42.1 Brief Samek an Marcel Ray

Materialitätstyp:

  • Typoskript

Sender

Oskar Samek
Schottenring
Wien
Datum: 2. April 1927
Betreff: Kraus – Stunde diverses.
Diktiersigle: Dr.S./Fa.

Empfänger

An: Monsieur Professor Marcel Ray
17. rue du Vieux Colombier
Paris VI.
Seite von 4

Hochgeehrter Herr Professor!

Als der strafrechtliche Berater in demKampfe, den Herr Karl Kraus gegen die Verbrecherbande derStunde“ geführt hat und führt – als der ich Ihnen bereits bekanntsein dürfte – möchte ich Sie um eine grosse Gefälligkeit bitten.Wie Sie wissen, und wie aus einem freundschaftlichen Schreiben her-vorgeht, das Sie seinerzeit an Herrn Karl Kraus in dieserAngelegenheit gerichtet haben, treibt sich die längste Zeit der vonder Wiener Staatsanwaltschaft, wegen Verbrechens der Erpressung undder falschen Zeugenaussage, verfolgte Imre Bekessy inParis herum. Er wohnte zuletzt in Paris 20. avenueVictor-Hugo. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft einformelles Auslieferungsbegehren an die französische Behörde gestellt,dessen offizielle Erledigung, wegen Langwierigkeit des diplomati-schen Weges, noch nicht erfolgt ist. Es scheint mir ausser Zweifelzu sein, dass dieser gefährliche Erpresser auch in Paris die Mög-lichkeit hat, mit dem ihm vertrauten Mittel, sich solche Beziehungen zu verschaffen, die zumindest eine Verzögerung behördlicherAktionen jedenfalls vor Eintritt der eigentlichen rechtlichen Mass-

nahmen bewirken könnten. Es wäre nun für mich von der allergrösstenWichtigkeit zu erfahren, in welchem Stadium sich diese Angelegenheitbefindet und ob Bekessy derzeit überhaupt noch sich inParis aufhält. Es ist hier ein ganz bestimmtes Gerücht ver-breitet, das auch in die Presse Eingang gefunden hat: dass Be-kessy sich den Konsequenzen des Auslieferungsbegehrens bereitsdurch die Flucht nach Amerika entzogen hat. Andererseits wirdwieder behauptet, dass er der Duldung der französischen Behörde,unter Ausspielung der angeblichen Tatsache sicher sein könne, dassman in Frankreich journalistische Erpresser nicht ausliefert. Wäredies der Fall, so hätte allerdings Ihr Land sich eine ganz außer-gewöhnliche Kraft auf diesem Gebiete erworben, deren Wirksamkeitin Betracht kommenden Kreisen sehr bald zu spüren sein wird. Fürden Kampf könnte dieser Umstand insoferne nicht belanglos sein, alsvon einer Sicherung der Position des Erpressers in Paris, eine Rück-wirkung auf Wien zu befürchten wäre, wie wohl es im Bereiche solcherMöglichkeit schwer glaublich erscheint, dass Imre Bekessy jemals nach Wien zurückkehrt. Sie würden Ihrem Lande jedenfallseinen grossen Dienst leisten, wenn Sie präventiv auf die ungeheuereGefahr aufmerksam machen, was allerdings überflüssig wäre, wennBekessy tatsächlich sich durch Abreise nach dem Westen be-reits für Europa ungefährlich gemacht hätte. Diese Eventualitätwäre vielleicht noch wirksamer, da er nach erfolgter Auslieferungund sicherer Aburteilung bei der vollkommenen Moralfreiheit desöffentlichen Empfindens, auch als Abgestrafter eine journalistischeRenaissance erleben könnte. Ich wäre Ihnen zu grösstem Danke ver-

pflichtet, wenn Sie mir einen Bericht über den Stand der Angele-genheit in Paris zukommen lassen könnten.

Mit dem Ausdrucke der grösstenHochachtung

Betr. KrausStunde diverses expediert am 2. April 1927.