193.48 Brief RA Johann Turnovsky an Samek

Materialitätstyp:

  • Typoskript mit handschriftlichen Überarbeitungen

Schreiberhände:

  • schwarze Tinte

Sender

JUDr. JOHANN TURNOVSKY | Advokat
Vodičkova 33
Prag
Datum: 1.III.1935
Betreff: Kraus – Sozialdemokrat

Empfänger

An: P.T. | Herrn Dr. Oskar Samek, Advokat
Reindorfgasse 18
Wien – XIV
Seite von 6

Sehr geehrter Herr Doktor.

Bei der heutigen Hauptverhandlungwurden die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens neuerlichkonstatiert und alle Schriftsätze seitens des Vorsitzendenzur Verlesung gebracht, da in der Besetzung des Senates eineAenderung eingetreten ist.

Im Sinne Ihrer gesch. Zuschrift vom27. v.M. habe ich mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass derSozialdemokrat“ und seine massgebenden Redakteure überdie Ansichten des Privatklägers betreffend die Haltung dersozialdemokratischen Führer anlässlich der Wiener-Februar-Ereignisse genau informiert waren und dass sie trotzdemin voller Kenntnis dieser Ansichten und der Kritik des Ver-haltens der Sozialdemokratie und ebenso in voller Kenntnisdes Inhaltes des Aufsatzes des PrivatklägersHüben undDrüben“ am 28.IV.1934 in der Zeitschrift „Sozialdemokrateinen huldigenden Artikel publiziert haben, woraus hervorgeht,dass der Autor des inkriminierten Artikels durch den im Julierschienenen Aufsatz des Privatklägers weder überrascht, nochzur Verfassung und Publizierung des beleidigenden Artikels provoziert werden konnte. Beweis: Zeugen Dr. Emil Franzel,Heinrich Fischer und der im ‚Sozialdemokrat‘ erschienene Artikelvom 28.IV.1934.

Ich habe mich bemüht, dem Gerichte begreiflichzu machen, dass die vom Gegner unter Beweis gestellten Tatsa-chen für den Prozess irrelevant sind und dass es einzig daraufankommt, den Beweis darüber durchzuführen, ob die gegen denPrivatkläger erhobenen Anschuldigungen begründet sind, wasdadurch geschehen könne, dass der in beglaubigter Uebersetzungvorliegende Huldigungsartikel vom 28.IV.1934 zur Verlesunggebracht und die Zeugen Heinrich Fischer und Dr. Franzel ein-vernommen werden.

Der Verteidiger stellte den Antrag, es mögemit Rücksicht auf den Inhalt des von mir überreichten Schrift-satzes, in welchem die Anklage hinsichtlich einiger Stellenzurückgenommen wurde, das Verfahren eingestellt und dem Pri-vatkläger der Ersatz der Hälfte der bisherigen allgemeinenVerteidigungskosten, sowie der gesamten auf die Anklagepunktebezughabenden Kosten, insoferne die Klage zurückgenommen wurde,auferlegt werden. Insbesondere zur Durchführung des Wahrheits-beweises darüber, dass der Privatkläger wilde und läppischeAusfälle unternommen habe, seien spezielle Kosten, vor allemdurch ein eingehendes Studium der JULI-FACKEL entstanden.Zur Begründung dieses Antrages berief er sich auf ein Judikatdes Prozessgerichtes, welches vom Obergerichte bestätigt wordenist.

Gegen diesen Antrag habe ich vorgebracht, dassdie ganze Anklage aufrechterhalten wird und nur die Inkriminie-rung jener Stelle widerrufen wurde, in welcher behauptet wird,der Privatkläger habe wilde Ausfälle gegen den Marxismus und

die Sozialdemokratie unternommen. Von der Inkriminierung derStelle, durch die die Ausfälle als läppisch bezeichnet wurden,sieht der Privatkläger nur deswegen ab, weil der über dieseStelle vom Angeklagten angebotene Wahrheitsbeweis eine wesent-liche Verschleppung und Verteuerung des Verfahrens zur Folgehaben müsste, was der Privatkläger vermeiden wollte.Uebrigens sind durch die Inkriminierung jener Stellen,von deren Verfolgung abgesehen wird, keinerlei Kosten ent-standen, was schon darauf hervorgeht, dass die Frage, obeine Ehrenbeleidigung, begangen durch die Presse, vorliegt,nach dem Inhalte des ganzen inkriminierten Artikels und nachdem gesamten Zusammenhang und keinesfalls nach einzelnenPunkten oder Absätzen dieses Artikels beurteilt werden muss.

Das Gericht hat sehr lange beraten undschliesslich trotz meinen Hinweisen beschlossen, die vonder Verteidigung beantragten Beweise, nämlich Vorlage derFackelhefte Nr. 890 bis 905, 787 bis 794, 766 bis 770,771 bis 776, 777 bis 780 und der Dramen „Die letzten Tageder Menschheit“, „Die Unüberwindlichen“, „Zeitstrophenzuzulassen.

Ueber den Antrag hinsichtlich der Kostenwird erst im Endurteile entschieden werden.

Die Entscheidung über die vom Privatkläger gestellten Beweisanträge wird bis nach Durchführung derheute zugelassenen Beweise zugelassen erfolgen .

Da der Angeklagte erklärte, zur Vorlage der

Uebersetzungen wenigstens eine halbjährige Frist zu benöti-gen, wurde ihm aufgetragen, diese Uebersetzungen längstensinnerhalb dieser Frist vorzulegen.

Die Verhandlung wurde auf unbestimmte Zeit vertagt.

Ich habe den Vorsitzenden nach Verkündi-gung dieses Beweisbeschlusses abermals darauf aufmerksam ge-macht, dass es ganz ausgeschlossen ist, dass sich das Gericht,selbst wenn Uebersetzungen vorgelegt werden sollten, mit derLektüre dieser grossen Anzahl von Aufsätzen befasst, dass essich dem Angeklagten um nichts anderes, als um die Verschlep-pung des Verfahrens handelt und dass er gar nicht ernstlichdaran denkt, die Aufsätze übersetzen zu lassen, schliesslich,dass es vollkommen überflüssig ist, Beweise zuzulassen, diemit der Sache gar nichts zu tun haben. Darauf antwortete derRichter, er habe die Beweise zulassen müssen, da er sich inder Sache überhaupt nicht auskenne / er bezeichnete dies miteinem tschechischen Volksausdruck, der sich in deutscher Über-setzung nicht leicht wiedergeben lässt und etwa den Sinn hat, „mir ist davon ganz wirr im Kopf“. / und sich doch über dieVoraussetzungen für diesen Prozess ein Bild machen müsse.

Leider handelt es sich um eine prozess-leitende Verfügung, gegen die es kein Rechtsmittel gibt, sodassich gegen diese Verschleppung ganz machtlos bin und eigent-lich auch keine Möglichkeit habe, durchzusetzen, dass der demGegner gestellten Frist Präclusivfolgen zuerkannt werden.

Ich bin überzeugt davon, dass Dr. Schwelb auch nach einem halben Jahr die Uebersetzungen nicht vorlegenwird, ohne dadurch die prozessuale Stellung seines Mandanten zu gefährden. Der einzige Ausweg wäre der, wenn man sich mit

dem Gegner dahin einigen könnte, dass der Beweis, der durchdie Schriften des Herrn Kraus geführt werden soll, durch einenSachverständigen erbracht wird, welcher die Aufgabe hätte,dem Gerichte in leicht verständlicher Form den Inhalt der alsBeweis beantragten Schriften darzustellen.

Aus diesem Berichte werden Sie, sehr geehrterHerr Doktor, ersehen, dass alle Anstrengungen, den Prozessauf die Erörterung der allein relevanten Umstände einzuschrän-ken, vergeblich sind. Die Richter lassen sich einfach nichtdavon abbringen, dass sie, um in diesem Prozesse richtig ur-teilen zu können, darüber orientiert sein müssen, was HerrKraus früher publiziert hat und ob dies tatsächlich im Wider-spruche mit dem Inhalte der letzten FACKEL ist. Dass dieserWiderspruch vom ‚Sozialdemokrat‘ selbst als nicht bestehend be-zeichnet wurde und dass das Nichtvorhandensein dieses Wider-spruches durch die Einvernahme der Herren Heinrich Fischer und Dr. Emil Franzel, sowie durch den im „Sozialdemokraterschienenen Artikel vom 28.IV.1934 bewiesen werden kann,können sie absolut nicht begreifen.

Es tut mir ausserordentlich leid, dass ichHerrn Kraus über den Verlauf dieser Verhandlung keinen er-freulicheren Bericht erstatten kann.

Indem ich Sie bitte, ihm meine besten Empfeh-lungen zu bestellen, zeichne ich mit den besten Grüssen an Sie,

Ihr ergebener: Dr. Turnovsky

P.S.

Ich habe mich wegen des Emigrantenartikels an Herrn Dr. OskarSimon in Karlsbad gewendet, habe jedoch auf meinen Brief über-haupt keine Antwort erhalten.

KrausSozialdemokrat 2. MRZ. 1935