68.52 Brief Sigismund von Radecki an Samek

Materialitätstyp:

  • Manuskript

Sender

Sigismund v. Radecki
Augsburger Straße
Berlin
Datum: 11. Okt. 27

Empfänger

An: Oskar Samek
Schottenring
I., Innere Stadt
Datum: 13. Okt. 1927
Seite von 5

Lieber Herr Doktor Samek!

Endlich bin ich so weit, Ihnen eine Darstellung desProzesses Tappert-Kempner (Kerr) geben zu können. Die Prozess-Akten in Moabit konnten nicht mehr eingesehen werden, da siebereits längst kassiert sind; ich vermochte dort lediglich eineRegistereintragung aufzutreiben, aus der hervorgeht, daß dieerste Verhandlung am 21. Juni 1897 stattgefunden hat unddaß das Verfahren später eingestellt wurde. Die Vorgeschichteist folgende: Kerr hatte in einem Aufsatz in der FrankfurterZeitung ganz allgemein auf die Bestechlichkeit der BerlinerMusikkritik hingewiesen. Darauf erfolgte ein Kollektiv-Protestvon 23 Berliner Musikkritikern, unter denen aber Lackowitz und Tappert fehlten. Hierauf lokalisierte Kerr seine Beschuldi-gung auf diese beiden. Tappert antwortete im „Kleinen Journalindem er Kerr Lüge und Verläumdung vorwarf. Sodannverklagten Lackowitz und Tappert, jeder einzeln, Kerr. Diebeiden Verfahren wurden vereinigt, und die erste Verhandlungfand am 21. Juni 1897 statt, wobei Tappert diese Klage aufVeranlassung von Leipziger, dem Herausgeber des Kl.J. einge-bracht hatte. Der genauere Bericht dieser Verhandlung liegtunter 1 bei. Sie werden daraus ersehen, daß Tappert dochnicht so ganz, wie Sie mir schrieben, „die Leistung vonSchülerinnen, denen er Gesangsunterricht erteilt hatte,besprach“, sondern daß er ganz fremden Künstlern, diein Berlin auftreten wollten, noch kurz vor dem Konzert eineoder mehrere Stunden gab, und deren Leistungen dann nachdem Konzert als Kritiker besprach. Andrerseits geht ausder ersten Verhandlung auch hervor, daß er als weltfremderund armer Mann in gutem Glauben gehandelt hatte, undsich jedenfalls in seinen Kritiken nicht beeinflussen ließ,

was der Justizrath Kleinholz, Tapperts Verteidiger, auchgebührend hervorhob. Dem Berichte nach, muß die allgemeineStimmung dieser ersten Verhandlung doch eine fürTappert im Ganzen günstige gewesen sein, weshalb auchder Angeklagte und Widerkläger Kerr auf weitere Zeugen-einvernahmen bestand. Der Prozess wurde vertagt.

Ein paar Tage darauf – Tappert fungierte weiterals Musikkritiker im Kl.J. – erschien dort der Brief von Moritz Rosenthal 2 dessen wichtigsten Passus ichhier beilege. Ein Brief, der offensichtlich Ausdruck derStimmung unter den Konzertkünstlern war, die nun wohleinsahen, was Tappert für sie bedeutete.

Kerr antwortete darauf am 26. Juni in einemEingesendet“ im Berliner Tageblatt, wo er Rosenthal Feigheit vorwarf. Darauf erfolgte eine Kollektiv-Antwort der Redaktion des Kl.J. am 1. Juli, deren wichtigstenPassus ich unter 3 beilege.

Die zweite Verhandlung fand am 22. Dezember1897 statt, und sie war es, die Tappert zu Fall brachte.Denn obwohl die Zeugenaussagen nichts Wesentlich Neuebrachten, häuften sich die festgestellten Fälle vonGeldannahme – allerdings immer nur für „Spesen“, Droschken-fahrten usw. – doch so sehr, daß die Stimmung gegenTappert umschlug. Allerdings konnte auch hier in keinemFalle der Tatbestand einer Bestechung im Sinne einesConnexes zwischen Honorar und Urteil festgestellt werden.Zu diesem Umschwung mag auch die schärfere Fassungder Sachverständigen-Urteile beigetragen haben, die jetztweniger von Tappert, als im allgemeinen von der Kritiker-Ehresprachen. So kam es, wie Sie aus dem Bericht ersehenwerden, zu einem Vergleich, der darin bestand, daß die

Privatkläger ihre Klage zurückzogen und dieKosten des Verfahrens übernahmen, Tappert dazu auchnoch die Kosten der Widerklage; hierauf nahm Kempner die Widerklage zurück, und der Gerichtshof erkannteauf Einstellung des Verfahrens.

Tappert war erledigt. Leipziger wollte ihn entlassen,doch nahm er ihn schließlich, auf Bitten von Tappert undder Redaktion wieder auf. Diese wurde vor der Öffentlichkeit derart bewerkstelligtdaß Tappert ein Entlassungsgesuch einreichte, und dieZeitung diesem nicht stattgab, sondern Herrn Tappert mit einigen ernstlichen Rügen wieder aufnahm. Siefinden die Erklärung am Schlusse von 4.

Tappert ist dann noch kurze Zeit Kritiker bei demKl.J. gewesen, doch hatten ihn die Schmach und dieAufregung gebrochen; er wurde sehr bald totkrank undstarb gleich darauf in größter Armut. Es unterliegt keinem Zweifel, daßgerade der Prozess Tappert im vollsten Sinne den Halsgebrochen hat.

Die Nachricht über diesen Epilog des Prozesses hole ichvon Norbert Falk , dessen Name ich unter den seinerzeitigenMitarbeitern des Kl.J. entdeckte. Er hat nach dem Motivmeiner Recherche nicht gefragt, und ich habe darüber auchnichts verlauten lassen.

Der Verteidiger von Lackowitz war ein Dr. Schwindt, jetztAmtsgerichtsrat im Kriminalgericht Moabit. Ich habe ihntelephonisch gesprochen. Er besitzt weder Akten noch Notizen über den Fall, und hat mir aus dem Gedächtnis folgendeEinzelheiten erzählt, die mir allerdings – nach denKonsequenzen, die die II. Verhandlung mit sich brachte – nichtganz sicher zu sein scheinen.

Dr. Schwindt erzählt (von der II. Verhandlung), daß Kerr sich für diese Verhandlung eigens den Dr. Bernstein aus

München habe kommen lassen. Doch vermochte dieEinvernahme all der Sänger und Sängerinnen nichtswirklich Gravierendes zu ergeben, da diese – wie ersagt –, „sich sichtlich drehten und wanden und aus ihnennichts herauszubekommen war. “ Daher stand – nachSchwindts Worten – die Sache für Kerr so wenig günstig,daß, als nach der Einvernahme Verteidiger Dr. Kleinholz sich zum Plaidoyer erheben wollte, ihm Bernstein, derschon längst unruhig und besorgt dreinsah, schnell indie Rede fiel, und sagte, daß Kerr die Beleidigungzurücknehme. Von einer „AbbitteTapperts könne jedenfallskeine Rede sein.

Offenbar nennt Kerr also den Brief von Tappert (4 am Schluß) eine öffentliche Abbitte, was offensichtlichnicht stimmt.

Daß der Prozess Tappert um sein Brot gebrachthat, wird wahrscheinlich – nachprüfen läßt sich dasnicht – doch insofern stimmen, als es wahrscheinlichmit all seinen Nebenverdiensten, wie Correpetitionen usw.zu Ende war, und er von dem Wenigen leben mußte, wasihm die Zeitung gab.

Das ist alles, was ich über diesen traurigenProzess in Erfahrung bringen konnte.

Mit den besten Grüssen an Sie und anHerrn Kraus

IhrSigismund v. Radecki

KrausKerr 13. Okt. 1927