189.89 Beweisanträge (Übersetzung) Marie Schnierer

Materialitätstyp:

  • Durchschlag
Datum: 10. Januar 1935
Seite von 2

Uebersetzung

In der rubrizierten Strafangelegenheit überreicheich durch meinen Verteidiger folgende Beweisanträge:

1./ Der Privatkläger klagt vor allem den Satz,resp. die Ueberschrift des Artikels „Wofür doch so einKarl Kraus alles Kraft, Nerven und Zeit hat“, wobei erden Ausdruck „so ein“ für beleidigend ansieht.

Dieser Ausdruck ist jedoch durchaus anständig, enthältnichts beleidigendes, insbesondere nicht die Absicht, denPrivatkläger lächerlich zu machen oder herabzusetzen.

2./ Ferner klagt Herr Kraus sein eigenes Zitatund zwar den Satz „denn Polemik erfordert entweder Mut oderist Feigheit oder Verrat und keine Polemik ist auch einePolemik!“ Dieses Zitat als solches ist in keiner Weiseanstössig, umsoweniger, als es ja ein Zitat aus den Werkendes Privatklägers selbst ist. Insoferne jedoch der Kläger diesen Satz als beleidigend empfindet und zwar in Verbindungdamit, dass er zu der Ermordung seines Freundes Erich Mühsam und zum Schicksal des Karl Ossietzky geschwiegen hat, ver-weise ich darauf, dass der Privatkläger sich bei diesem An-lasse tatsächlich in keiner Weise geäussert hat, wiewohl manmit Rücksicht auf sein Verhältnis zu dem ermordeten Mühsam und auf seine frühere politische Ueberzeugung und auf seineBeziehungen mit Recht erwarten konnte, dass er sich in irgend-einer Weise sowohl zu diesem Morde, als auch zum Schick-sale Ossietzky, dem aller Voraussicht nach das gleicheSchicksal wie Mühsam bevorsteht, äussern werde.

Beweis: Zeugenaussage der Schriftsteller Franz Weiss-kopf, Prag – VIII Nc. 1361, Ernst Ottwald,Prag – II, Betlehemsplatz, Anton Kuh, Prag –II, Hotel ESPLANADE, Ivan Olbracht, Krč 173,Wieland Herzfeld, Prag – I, Konviktsgasse 5,Herrmann Budislavský, Prag – X, Žižkagasse 4,Prof. Zdeněk Nejedlý, Prag-Smíchov, Dienzenhoffer-park 2.

3./ Es war nirgends behauptet, der Privatkläger habe die Menschheit und Menschlichkeit verraten und diePolemik aus Feigheit unterlassen. Allerdings ist es wahr,dass der Privatkläger früher im und nach dem Kriege mitden Repräsentanten des damaligen Regimes heftig polemisierthat, insbesondere auch mit Schober, dass er Anhänger desdemokratischen Regimes und der sozialdemokratischen Parteigewesen ist. Erst von der Zeit an, in welcher ein Wechselim Regime Deutschlands und Oesterreichs eingetreten ist,hat er die Polemik mit diesen faszistischen Regimen einge-stellt, insbesondere mit dem Dollfuss’ Feys und Schnuschniggs,sodass er seine früher demokratische Gesinnung geändert hat.

Beweis: wie ad 2./

4./ Schliesslich sind die geklagten letzten Sätzegleichfalls nicht beleidigend, denn es ist absolut nichtwahr, dass der Privatkläger mit einer Grande Cocotte odermit einer Klosettfrau verglichen worden wäre, es handeltsich vielmehr um eine Polemik mit den Anhängern des Pri-vatklägers und gegen deren irrigen Ansichten. Uebrigensist in dem Ausdruck „Grande Cocotte“ oder „Klosettfraunichts beleidigendes zu erblicken, umsoweniger als derAutor des Artikels sogleich beifügt, er wolle gegen Klosett-frauen nichts gesagt haben, die ja gewiss ebenso ehrlicharbeitende Frauen sind, wie irgendwelche andere Arbeiterinnen.Keinesfalls wollte jedoch der Artikel, resp. dessen Autor,damit vom Privatkläger Tatsachen aussagen, welche ihn ver-ächtlich oder lächerlich machen oder ihn herabsetzen müss-sten, zumal vom Privatkläger selbst weder bei diesem Pas-sus, noch sonst wo die Rede ist, sondern nur von Hitler-barden, welche trotz ihren früheren Verdiensten heutebegeisterte Verehrer des faszistischen Regimes sind, wiezum Beispiel Benn.

Beweis: wie ad 2.

Prag, am 10.I.1935.

Dr. Marie Schnierer.