196.190 Abschrift des Pamphlets „Kraus oder die Kunst der Gesinnung“ von Hugo Sonnenschein

Materialitätstyp:

  • Typoskript
Datum: 14. März 1920
Seite von 4

Abschrift.

KRAUS ODER DIE KUNST DER GESINNUNG

Nur mit äußerstem Widerwillen, aus Notwehr, befasseich mich mit einer Angelegenheit, die ich am liebsten den In-teneressierten oder hiezu Berufenen überlassen hätte; nichts istmir gleichgültiger als die Materie, die zu behandeln mir aufge-zwungen wurde. Deshalb bin ich den Freunden und Feinden,den Kennern und Bekennern um Karl Kraus, Wien, dankbar,die mir die Arbeit insofern erleichtert haben, als sie mir,dem Unwissenden, direkt oder indirekt Material aus einer mirfremden Sphäre zusammengetragen haben. Nach dieser Ein-leitung erkläre ich:

Kraus, der im Sommer 1919 in einem verleumderischenFlugblatt meinen Namen fälschte, hat mich seither wiederholtin der „Fackel“ in seine Revolverwelt von Verdrehungen,Gerüchten und Anspielungen einbezogen. So mag Kraus,dessen Witze seit mehr als 20 Jahren Krämerseelen kitzelnund ergötzen, sich nicht wundern, wenn ich ihn einen feigenLügner nenne.

Kraus weiß, daß ich weißgardistische Gerechtigkeit, so-wohl seine als auch jede andere, verabscheue; Kraus weiß,daß ich weder einen Anonymus erfand, noch einem mutigenAnonymus meinen Dank für seine papierene Tat aussprach;Kraus weiß, daß ich, vor dem Krieg als Anarchist, nach demKrieg als Kommunist, und erst recht im Krieg als politischverdächtiger Infanterist verfolgt, unter Lebensgefahr denKampf gegen den Mordstaat und seine blutigen Helfer in derKaserne, auf der Straße und im Gefängnis führte.

Ich gab Kraus Gelegenheit, sich zu dem Unrecht seinerFälschungen zu bekennen. Er zog es vor, weiterzulügen.

Dieser Ichweißetwas ist sich seiner Mitschuld am Kriegin dem ihm entsprechenden Wirkungskreis bewußt. Doch erschweigt darüber, daß er in der Zeit vor Kriegsausbruch tätigwar als ein Lobpreiser und ostentativer Verherrlicher desMilitarismus, des Adels, der Autokratie.

Im Krieg hat Kraus durch mancherlei rückendeckende Be-ziehungen zu prononzierten Vertretern der Macht wie auchdurch die Kunst seiner geschickt lavierenden Gesin-nung die Gefahr von seiner Person abzuleiten gewußt, irgend-wie für seinen Hintertürl-Pazifismus einstehen zu müssen.Ich stand, mit Arbeitern und Soldaten, von Bajonetten um-geben, er saß, seinen Lobkowitzen ergeben, unter Aristokra-ten, Lakaien und Machthabern.

Das gespielte Pathos seiner Kriegsgegnerschaft hat anden Geschehnissen ebensowenig geändert wie sein anderesbuntes Taschenspiel, das er bei seinem Nächsten verurteilt. Daßdiesem Künstler während des Krieges der Paß nach Italienund in die Schweiz ohne Kontumaz wie einem Vertrauten derRegierung gewährt wurde – an dieser k.k. Tatsache kannselbst seine Lyrik, die er der Wohltätigkeit widmet, nichtsändern.

Kraus, der meine Dichtung: „Die Legende vom weltver-kommenenen Sonka“ – mit Verleumdungen umspinnt, kann mirnicht verzeihen, daß ein Kritiker, der sich mir später alsFreund vorstellte, und dem ich Vertrauen schenkte, einen be-geisterten Aufsatz über mich schrieb. Leider verriet michder Mensch an den Kritiker, der als Sekretär des Kraus undals bezahlter Lektor des „Verlages der Schriften von KarlKraus“ einen ganzen Waschzettelroman über einen seinerBrotgeber geschrieben. Die ironische Gegenüberstellung derÄußerungen dieses Satirikers und jenes Kritikers über michauf der Umschlagseite zweier Hefte der Zeitschrift des Ge-nossenschaftsverlagsDer neue Daimon“ riefen bei demHelden dieses Kritikerromans, Kraus, groteske Ausfällehervor.

Damit nun Kraus nicht auch weiterhin für tausend Ver-dächtigungen unbelohnt bleibe, bin ich gezwungen, diesen ge-werbsmäßigen Wortegaukler, den sophistischen Verführereiner ungewarnten Jugend durch einfache Konstatierungenzu demaskieren.

Mag Kraus weiterhin die „Neue Freie Presse“ unter dengeistreichen Pseudonymen „Crepe de Chine“ oder „IngenieurBerdach“ mit seiner Mitarbeit beehren, mag Kraus, der sichals Aftermieter Maximilian Hardens und Moriz Benedikts ein-führte, seine „Sehnsucht nach aristokratischem Umgang“ beiAusterlitz oder wo immer befriedigen, mag mich seine Gefolg-schaft verhöhnen, wenn ich bekenne, daß der Stimmen-imitator Kraus als schwarzgelbrote Nummer des allzu ge-duldigen Varietés Wien Anerkennung verdient.

Ein Denkzettel aber gebührt dem Kriegsgegner KarlKraus, dem im November 1913 gelegentlich einer im k.u.k.Kriegshafen Pola abgehaltenen Vorlesung „der Militär-haß der Demokratie die Überlegenheit desMißwachses über die Männlichkeit bedeutet“,nur weil ihm, dem Unbestechlichen, ein von Marineoffizierengefüllter Saal, „eine Hoffnung auf Staat undMenschheit“, wie jeder Soubrette zujubelt.

Ein Denkzettel gebührt einem „Schauspieler der Ethik“,der in der letzten vor dem Krieg erschienenen „Fackel“ vom10. Juli 1914 „ politisch nicht einmal bei derfranzösischen Revolution angelangt“,einen Konservatismus von einer Blut-bereitschaft propagiert, gegen dentausend Jahrgänge von tausend klerika-len Zeitungen die Sprache einerProtestversammlung des Monistenbundeszum Schutze reisender Kaufleute führen“.In seiner Aversion gegen „eine freie Erde, die zum Himmel stinkt“,nur zufrieden in der Gewißheit, daß demauf den Glanz hergerichteten Menschheitspofel, derallerorten zu sehen ist, der große

Ausverkauf bevorsteht“, sucht er „einenKönig, der eine Bombe hätte für diesenallzuklugen Untertan“.

Was aber gebührt einem Gesinnungskünstler, der am5. Dezember 1914 das Kriegsmanifest Franz Josephs folgendermaßenbegrüßt: „… über jenem erhabenen Mani-fest, das die tatenvolle Zeit einge-leitet, dem einzigen Gedicht, das siebis nun hervorgebracht hat, über demmenschlichsten Anschlag, den dieStraße unserem Auge widerfahrenlassen konnte …

Ihm gebührt, „daß die Republik, die Bluts-verwandtschaft erkennend, mit denhinterbliebenen Parasiten der Kaiser-zeit, wie mit den Mitessern derRevolution ein Ende mache“.

Ihm gebührt ein Dankbrief des demokratischen Präsiden-ten Seitz und ein „Nachruf“ durch die Wiener „Arbeiter-Zeitung“.

Ich aber habe für weitere Auseinandersetzungen mit demGespenst Kraus erst dann Zeit, bis es den Mut und die Fähig-keit aufbringt, einen unverdrehten deutschen Satz vor Zeugenzu sprechen oder öffentlich drucken zu lassen.

Jetzt kann er mich zitieren.

Wien , im März 1920.

Hugo Sonnenschein