucht, um zirka 10 Uhr habe ichim Restaurant Hartmann meine Mahlzeit eingenommen und bindann ins Café Imperial gegangen. Seit fast einem Jahre besucheich aber das Café Imperial nicht mehr, sondern gehe auch nachmeiner Abendmahlzeit ins Café Attaché. Nach den UnterzeichnetenAnfangsbuchstaben K.F. und der Adresse Wien I., Elisabethstras-se Nr. 9 liess sich der Schreiber im Hause nicht eruieren, daeine Person, die als Schreiber in Betracht käme, im Hausenicht wohnt. Dagegen ist der Verdacht gegeben, dass der Schrei-ber des Briefes einem der antisemitischen Vereine, welche imHause Wien I., Elisabethstrasse Nr. 9 ihren Sitz haben, angehört.In diesem Hause logieren: der Antisemitenbund, Bund deutsch- österr. Gau „Ostmark“, Christl. Metallarbeiterverband, Christl.Bau und Steinarbeiter, Deutschösterr. Jugendbund, Deutscher

Schulverein Ortsgruppe „Jugendgruppe“, Deutscher Verbandfür Jugendwohlfahrt, Deutsche Wandervogel Schule, Engelsberg-bund, Nationalsozialistische Arbeiterpartei, Verband deutsch-völkischer Vereine Deutschösterreichs, Verein deutscher Stu-denten und andere gleichgesinnte Vereine.

Weiters möchte ich bemerken, dass, als icham 19. September 1927 abends das Haus verliess, ein jungerMann vor demselben auf und ab patrouillierte und sich einige-male nach mir umsah, als ich aus dem Haustore herausgetretenwar. Ich war in Begleitung eines Freundes Dr. Ludwig Münz. Derjunge Mann hatte beide Hände in den Ueberrocktaschen. Wirtraten auf ihn zu und fragten ihn, was er hier mache. Er wurdeunsicher und sagte, er sei ein früherer Verehrer von mir undhabe sich deshalb umgedreht. Als ihn Dr. Münz aufforderte, dieHände aus den Taschen zu geben, bemerkte er, er habe keineWaffen bei sich, wir mögen ihn untersuchen. Wir übergaben ihndann einem Wachmanne, der sein Nationales feststellte. Dienette Art, in welcher dieser junge Mann sprach, liessen michdann glauben, dass meine Vermutung, er stehe in einen Zusam-menhang mit dem Schreiber dieses vorgelegten Briefes, irrigsei. Nachher fiel mir aber ein krasser Widerspruch zwischenseiner Angabe des Grundes, weshalb er vor dem Hause gestan-den sei, nämlich weil er ein früherer Verehrer sei und michbetrachten wollte und seinem Alter auf. Der junge Mann istim Jahre 1908 geboren, heute also erst 19 Jahre alt. Einfrüherer Verehrer, und noch dazu ein Legitimist, der zu seiner betonte, kann unmöglich in diesem Alter stehen. Denn ent-weder er hat die Verehrerschaft durch meine Haltung im Kriegegeändert, er müsste dann aber vor dem Jahre 1915 mein Verehrergewesen sein, ein im Jahre 1908 geborener, wäre damals 7 Jahrealt gewesen; oder er ist erst spät nach dem Kriege mein Ver-

ehrer geworden, da wäre eher keine Veranlassung zu einerAbkehr von der von mir vertretenen Gesinnung gewesen. Beieinem so jungen Manne ist es also höchst unglaubwürdig,dass er auf eine frühere Verehrerschaft hinweisen könnteund es scheint nur eine durch unsere Frage hervorgerufeneAusrede gewesen zu sein, denn einerseits will er nicht mehrmein Verehrer sein, andererseits gibt er ein Bedürfnis an,mich zu sehen. Es ist also doch der Verdacht nicht von derHand zu weisen, dass er zu dem Schreiben in irgend einerBeziehung steht.

Ich möchte noch bemerken, dass ich infolgedieses und anderer mir zugekommener Drohschreiben die Ab-haltung der Vorlesung am 9. Oktober 1927 im Mittleren Kon-zerthaussaale und die Sicherheit der Veranstalter undZuhörer bedroht halte.

Karl Kraus.