65.2 Brief Samek an Neues Wiener Journal (verantw. Red. Desiderius Papp)

Materialitätstyp:

  • Durchschlag

Sender

Oskar Samek
I., Innere Stadt
Schottenring
Datum: 28. Dezember 1926
Betreff: Kraus – N. Wr. Journal

Empfänger

An: den | verantwortlichen Redakteur des „Neuen Wiener Journal“ | Dr. Desiderius Papp
Zeinlhofergasse 12
Wien V
Seite von 4

Auf Grund der Ihnen bereits bekannten Ermächtigungverlange ich im Namen des Herrn Karl Kraus die Be-richtigung folgender, in dem am Sonntag, den 19. Dezember1926, Nr. 11.881, Seite 7 veröffentlichten Artikel „Jour-nalisten“ von Dr. Edmund Wengraf mitgeteilten, meinen Man-danten betreffenden Tatsachen gemäss § 23 des Pressgesetzes.Sie schreiben:

Wir haben nun just in Wien einen talentreichen undwitzigen Schriftsteller, der seine Lebensaufgabe darin er-blickt, die Tagespresse bei dem grossen Publikum um ihr An-sehen zu bringen und die Zeitungsschreiber als Nichtswisserund Nichtskönner hinzustellen. Dieser arme Mann, arm, weiler durch die Freudlosigkeit seines Giftspritzerdaseins Mit-leid weckt, liest jahraus jahrein nichts als Zeitungen, erlebt von dieser Lektüre, er lebt von den geistigen Anregungen,die er dabei empfängt und die er zu kritischen Betrachtungenund satirischen Glossen verarbeitet. Wie sich von selbst ver-steht, hat er seine „Gemeinde“. Wer, der Ausdauer genug besitzt,zwanzig Jahre lang alle Welt zu beschimpfen und sich selbstals Genie auszuschreien, würde in Wien nicht eine Gemeinde

finden? Das grosse Publikum, dem er die Zeitungen verleidenmöchte, kümmert sich allerdings nicht um ihn und liest ihnnicht.

Es ist unwahr, dass der Herausgeber der Fackel jahraus jahrein nichts als Zeitungen liest. Wahr ist, dasser zur Lektüre der Zeitungen durchschnittlich etwa ½ biszu einer Stunde im Tage verwendet, wahr ist, dass er in derZeit, die ihm seine eigene Arbeit freigibt, Altenberg,Aristophanes, Arnim, Balzac, Baudelaire, Otto Bauer, die Bibel,Bismark, Börne, Brentano, Büchner, Bürger, Calderon, Carlyle,Casanova, H.St. Chamberlain, Chamfort, Claudius, Courier, Dante,Detmold, Dostojewski, Eckermann, Eschenburg, Gautier, Gobineau,Goeckingk, Goethe, Gogol, Grabbe, Grillparzer, Gryphius, Günther,Haecker, Hauer, Hauptmann, Hebbel, Hehn, Heine, Herder, Hevesi,E.T.A. Hoffmann, Holberg, Hölderlin, Hölty, Ibsen, Jacobson,Janowitz, Juvenal, Kant, Kierkegaard, Kleist, Klinger, Klopstock,Kürnberger, Lasker-Schüler, Lassalle, Lenz, Lewinsky, Lichtenberg,Liliencron, Liscow, Luther, Rosa Luxemburg, Heinrich Mann, Mörike,Montaigne, Montesquieu, Nestroy, Niebergall, Nietzsche, Offenbach,Jean Paul, Petronius (Heinse), Rabelais, Rabener, Raimund, Ramler,Rousseau, Ruskin, Johannes v. Saaz, Schaukal, Schiller, FriedrichSchlegel, Schlenter, Schöffel, Schopenhauer, Shakespeare, Sonnen-thal, Speidel, Spinoza, Spitzer, Sterne, Stifter, Stoessl, dasösterreichische Strafgesetzbuch, Strindberg, Swift, Tacitus,Trakl, Tieck, Heinrich Leopold Wagner, Weber (Demokritos), Wede-

kind, Weininger, Wilde und anderes liest. Es ist unwahr, dasser 20 Jahre lang alle Welt beschimpft und sich selbst alsGenie ausschreit. Wahr ist, dass er die „Fackel“ seit demersten April 1899, also seit mehr als 27 Jahren herausgibt;wahr ist, dass er sich nicht selbst als Genie ausschreit,sondern dass er sowohl Zeitungsstimmen, die ihm genialeFähigkeiten zuerkennen, als auch Angriffe gegen ihn selbstzitiert hat. Es ist unwahr, dass das grosse Publikumsich um ihn nicht kümmert und ihn nicht liest. Wahr ist,dass die „Fackel“ seit fast 28 Jahren in einer Auflagezwischen 7.500 und 13.500 Exemplaren erscheint.

rekomm. mit Rückschein.

KrausN. Wr. Journal.31.XII.26.