68.18 Brief Heinrich Fischer an Samek

Materialitätstyp:

  • Manuskript

Schreiberhände:

  • Bleistift

Sender

Heinrich Fischer
Münchner Schauspielhaus
München

Empfänger

An: Oskar Samek
Schottenring
I., Innere Stadt
Seite von 6

Da das Heft der Neuen Rundschau vergriffen ist,habe ich mich daran gemacht, den Aufsatz abzuschreiben; ich hoffe ihn noch vor Pfingstensenden zu können. Was nun die ErwiderungHerrn Kerrs im Berliner Tageblatt betrifft,so steht es mir als dem „gewissenhaften Forscher“nur zu, mich philologisch zu Authentizität

des von ihm bestrittenen Gedichtes zu äußern. Abervorher muß ich doch in genauer Kenntnis desTatbestandes mit einem Wort dem Staunenüber die ungeheuerliche Frechheit Ausdruckgeben, die im Bewusstsein der eigenen Mogeleivon „Fälschungen“ spricht. Ich habe vor mirdrei Bände des „Roten Tag“ (IllustrierteAusgabe des „Tag“) mit Hunderten pseu-donymen Kriegsgedichten, (gezeichnet Gottlieb),die so deutlich aus der kriegerisch gesträubtenFeder des Herrn Kerr stammen, daß selbster gewiß nicht den Versuch machen kann,sie abzuleugnen. Es war allgemeinbekannt und ist bis heute von HerrnKerr unbestritten, daß er in den Jahren 14 bis 17 zahllose Kriegsge-dichte unter dem Pseudonym „Gottlieb“ im

Roten Tag veröffentlicht hat (wie ja zumBeispiel auch jenes „Rumänenlied“). Nun,das Gedicht von den Masurischen Seen,dessen Autorschaft er bestreitet, ist am9. September 1914 unter dem Pseudonym Gottlieb“ im Roten Tag erschienen. Esist gewiß möglich – da ja Herr Kerr nichtlügt, sondern nur mogelt, daß er seinstadtbekanntes Pseudonym fallweise jemandemandern geliehen hat: aber gewiß muß erdarum die Folgen tragen und zufriedensein, wenn man ihm auch jene Verse zuschreibt,die unter seinem Pseudonym und zweifellosmit seinem Wissen und Willen zur selbenZeit wie seine eigenen in seiner Zeitung erschienen sind. Wenn er noch wenige Tage

vorher in einem Gedicht „Stallupönen“ (das dieKerrsche Provenienz in keinem Worte verleugnet und ebenfalls mit „Gottlieb“ unterzeichnet ist)die russische Kriegsgefangenen verhöhnt („Dochbewahrt das Licht, ihr Leute, weil sie jedenWachsstock fressen“) so konnte man derFühllosigkeit eines hemmungslosen Herzensschon jene grausame Pointe des strittigenGedichts zutrauen, und daß es sprachlichnicht so tänzerisch war, konnte gegendie Augenscheinlichkeit des bekanntenPseudonyms „Gottlieb“ nicht beweisen:hatte sich doch seinerzeit schon bei derProsa herausgestellt, daß Herr Kerr (inKönigsberg) auch anders könne.

Gerne will ich Ihnen, wenn Sie daraufnoch Wert legen, eine Auswahl von 40 Gedichten

unzweifelhaft Kerr’scher Autorschaft schicken,die mit dem Pseudonym „Gottlieb“ gezeichnetsind. Nicht daß er damals als stärksterHetzer für den Krieg war, ist das Unsauberean seinem Fall, nicht einmal, daß er esheute mit frecher Stirn ableugnet und sotut, als habe er immer schon den „Kriegder Besten gegen die Bestien“ propagiert.

Aber die Art seiner damaligen Kriegsglossierung die wie er (in Gesellschaft der Herrn Bloem,Nordhausen, Otto Ernst und vieler andrer) wöchentlichein- bis zweimal die Ereignisse satirisch oderlyrisch betrachtet hat: die Unmenschlichkeitder immer paraten Pointe, die Unerlebtheitder witzigen Anschauung, die Schnoddrigkeit

eines gereiften Intellekts, der einen Hymnusdichtet, wenn Ersatznahrungsmittel aus Stroherfunden werden, unablässig in heiteren Verschenfür die Kriegsanleihe wirbt („Hier wirdkeine Pleite grinsen“) und von CadornasWetter bis zu John Bulls Krämergeist überdem Blutmeer der Schlachtfelder durch fastvier Jahre vergnügt den Geist der MünchenerJugend“ schweben ließ. –