91.6 Urteil des Strafbezirksgerichts I Wien (G.Z. U I 403/27, Richter: Landesgerichtsrat Robert Kramer; Verteidiger: Josef Geiringer)

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Datum: 28. September 1927
Seite von 4

Geschäftszahl U I 403/273

Im Namen der Republik

Das Strafbezirksgericht I in Wien als Pressgericht hat heute in Gegenwartdes PA Vertreters Dr. Oskar Samek,des Angeklagten Oskar Hirth und des Verteidigers Dr. Josef Geiringer über die Anklage verhandelt, die der Privat-ankläger Karl Kraus gegenOskar Hirth, 59 Jahre alt, verh. verantwortlicherSchriftleiter des „Neuen Wiener Abendblatteswegen der Übertretung nach § 24 (2) 3 Pressgesetz erhoben hatte.und über den vom Ankläger gestellten Antrag auf Bestrafung des Beschul-digten und Verpflichtung zur Veröffentlichung der Berichtigung in dergenannten Zeitung zu Recht erkannt:

Oskar Hirth wird von der Anklage, er habe im September1927 in Wien als verantwortlicher Schriftleiter des „Neuen WienerAbendblattes sich grundlos geweigert, die von Karl Kraus verlangte Berichtigung von in der Nummer 254 der genannten Zei-tung vom 17. September 1927 unter der Ueberschrift „Amnestie?mitgeteilten Tatsachen zu veröffentlichen und hiedurch dieÜbertretung; nach §§ 23 u. 24 (2) 3 Pressgesetz begangen,gem. § 259/3 St.PO. freigesprochen.

Gem. § 390 StPO. hat der Privatankläger Karl Kraus die Kostendes Strafverfahrens zu ersetzen.

Entscheidungsgründe.

Durch die Angaben des Beschuldigten und das Impressumhat erwiesen, dass Oskar Hirth in der in Betracht kom-menden Zeit verantwortlicher Schriftleiter des „Neuen WienerAbendblatts“ war, dass er das Berichtigungsschreiben vom19. September 1927 erhalten habe und die verlangte Berichti-gung jedoch nicht veröffentlicht wurde, obgleich nach Er-halt des Berichtigungsschreibens mehr als zwei Nummernder genannten Zeitung erschienen sind. –

Der Einwendung des Beschuldigten, es sei demBerichtigungsschreiben keine Vollmacht beigelegen, kannBerechtigung nicht zuerkannt werden, da das Vollmachtver-hältnis tatsächlich bestand und diese Tatsache dem Beschul-digten bezw. dem oberwähnten Blatte zugestandenermassenschon von früher her bekannt war. –

In der Sache selbst wurde folgendes erwogen:

Die Stelle im Artikel, die vom Berichtigungs-werber zum Anlass seiner Berichtigung genommen wurde,lautet: … „vielleicht ein Zeugnis dessen, dass die so-zialdemokratische Partei da sie in eine heillose Sack-gasse geraten ist, nunschon alle möglichen Bundesgenos-senschaften mobilisiert. –“ Wie das Wort „vielleichteindeutig beweist, liegt hier nicht eine behaupteteTatsache, sondern lediglich eine ausgesprochene Vermutungvor. –

Es deckt sich daher schon die These nicht völ-lig mit der Stelle des berichtigten Artikels; doch auch dieAntithese stellt keinen vollkommenen Gegensatz zur These dar,wozu noch kommt, dass die in der Antithese aufgestelltenBehauptungen, dass der „Plan … seiner eigensten Ini-tiative entsprungen“ sei, „ohne dass irgend ein aussen-stehender Faktor darauf Einfluss genommen oder auch nurdavon Kenntnis erlangt hätte“, nicht festumschriebene Tat-sachen, sondern inneres Vorhaben („Plan“, „eigenster Initiative“)

bezw. einen ganz allgemeinen nicht strikten beweisbaren Begriff(„Einfluss“) enthalten. –

Aus vorstehenden ergibt sich, dass dieWeigerung des Beschuldigten, die vorstehende Berichtigung zu veröffentlichen, keine grundlose war. – Beschul-digter war daher freizusprechen. –

Die Entscheidung über die dem Privatanklä-ger aufgetragenen Kosten stützt sich auf § 390 StPO.

Wien, am 28. September 1927.D. Kramer Kahlert

KrausAbendbl. (Hirth)14. Okt. 1927