72.17 Brief Hans Loewe an Samek

Materialitätstyp:

  • Manuskript

Sender

Hans Loewe
Wien-Steinhof
XIV., Penzing
Datum: 3. Juni 1930
Betreff:
Diktiersigle:

Empfänger

An: Herrn | Dr. Oskar Samek | Rechtsanwalt
Schottenring 14
Wien I
Datum: 3. JUNI 1930
Seite von 4
Wien-Steinhof, den 3. Juni 1930.HerrnDr. Oskar Samek,RechtsanwaltWien I.Schottenring 14

Sehr geehrter Herr!

Ich habe am 21. Februar l.J. von Ihnen gehört, daß die Ihnen damalsvorgelegten Schmähartikel einiger Wiener Zeitungen dem Herrn Karl KrausAnlaß zu einer Arbeit von drei Tagen geben und daß im Zusammenhangmit dieser Arbeit auch meine Ihnen überreichte Schrift Zueignung anKarl Kraus in der Fackel erscheinen wird. Da ich außerdem vonIhnen erfahren habe, daß Sie die mir öffentlich gestellte Diagnose(paranoia, dementia praecox und Größen-Ideen) für nicht zutreffend– ja sogar für stark übertrieben – erachten, habe ich mir gestattet,anhand von Briefabschriften, die ich an die Fackel gesendet habe, darzutun,daß gegenüber der verbrecherischen Beraubung persönlicher Freiheit undden (nach den Bestimmungen der Verordnung vom 28.VI.1916 über Anhaltungin Irrenanstalten) groben Fahrläßigkeiten die Öffentlichkeit eben injenem lethargischen Schweigen verharrt, zu welchen sie ihr schlechtesGewissen vor dem Namen Karl Kraus seit jeher verurteilt.Aber dadurch, daß sie alle schweigen, beweisen sie geradezu, daß siemich für geistig gesund halten. Denn sonst müßte sich ja irgend einSchmutzfink gefunden haben, der von den Früchten auf dem Baumgeschlossen hätte. Auch in dieser Richtung habe ich den Nachweis versucht,indem ich mich des Landesgerichtspräsidenten Dr. Aichinger bediente,den ich mir einem Zubringer der Presse übelster Sorte, einem Früchtel, dem diePolizei mit falschen Dokumenten gedient hat (namens Alexander Stigetić) meinen

Fall besprechen ließ. Dr. Aichinger hat durch Stigetić bei der Direktionam Steinhof über meinen Zustand angefragt und die psychiatrischeInformation erhalten, daß ich geistig gesund bin.

Ich richte nun fröhl. Anfrage an Sie, ob Sie geneigt sind, für mich beim Bezirksgericht Hietzinggegen den Gerichtsbeschluß auf eine vorläufige Anhaltung von acht Monatenin der Irrenanstalt einen Rekurs einzubringen.

Ich würde Mitte März vor die in obcitierter Verordnung vorgeseheneGerichtskommission gestellt. Die Untersuchung dauerte etwa drei Minutenund verlief folgendermaßen. Ich wurde vom Gerichtspsychiater Hofrat Göbelgefragt, warum ich freiwillig in die Irrenanstalt gegangen bin, undantwortete, daß ich den Polizeiarzt lediglich um Überstellung auf diepsychiatrische Klinik ersucht habe. Die Einlieferung auf den Steinhof sei gegenmeinen Willen erfolgt. Hierauf wurde mir vorgehalten, daß ich mich alsden größten Narren Europa’s bezeichnet habe. Das gab ich zu, erklärte aber,daß ich zufolge des deutschen Sprachgebrauchs das Substantivum ‚Narr‘ ebensozu der subjektiven Verbalform ‚Narr sein‘ wie zu der objektiven ‚narren‘gehöre. Dem entgegnete Hofrat Göbel mit der Feststellung: „Dann sind Siewirklich ein großer Narr.“ Ich erwiderte: „In Ihrem Sinne haben SieRecht. Und ich gelte auch deshalb als Narr, weil ich den Anscheinnicht vermieden habe, als hätte ich mit Mitteln des Geistes einen ansich unbewegliche Materie in eine bestimmte Richtung lenken wollen.“

Hierauf fragte mich Hofrat Höbel, ob ich weiterhin interniertbleiben wolle, was ich verneinte. Die Untersuchung war somit beendigt.

Sowohl damals wie bei späteren Kommissionierungenhat Hofrat Höbel den anderen Patienten die Dauer der von der Kommissionbeschlossenen Internierung mündlich bekannt gegeben. Somit hat es nach derletzten, von mir verneinten Frage ausgesehen, als ob die Gerichtskommissiondie Notwendigkeit meiner weiteren Anhaltung nicht ausgesprochen hätte.

Der Abteilungsarzt, den ich daraufhin wegen meiner Entlassungbefragte, versprach mir durch eine ganze Woche, es mir am nächsten Tagsagen zu wollen. Ich richtete am 22.III. eine diesbezügliche Aufforderungschriftlich an den Primararzt und erhielt am 24.III. ohne irgend eineBegründung die Mitteilung, daß ich weiterhin interniert bleibe.

Nun hat meine Mutter Ende April [l.J.] in der Auskunftsstundebeim Dienst habenden Arzt vorgesprochen und mit dem Hinweis darauf,daß sie zufolge ihrer Taubheit meiner Unterstützung bedarf, ummeine Entlassung angesucht. Es wurde ihr mitgeteilt, daß meineEntlassung ausgeschlossen sei und daß die Gerichtskommission einevorläufige Anhaltung von acht Monaten beschlossen habe.Tagsdarauf besuchte mich der Primararzt Dr. Sterns, teilte mirmit, daß meine Mutter erklärte, meiner Unterstützung zubedürfen, und legte mir nahe, ihr meine Hilfeleistungdadurch zuteil werden zu lassen, daß ich ihr gelegentlich ihrerBesuche gute Rathschläge erteile.

Ich habe vorgestern, den 1. Juni, mittelst Korrespondenzkartedas Bezirksgericht Hietzing ersucht, mir eine Ausfertigung des Beschlussesüber meine Anhaltung zuzusenden.

Ich würde, falls Sie bereit sind, auch den an den Rekurssich eventuell anschließenden Prozeß zu führen, Ihnen den Aktnach Empfang umgehend übermitteln.

Mit vorzüglicher HochachtungHans Loewe

P.S. – Die Postverbindung in die Anstalt ist allerdings sehr problematisch.

KrausLoewe3. JUNI 1930