109.7 Urteil des Strafbezirksgerichts I Wien (G.Z. I U 358728, Richter: Landesgerichtsrat Robert Kramer, Verteidiger: Josef Geiringer)

Schreiberhände:

  • schwarze Tinte

Materialitätstyp:

  • Typoskript mit handschriftlichen Überarbeitungen
Datum: 21. September 1928
Seite von 2

Geschäftszahl: 1 U 358/283

Im Namen der Republik!

Das Strafbezirksgericht I in Wien als Pressegericht hat heutein Gegenwart des Privatanklagevertreters: Dr. Oskar Samek und des Verteidigers Dr. Josef Geiringer über dieAnklage verhandelt, die der Privatankläger Karl Kraus gegenOskar Hirth, 60 J., verh., verantwortlicher Redakteurdes „Neuen Wiener Tagblattwegen der Übertretung nach § 24 (2) 2 Pressgesetz erhoben hatte und über den vom Ankläger gestellten Antrag auf Bestrafung des Besch. undVerpflichtung zur Veröffentlichung der Berichtigung in der ZeitungNeues Wiener Tagblatt“ zu Recht erkannt:

Oskar Hirth wird von der Anklage, er habe im September 1928 in Wien als verantwortlicher Schriftleiter der Zeitung „Neues Wiener Tagblatt“vom 13.IX.1928 die vom Pr.Ankl. Karl Kraus verlangte Be-richtigung von in der Nummer 245 der genannten Zeitung vom 3.IX.28 unter der Überschrift „Skandalszenen bei einer Kraus-Vorlesung“ mitgeteiltenTatsachen nicht in der im § 23 Pressgesetz vorgeschriebenen Weise ver-öffentlicht und habe hiedurch die Übertretung nach §§ 23 und 24 (2) 2Pressgesetz begangen, gemäss § 259/3 ST.P.O. freigesprochen. Gemäss § 390 ST.P.O. hat der Pr.Ankl. die Kosten des Strafverfahrenszu tragen.

Entscheidungsgründe:

Durch das Impressum, bezw. die vorgelegten Zeitungsnummernist erwiesen, dass der Besch. in der in Betracht kommenden Zeit der ver-antwortliche Schriftleiter der Zeitung „Neues Wiener Tagblatt“ warund dass die vom Pr.Ankl. verlangte Berichtigung des in der Nummer vom3.IX.28 unter der Überschrift „Skandalszenen bei einer Kraus-Vorlesungin der Nummer vom 13.IX.28 der genannten Zeitung veröffentlicht wurde.

Durch das vorgelegte Postrezipiss ist weiters festgestellt, dassdas Berichtigungsschreiben am 10.IX.1928 an den Besch. abgesendet wurdeund er dasselbe somit am 11. ds. erhalten hat. Die Berichtigung wurdeam 13.IX.28, somit rechtzeitig veröffentlicht.

Der Pr.Ankl. erblickt nun den Tatbestand der Übertretung nach§ 24 Pressgestz. in folgendem Umstand:

In dem Berichtigungsschreiben heisst es „Sie veröffentlichen(Skandalszenen bei einer Krausvorlesung) Aus Berlin 3.d. wird uns tele-grafiert …“; in der gebrachten Berichtigung heisst es nun „Sie veröffentlichen: aus Berlin 3.d. wird uns telegrafiert.“ Zwischenden Worten „veröffentlichen“ und „aus Berlin “ ist der Satz „Skandal-szenen bei einer Krausvorlesung“ ausgelassen, wor in der Pr.Ankläger den inkriminierten Tatbestand erblickt. Demgegenüber sei darauf hinge-wiesen, dass der Titel der Berichtigung „Skandalszenen bei einer Kraus-vorlesung“ in der Berichtigung gebracht wurde und zwar wurde er genauin denselben Lettern und an derselben Stelle nämlich am Kopfe, wie indem berichtigten Artikel gebracht; die Berichtigung beginnt wieder mitdemselben Titel. Die Zeitung hat also auch den Titel „Skandalszenen beieiner Krausvorlesung“ gebracht, am entsprechenden Ort und in entspre-chender Weise; denn aus dieser Art und Weise, wie er gebrachtwurde, ergibt sich klar, dass der ursprüngliche Titel so gelautet hat,und auch jetzt so lautet. Durch die Antithese wird nicht allein wider-legt, dass eine Vorlesung stattgefunden hat, sondern auch, dass sichdabei Skandalszenen abgespielt haben sollen.

Das Gericht ist nach dem Vorhergesagten zu der Ansicht gekom-men, dass die Berichtigung dem Gesetze entsprechend veröffentlicht wur-de. Der Besch. Oskar Hirth wurde daher mangels strafbarenTatbestandes gemäss § 259/3 ST.P.O. freigesprochen.

Der Ausspruch über die Kosten ist in § 390 St.P.O. begründet.Wien, am 21. September 1928.

Dr. Kramer Kahlert

KrausNeues Wr. Tagblatt 29. SEP. 1928