76.4 Brief Richard Flatter an Kraus

Materialitätstyp:

  • Typoskript
  • Kopie

Sender

Richard Flatter
Mariahilferstr. 1B
Wien, | 6.
Datum: 8. Oktober 1932

Empfänger

An: Herrn | Karl Kraus
Hintere Zollamtsstraße
Wien
Seite von 1

Sehr geehrter Herr Kraus!

Seit der Aufführung von „Mass für Mass“ sind Jahrevergangen. Sie haben mich damals beschimpft, zum Teil mit Recht;ich könnte heute genau auseinandersetzen, worin und wieweit SieRecht hatten. Nur so viel, dass „Mass für Mass“ meine zweiteShakespeare-Übersetzung war, während ich derzeit mit der dreizehntenbeschäftigt bin. Es ist klar, dass ich mich gewandelt habe – undwie ich ein anderer geworden bin, so möchte ich, ich könnte auchSie aus einem Saulus in einen Paulus verwandeln. Ich lege Ihnen einpaar Shakespeare-Sonette vor, von denen ich bisher 31 übersetzt ha-be. Vergleichen Sie, bitte, meinen Text mit jenem von George (abge-druckt in der Gundolfschen Ausgabe) oder mit dem von Fulda oderEmil Ludwig und Sie werden, hoffe ich, finden, dass ich Shakespeare treuer diene als jene andern. (Von einem Sonett lege ich zur be-quemeren Vergleichung Übersetzungen von George, Fulda und Ludwig bei.)

Aber wie auch immer – jedenfalls meine ich, dassIhnen, einem solchen Shakespeare-Verehrer, meine Sendung Freude ma-chen wird. Immer wieder wird behauptet, man wüsste von Shakespeare nichts, und hier, in den Sonetten, steht er leibhaftig vor uns.

Mit vorzüglicher HochachtungDr. Flatter