68.77 Brief Sigismund von Radecki an Kraus

Materialitätstyp:

  • Manuskript

Sender

Sigismund v. Radecki
Passauerstr. 38 | III Etage, bei Lewinsohn
Berlin W 50
Datum: 3. Februar 28

Empfänger

An: Karl Kraus
Hintere Zollamtsstraße
I., Innere Stadt
Seite von 4

Verehrter Herr Kraus!

Ich freue mich sehr, daß Sie nach Berlin kommenwerden. Mit der Konzertdirektion Sachs habe ich sofort nachEintreffen des Briefes von Frl. Wacha gesprochen; Sie werdenden Brief der Konzertdirektion jetzt wohl schon inHänden haben.

In betreff des Berichtes über meine Eindrücke vonder Gerichtsverhandlung bin ich in einer schwierigenLage: denn erstens gab es kaum eine Verhandlung, dadie ganze Sache 5 Minuten dauerte, und zweitenswaren meine Eindrücke recht ungünstiger Natur –nämlich was Ihren Rechtsanwalt betrifft. So komme ichin die peinliche Situation, Ihnen Ihren Rechtsfreund, derpersönlich sicher ein hochanständiger und guter Menschist, ein wenig anschwärzen zu müssen. Auch habe ichAngst, daß dadurch „die größten Unerquicklichkeiten“entstehen könnten. Aber schließlich: Eindruck ist Eindruck,und den will ich Ihnen völlig unmaßgeblich schildern.

Die Sache begann damit, daß Ihr Rechtsanwalt erklärte, er habe gestern einen 30-seitigen gegnerischenSchriftsatz zu Händen erhalten, und sei daher nicht inder Lage, auf die darin enthaltenen völlig neuenArgumente vor Rücksprache mit seinem Klienten einzugehen (Hier möchte ich gleich bemerken – wasübrigens noch verhältnismäßig unwichtig ist –, daßIhr Rechtsanwalt schlecht, d.h. nicht überzeugend undunsicher spricht, welche Unsicherheit er durch ein Hin-und Herschwanken, Händeaufstützen auf den Richter-tisch usw. zu verbergen sucht. Der gegnerische Anwaltstand wie eine Mauer, und sprach ruhig und mitGewicht.)

Darauf sprach der gegnerische Anwalt. Er sprachdavon, wie viel Papier bereits in dieser Sache verschwendetworden sei, beklagte sich darüber, daß er einen 75-sei-tigen Schriftsatz ohne Kopie erhalten habe, sodaß ereine solche habe anfertigen lassen müssen (da Kerr auf Reisen gewesen), meinte, daß in der Sache keinEnde abzusehen sei, und schlug endlich vor, Klageund Widerklage zurückzuziehen, um der Sache einEnde zu machen und die Justiz, die wohl wichtigereDinge zu tun habe wörtlich, nicht unnütz zu belasten.

Der Sinn seiner Ausführungen ging dahin, dieSache als das übliche Literatengezänk hinzustellen,das von ernsten Männern, wie Rechtsanwälten undRichtern, nun einmal nicht ernst genommen werdenkönne. (Kerr war übrigens anwesend und stand stummdaneben.)

Nun finde ich, daß Ihr Rechtsanwalt sichdadurch nicht auf der Höhe der Situation zeigte, daßer auf diese Tendenz der Bagatellisierung derAngelegenheit völlig einging und das KlichéLiteratengezänk bereitwilligst annahm (ohne daß dasWort natürlich fiel.) Er sagte, daß auch er diesenVorschlag begrüße, daß er der Meinung sei, sowohlHerr Kraus wie auch Herr Kerr seien mit wichtigerenDingen beschäftigt, als daß sie durch solch eineAngelegenheit ihre Zeit verlieren sollten wörtlich, und dergleichenmehr. Er wolle seinem Klienten jedenfalls zu dieserLösung (Rücknahme von Klage und Widerklage) raten.(Man hatte den Eindruck, daß beide Rechtsanwälteheilfroh sein würden, wenn sie die Sache, die ihnenwohl über den Kopf wuchs, endlich los wären!)

Ich muß nun sagen, daß diese Haltung Ihres

Rechtsanwaltes (falls es nicht eine Finte war, wasich nicht glauben kann) deutlich zeigt, daß er denSinn der ganzen Angelegenheit nicht begriffenhatte, sondern ihr bloß formal beigekommen ist.Natürlich ist die Sache für Herrn Kerr unwichtig (solanger keine guten Gewinnchancen hat). Er hat ohne Zweifelbessere und ihm nützlichere Dinge zu tun. Aber daßgerade Sie, Herr Kraus, nichts Wichtigeres auf der Welthaben und daß es Ihnen ernst mit der Sache ist,daß hätte Ihr Rechtsanwalt – auch wenn Sie selbermit ihm den Vergleich aus allgemeinen Erwägungenund im gegebenen Augenblick für zweckmäßighielten – doch zumindest anführen müssen. Erdurfte sich auf das Niveau „Literatengezänk“ nichtso bereitwillig hinunterbegeben. Daher der peinlicheEindruck, den ich von der Verhandlung hatte.

Nun führte der gegnerische Rechtsanwalt nochan, daß er diesen Vorschlag zur beiderseitigenZurückziehung nicht als allein von sich ausgegangenwissen wolle, sondern daß er die Sache ja mitseinem werten Kollegen besprochen habe (folgenElogen an die Adresse von Herrn Dr. Levi), der darin mitihm völlig einer Meinung sei. Ihr Rechtsanwalt stimmt mit einer Verbeugung noch einmal zuund die Sache wird bis auf Einholung desBescheides vom Wiener Klienten, also auf etwa dreiWochen, vertagt.

Ich bitte Sie, lieber Herr Kraus, diesen meinenvertraulichen Bericht nicht als einen Ausdruck derAntipathie gegen Herrn Dr. Levi, den ich zum erstenMal im Leben sah, aufzufassen, und auch nichtals den Wunsch, diese Sache neu anzufachen. Vielleicht

ist die vorgeschlagene Lösung wirklich die beste– darüber habe ich kein Urteil. Ich habe Ihnenhier den meinen Eindruck von diesen 5 Minutenwiedergegeben.

Mit den besten grüßenIhrIhr Sigismund v. Radecki

P.S. Falls der Vergleich nicht zustandekommensollte, wäre ich für eine Verständigungüber den Verhandlungstermin dankbar. R.