121.4 Urteil des Strafbezirksgerichts I Wien (G.Z. U 139/29, Richter: Christoph Höflmayr)

Materialitätstyp:

  • Typoskript
Datum: 30. April 1929
Seite von 4

Geschäftszahl 1 U 139/29/3

Im Namen der Republik!

Das Strafbezirksgericht I in Wien als Pressegericht hatheute in Gegenwart des Privatanklagevertreters Dr. Oskar Samek und des Verteidigers Dr. Oswald Richter über die Anklage ver-handelt, die der Privatankläger Karl Kraus gegen Dr. Otto Leich-ter, 31 Jahre alt, verh., verantwortlicher Schriftleiter derArbeiterzeitung“ wegen der Übertretung nach §§ 23, 24 (2) 3Pressegesetz erhoben hatte und über den vom Ankläger gestelltenAntrag auf Bestrafung des Beschuldigten und Veröffentlichungder Berichtigung zu Recht erkannt:

Dr. Otto Leichter wird von der Anklage, er habesich im März 1929 in Wien als verantwortlicher Schriftleiterder „Arbeiterzeitung“ grundlos geweigert, die von Karl Kraus verlangte Berichtigung von in der Nummer 70 der genannten Zeitung vom 11. März 1929 in dem Aufsatz mit der Überschrift: „Litera-tur vor dem Handelsgericht“ mitgeteilten Tatsachen zu veröf-fentlichen und hiedurch die Übertretung nach §§ 23, 24 (2) 3Pressgesetz begangen, gemäss § 259/3 St.P.O. freigesprochen.

Gemäss § 390 St.P.O. hat der Privatankläger die Kostendes Strafverfahrens zu ersetzen.

Entscheidungsgründe:

Aus dem Impressum bzw. den Angaben des Verteidigers ist erwiesen, dass der Besch. während der in Betracht kommendenZeit verantwortlicher Schriftleiter der „Arbeiterzeitungwar, das Berichtigungsschreiben erhalten hat, dass seithermehr als 2 Nummern der „Arbeiterzeitung“ erschienen sindund die verlangte Berichtigung nicht veröffentlicht wurde.

Das Gericht hatte zu prüfen, ob die Weigerung des Besch.

die verlangte Berichtigung zu veröffentlichen grundlos war (§24 (2) 3 Pr.G.).

Das Gericht ist der Ansicht, dass die verlangte Berichtigung in keinem Teile den gesetzlichen Bestimmungen über das Berich-tigungsrecht entspricht.

Der erste Absatz des Berichtigungsschreibens ist nach Formund Inhalt keine Berichtigung sondern eine Polemik; es istnicht deutlich ersichtlich gemacht, welche Stellen berichtigtwerden und Thesen und Antithesen sind nicht im richtigen Ver-hältnis einander gegenüber gestellt. Die Stelle: „Es ist unwahr,dass Karl Kraus zum Ausdruck gebracht hat …“ entsprichtauch deshalb nicht dem Pressgesetz, weil in dem berichtigtenAufsatz gar nicht behauptet wurde, dass Karl Kraus zum Aus-druck brachte, dass es nicht darum gehe …“.

Das Gericht ist der Ansicht, dass der verantwortlicheSchriftleiter die Veröffentlichung der Berichtigung nicht ausdem Grunde des § 23 (2) 4 Pr.G. verweigern konnte, weil aus demBerichtigungsschreiben nicht ersichtlich ist, auf welche Per-son sich die Worte „Lumperei“ und „hinterrücks erfolgteStreichung“ bezieht. § 23 (2) 4 Pressges. berechtigt nur dann zur Wei-gerung, wenn der Wortlaut der Berichtigung eine Klagemöglichkeitgibt. Dies ist vorliegend nicht der Fall.

Der zweite Absatz der Berichtigung entspricht deshalbnicht dem Pressgesetz, weil es keine berichtigungsfähige Tat-sache ist, wie oder was jemand denkt.

Der dritte Absatz des Berichtigungsschreibens beginnend mitden Worten: „Sie schreiben: ‚Wir können das Datum nicht zi-tieren …‘“ bis „… zu retten gewesen“, ist keine Berich-tigung von Tatsachen, sondern eine Polemik; überdies entsprichtdie Antithese: „Wahr ist, dass die in den anderen zitiertenSätzen … Änderung … niemals hinterrücks … erfolgt ist …durchaus nicht den Thesen: „Es ist unwahr, dass Karl Kraus

sich gar nicht selten gerühmt hat …“ und „es ist unwahr, dasser diese Worte gebraucht hat.

Der letzte Absatz des Berichtigungsschreibens entsprichtdeshalb nicht dem Pressgesetz, weil „sich als Verdienst anrech-nen“ keine berichtigungsfähige Tatsache ist und weil zwischenEs ist unwahr, dass Karl Kraus es sich als Verdienst anrechnetund „Wahr ist, dass eine Veränderung und Korrektur nur dann erfolgt ist, wenn“ der zwischen These und Antithese erforder-liche Gegensatz fehlt.

Da somit die Berichtigung ihrem ganzen Inhalte nach denpressgesetzlichen Bestimmungen nicht entspricht, bestand keineMöglichkeit gem. § 24 (3) Pr.G. mit einer Feststellung vorzugehen.

Der Beschuldigte war gem. § 259/3 St.P.O. freizusprechen, daseine Weigerung, die verlangte Berichtigung zu veröffentlichennicht grundlos war (§ 24 (2) 4 Pr.G.).

Gem. § 390 St.P.O. war dem Privatankläger der Kostenersatzaufzuerlegen.

30. April 1929.Kahlert

KrausArb.Ztg. VI.9. MAI 1929