112.11 Entwurf [Schriftsatz in Sachen Kraus ./. Wolff (RA Botho Laserstein an das Amtsgericht Berlin-Mitte, G.Z. 149 B 709/28)]

Schreiberhände:

  • Karl Kraus, Bleistift

Materialitätstyp:

  • Typoskript mit handschriftlichen Überarbeitungen
  • Kopie
Datum: 5. Dezember 1928
Seite von 5

Der Privatkläger gibt nichts zu, was er „bisher stets bestrittenhat“. Das Abkommen zwischen Kerr und dem Angeklagtenrügt“ er aller-dings. Aber er hat mit Recht bestritten, daß er es in seiner Rede be-hauptet h a ä tte. Er hat damals nur das Schweigen des „Berliner Tageblattes“auf den schwerwiegenden Vorwurf in der „Prager Presse“ gerügt.

Zu diesem Abkommen selbst sagt der Schriftsatz, daß wenn es tat-sächlich geschlossen wäre, die vom Angeklagten vorgelegten Kritikeneine Vertragsverletzung bedeuten würden“. Aber selbst wenn ein schrift-licher Vertrag, der „eine Bindung des Herrn Kerr in Beziehung aufReinhardt“ vorschreibt, bestünde – was niemand zu behaupten töricht ge-nug war, da solche Vereinbarungen oder Verständigungen ganz anders er-folgen –, so würden die vorgelegten Kritiken bei weitem keine Vertrags-verletzung bedeuten. (Auch dann nicht, wenn der Vertrag kein unsittli-cher Vertrag wäre.) Denn in der Form, in der es Herr Kerr getan hat,konnte er ohne die Gefahr des Vertragsbruchs getrost wider den Stachellöken. Die Art nun, wie Herr Kerr scheinbar vertragsuntreu wurde, istein nicht hoch genug einzuschätzender Beweis dafür, daß er sich im Banne einerBindung gefühlt hat.

Der Angeklagte hatte es gemäß dem Gerichtsbeschluß übernommen, dienach dem Engagement des Herrn Kerr erschienenen Kritiken, von denen der Ank K läger behauptet, daß sie sanftmütigen Charakters im Punkte Rein-hardt seien, beizustellen. Er ist dieser Verpflichtung in geradezu mu-stergültiger Weise nachgekommen. In seinem Interesse war es gelegen,darzutun, daß Herr Kerr auch nach dem Engagement, nach dem Abkommen,Reinhardt angegriffen habe, und so muß man wohl annehmen, daß er dieschärfsten Angriffe gegen Reinhardt hervorgesucht hat. Das Ergebnisdieser Suche ist erschütternd. Es ist nun weit mehr bewiesen, als daßHerr Kerr ein gezähmtes Wesen zur Schau trug. Daß er nicht spornstreichszum Fanatiker für Herrn Reinhardt w u ü rde, war doch wohl zu erwarten undkein Abkommen hätte ihn zu so etwas verpflichten können. Aber es warwohl bemerklich viel erreicht, wenn aus dem ehemaligen prononciertenAngreifer, dem Herr Reinhardt einmal sogar den Zutritt zu seinem m Par-kett verwehrt haben soll, ein so behutsamer Tadler, ein so zögernderIroniker wurde, dem natür welchem frei lich kein Chefredakteur verwehren kann, daß erbei seiner (in diesem Fall sogar richtigen) Ansicht und Kunstanschauungverbleib t e – über das Treppenunwesen u.dgl. –, wenn er si ch e nu n r endlich ingemäßigten und gebändigten Formen äußert. Aber Herr Kerr hat ein Übri-ges getan, nämlich den Beweis dafür hergestellt, daß von ihm eine gründlicheRemedur seiner kritischen Tonart verlangt und erwartet wurde. Er löktsichtlich wider den Stachel, und nicht diese „Vertragsverletzung“ istein Beweis dagegen, daß ein Vertrag nicht besteh t e , sondern die Offen-

heit, mit der er sich gegen eine Bindung wehrt, mit der er förmlich davon sprichtdaß man sie in weitergehendem Maß ihm nicht auferlegen könne, ist einBeweis für die Bindung.

Die Kritik enthält rot angestrichene Stellen, die besonders augen-fällig dartun sollen, wie resolut Herr Kerr nach wie vor im kritischenAngriff war. Worin besteht dieser? „Vertraulichkeit des Zuschauers warnie erwünscht. Der nächste Schritt wäre: ‚Macbeth’n, Sie trippen!‘Diese jokose Berufung auf die alte Theateranekdote, wonach ein Zuschau-er die Lady Macbeth darauf aufmerksam gemacht hat, daß die Kerze tröpf-le, dürfte Herrn Reinhardt kaum aufgeregt haben , d . D aß „Vertraulichkeitdes Zuschauers nie erwünscht“ war, diese Feststellung ist wäre wirklich keinVertragsbruch, sie dürfte weder seinem direktorialen Selbstbewußtseinnoch seiner Kasse nahegetreten sein, und das Hervorheben der Stelledurch Rotstrich kann einen schwerlich davon überzeugen, daß Herr Kerr seine schrankenlose Unabhängigkeit bewahrt hatte. Wie es in Wahrheit mitdieser steht, zeigt aber die nächste rot angestrichene Stelle, die miterstaunlicher Offenheit zu erkennen gibt, wie der Kritiker fürchtenmußte, sich selbst durch so schüchternen Tadel die Unzufriedenheit desChefredakteurs zu erwerben , d . D ie Stelle, die der Angeklagte vorzuweisenund extra rot anzustreichen für taktisch richtig befunden hat, lautet:Liegt nicht in alledem eine Lust am Zurückschrauben? Man hielte sichfür einen Schubiack, wenn man das nicht offen sagte – unbekümmert um dieBücher.“ Welche Bücher da der Herr Kerr gemeint hat, ist nicht ganz klar,aber sicher ist, daß er hier vor allem ausdrücken wollte, er sei auchum etwas anderes unbekümmert, das heißt: doch so weit bekümmert, daß ersich eben gedrungen fühlt, es zu sagen. „Man hielte sich für einen Schu-biack“. Ja, warum denn das? Wieso steht denn plötzlich das Schubiacktumeines Kritikers zur Diskussion, von dem man doch erwartet, daß er fort-fahren wird, seine kritische Überzeugung auszusprechen und Reinhardt wiegewohnt anzugreifen? Die Leserschaft hat ihm dieses Problem keineswegs gestellt auferlegt . Aber ist es nicht, als ob er sich hier mit einem andern überihm waltenden Einfluß auseinandersetzte? Ist es nicht psychologisch un- zweifelhaft verkennbar , daß hier förmlich die Gegenwehr gegen den Versuch erfolgtist, in die Domäne seiner Überzeugung einzugreifen? Will er nicht klarausdrücken: Also schön, wenn wir uns schon im Punkte Reinhardt ver-ständigt haben, meine Ansicht lasse ich mir nicht nehmen, so weit kanndie Bindung nicht gehen, ich wäre sonst ein Schubiack!? Aber der Chefre-dakteur wollte vielleicht nicht einmal die „Überzeugung“ kassieren, undder Kritiker fürchtete es mit Unrecht. Ist es nicht, als ob er hier dieGrenze der redaktionellen Abhängigkeit ertasten wollte? Reinhardt nicht

mehr persönlich attackieren – meinetwegen, aber das Große Schauspielhausnicht mehr zu groß finden, das lasse ich mir nicht vorschreiben, dawäre ich ja ein Schubiack! Und selbst die Herren Wolff und Reinhardt habenihm vielleicht darin beigepflichtet und ihn beruhigt: „Machen Sie sichkeine Sorgen, lieber Kerr, die Dimension dürfen Sie weiter angreifen!“Daß Herr Kerr mehr als solches getan hat, dürfte aus der vorgelegtenKritik kaum zu beweisen sein.

Diese Kritik mit dieser Stelle aufzufinden (und rot anzustreichen), hätte der Angeklagte dem Ank K Kläger überlassen müssen. Sie war schon vom Herrn Kerr aus selbst-mörderisch. Sie ist es nunmehr von Herrn Wolff aus. Sie ist ein geradezuumfassender Beweis für die – natürlich nicht vertragsmäßig festgelegteVerständigung, die zwischen den Herren Theodor Wolff und Alfred KerrinBeziehung auf Reinhardt“ erfolgt war. Ja, jener offenbare merkliche Widerspruchgegen die Verständigung ist ein Beweis für sie. Ein Ausdruck der Unzu-friedenheit mit dem Vertrag, keineswegs ein Bruch desselben, den HerrTheodor Wolff sich wohl gehütet hätte zivilrechtlich zu belangen, selbstwenn das nach der Beschaffenheit des „Vertrags“ möglich gewesen wäre.Herr Kerr wußte genau, wie weit er gehen konnte, und seine Äußerungklingt geradezu wie der Abschluß von redaktionellen Debatten darüber,daß er sich bei aller „Einlenkung“ in die Ansicht selbst nichtdreinreden lasse?

Weitere Unterstreichungen beweisen dann nur noch, in wie zufrieden-stellender Weise die Einlenkung vollzogen war. Wenn Herr Kerr gegenReinhardt keine stärkere Vehemenz aufbrachte als Sätze wie: „Aus derSeelenszene wird allerdings oft eine Gliederszene.“ oder „Eine kleinePerversion“, so hatte der Chefredakteur zugunsten des ihm befreundetenTheaterdirektors wohl allerhand erreicht. Daß Herr Kerr sein dramatur-gisches Glaubensb B bekenntnis ändern würde müsse , war beim Engagement gewiß nicht vorge-sehen, sicherlich nicht einmal, daß er seiner prinzipiellen Aversiongegen das besondere Zirkustheater zu entsagen habe. Wie er aber sogar die schüch-ternen Einwände, die er dagegen verbringt, schon als Belastung des Ein-verständnisses, auf Grund dessen das Engagement vollzogen durchgeführt wurde, empfindet,zeigt wieder die angestrichene Stelle: „Muß ein Kritiker das nicht sa-gen? …“ Ja warum denn nicht? Ein Kritiker muß sagen, was er meint!Aber wenn er – vielleicht mit Unrecht – ein schlechtes Gewissen gegen-über dem Chefredakteur hat, der mit dem Getadelten verbunden liiert ist, soentschuldigt er sich dafür, so sagt er es zwar, aber er setzt auch hinzuMuß ein Kritiker das nicht sagen?“ Solche Wendungen hat Herr Kerr inder kritischen Tätigkeit, die er gegen Reinhardt vor dem Engagement beimBerliner Tageblatt‘ entfaltet hat, niemals gebraucht.

Aber wahrhaft erschütternd ist die Deduktion des Angeklagten in dem

Nachtrag“. Hier wird einem Beweis, der sein eigener Gegenbeweis istund nicht der gegen die Vorbringung des Ank K Klägers, sichtlich mit dem Spiel Trick des Tonfalls nachgeholfen. Es heißt da: „Auch in späteren Kriti-ken – über solche Aufführungen des Großen Schauspielhauses, die nichtvon Reinhardt selbst inszeniert waren – ist diese seine eigenste Grün-dung … in schärfster Art abgelehnt, ja lächerlich gemacht worden.

Wenn lächerlich gemacht, das heißt, wenn Reinhardt dabei lächerlichgemacht wurde so möge es vorgewiesen werden! Der Angeklagte hat es sichwohl nicht entgehen lassen, schon diesmal die schärfste Lächerlichma-chung Reinhardts beizubringen. Aber in dem eingeschalteten Satz wird,als ob es der Beweisführung zugutekäme, gesagt, diese Aufführungenseien „nicht von Reinhardt selbst inszeniert“ gewesen. Der Ank K Kläger zweifelt nun tatsächlich nicht, daß diese Inszenierungen späterhin inhöherem Maße lächerlich gemacht wurden als die des Herrn Reinhardt selbst, der weit glimpflicher davon kam und vielleicht gar nichts dage-gen hatte, daß eine Inszenierung des Herrn Karlheinz Martin lächerlichgemacht wurde, selbst wenn sie auf der Bühne stattfand, die Reinhardts eigenste Gründung“ war. Tatsächlich wird das Zitat über eine solcheInszenierung beigebracht: „Ein kindisches Zurückschrauben. Ein lächer-liches Aus-der-Stimmung-reißen.“ Sollte nicht eben der Kontrast zu derzitierten Reinhardt-Kritik, wo es bloß heißt hieß : „Liegt nicht in alledemeine Lust am Zurückschrauben?“ ein schlagender Beweis dafür sein, wie zahmHerr Reinhardt selbst angegangen wurde? Bei Karlheinz Martin mußte HerrKerr auch nicht dazusetzen: „Man hielte sich für einen Schubiack, wennman das nicht offen sagte“.

Der Schriftsatz schließt: „Der Verdächtigungsversuch des Klägers (der Anwurf eines gewissermaßen auf Befehl erfolgten Stellungswechselsin der Kritik Alfred Kerrs – –) wird schon durch solche Wendungen wider-legt und gekennzeichnet.“ Er wird in Wahrheit schon durch solche Wen-dungen, durch den sinnfälligen Kontrast in der Behandlung der verschie-denen Regisseure, bewiesen. Und er wird – vorbehaltlich der Möglichkeit,noch freundlichere Kritiken des Herrn Kerr über Reinhardt zu finden, und die mit der Gewißheit,daß es keine [¿¿¿] unfreundlicheren gibt – von den Zeugen erbracht werden; nichtzuletzt von durch und durch orientierten Vertretern einer Theatersphäre,die das Schauspiel der Pazifizierung des Herrn Kerr auch im engern Fach-gebiet erlebt haben bis zum dem Festessen, das die ehemaligen Todfeinde imHause des Herrn Angeklagten zusammenführte, und bis zu der denkwürdigenSchaustellung, die den Theaterkritiker Kerr neben dem TheaterdirektorReinhardt zu dessen 50. Geburtstag auf der Bühne des Deutschen Theaters den entzückten Besuchern darbot.

Nachtrag

Auch in späteren Kritiken – über solche Aufführungendes Grossen Schauspielhauses, die nicht von Reinhardt selbst inszeniert waren – ist diese seine eigenste Grün-dung, das Zirkustheater mit dem „Raum“-Prinzip, vonAlfred Kerr in schärfster Art abgelehnt, ja lächerlichgemacht werden.

So heisst es in einer Besprechung der (von KarlheinzMartin geleiteten) Aufführung des „Florian Geyer“ trotzmanchem Lob:

Das Unterbrechen der Täuschung nahm seinen üblenFortgang wie stets in so einem Hause … Ein kindischesZurückschrauben. Ein lächerliches Aus-der-Stimmung-reis-sen. Alles was vom Kunstgefühl adliger Nerven seit et-lichen hundert Jahren ermöglicht ist, wird zu einem frei-willigen Sichdummstellen zurückgeführt.

(Berl. Tageblatt 6.1.1921).

Der Verdächtigungsversuch des Klägers (der Anwurfeines geiwssermassen auf Befehl erfolgten Stellungswech-sels in der Kritik Alfred Kerrs: die Behauptung, eineschmähliche Bedingung beim Eintritt in das B.T. vor ei-nem Jahrzehnt angenommen zu haben) wird schon durch sol-che Wendungen widerlegt und gekennzeichnet.