122.2 Brief Samek an Vossische Zeitung (verantw. Red. Carl Misch)

Materialitätstyp:

  • Typoskript

Sender

Dr. Oskar Samek | Rechtsanwalt
Schottenring 14
Wien I
Datum: 29. März 1929
Betreff: Kraus – Vossische Zeitung
Diktiersigle: Dr.S./Fa.

Empfänger

An: den | verantwortlichen Redakteur der „Vossischen Zeitung“ | Herrn Carl Misch
Kochstrasse 22–26
Berlin S.W. 68
Seite von 5

Im Vollmachtsnamen des Herrn Karl Kraus, Heraus-gebers der Fackel, fordere ich Sie auf, die folgende Berichtigungder in dem Artikel „Karl der Goste“ von Otto Ernst Hesse (1. März)enthaltenen meinen Mandanten betreffenden unwahren Behauptungenauf Grund des § 11 P.G. in der Beilage Unterhaltungsblatt derVossischen Zeitung zu veröffentlichen.

Sie schreiben, ein Gedicht sei „von Karl Kraus alsangebliches geniales Produkt eines Czernowitzer Irren festgestelltworden. Mit jener Form, die man Ironie nennt, forderte ich KarlKraus auf, seine Meinung aufrecht zu erhalten, mich nun an Stelledes Irren für einen genialen Dichter zu erklären, seinen Reinfallehrlich einzugestehen“. Die in diesen Sätzen enthaltene Behauptungist unwahr. Wahr ist, dass Karl Kraus im Juniheft der Fackel 1928das Gedicht keineswegs als angebliches geniales Produkt einesCzernowitzer Irren festgestellt, sondern in der Nachschrift zurPublikation der im Czernowitzer Irrenhaus gefundenen Gedichte fest-

gestellt hat, dass die Urheberschaft problematisch geworden sei, undder Mitteilung Raum gab, dass der Irre selbst das GedichtJunge Tänzerin“ einem gewissen Otto Borger zuschreibt.

Es ist unwahr, dass Karl Kraus schreibt, eines könneman sich nicht vorstellen: „dass es gelingen könnte, mir satirischzu werden!“ Wahr ist, dass der Satz auf S. 34 und 35 der Nr. 800–805der Fackel lautet: „… eines kann man sich doch nicht gut vor-stellen: dass es gelingen könnte, an mir satirisch zu werden!

Sie schreiben: „Dann aber – um ganz sicher zu gehen –behauptet er dazu noch, ich hätte dieses Gedicht, das er gar nichtgelobt habe, von Paul Zech gestohlen. Doppelt hält besser, sagtesich Karl Kraus, ohne zu bemerken, dass er durch den Plagiatsvorwurfgegen ein Gedicht, das er gar nicht meinte, seine Behauptung einiger-maßen suspeckt macht“. Diese Darstellung ist unwahr. Wahr ist, dassKarl Kraus keineswegs behauptet hat, Otto Ernst Hesse habe diesesGedicht, das er gar nicht gelobt hat, von Paul Zech gestohlen. Wahrist, dass er keinen Plagiatsvorwurf erhoben hat. Wahr ist, dass erin der Kritik des nicht gelobten Gedichtes bloss von einem „empfange-nen künstlerischen Eindruck“ gesprochen hat, den Otto Ernst Hesse verarbeitet habe, und dass er unter anderen Klangspuren aus derFügung „Blut und Haut und Atem“ darauf geschlossen hat, das GedichtZechsGlockentänzerin“ mit der Fügung „Atemhauch und Blut und Hautsei nicht ohne Einfluss geblieben auf das Zustandekommen von Hesses Gedicht „Junge Tänzerin“, von dem der Autor selbst gesagt hat, es seifür eine illustrierte Zeitschrift zu einem Klischee „hergestelltworden und „der Verfertiger schämte sich ein wenig über dies Gedicht“.Wahr ist, dass Karl Kraus ausdrücklich (S. 121) sagt: „Gewiss, voneinem ‚Plagiat‘, von einer unehrlichen Handlung des Bewusstseins wird

auch auf diesem kunstgewerblichen Niveau nicht die Rede sein können“.

Sie schreiben: „Haltet euch fest, dass ihr nicht vorLachen von den Stühlen fallt! Das Gedicht, das Karl Kraus vorgelegenhat, bevor er mein Gedicht aus dem Magazin kennen lernte, unter-scheidet sich in der Tat von diesem. Nämlich in drei ‚wesentlichenPunkten. Erstens steht in jener Abschrift, die der Irre gemacht hatte,statt ‚um des Körpers‘ die Lesart ‚an des Körpers‘. Zweitens stehtstatt ‚wandelt‘ die Lesart ‚wandeln‘. Und drittens steht statt ‚zarteGlockenblume‘ die Lesart ‚grosse Glockenblume‘.“ Es ist unwahr, dassKarl Kraus sagt, die Fassung der „Jungen Tänzerin“, die ihm vorgele-gen hatte, bevor er das Gedicht Otto Ernst Hesses aus Scherls Magazin kennen lernte, unterscheide sich von diesem in drei „wesentlichenPunkten. Wahr ist es, dass er im Gegenteil ausdrücklich (S. 191) sagt:Die Variante ‚An‘ (statt ‚Um‘) … erscheint mir unwesentlichWesentlicher ist schon die Aenderung ‚wandeln‘ (statt ‚wandelt‘) …Mir ist es jedoch um die dritte, die eingestandene Variante zu tun(‚Eine grosse Glockenblume‘ statt ‚Eine zarte Glockenblume‘)“.

Sie schreiben: „man (Karl Kraus) zitiert ja auch wissentlich falschHeine, nur um den Gegner eins auswischen zu können“. Es ist unwahr, dassKarl Kraus mit der Zitierung Heines in der Form: „Die Tänzerin ist wieeine Glockenblume, so zart und schön und rein“ statt „Du bist wie eineBlume, so hold und schön und rein“ nur den Zweck verfolgt, dem Gegnereins auszuwischen. Wahr ist, dass er mit ihr den Zweck verfolgt, denUnterschied zwischen einem dichterischen Gleichnis und einem ornamen-talen Vergleich sprachkritisch an einem vorausgesetzten Beispiel ausder Lyrik Heines darzustellen. Sie schreiben: „man (Karl Kraus) wirftja auch nur dem Gegner Fälschung vor, wenn offensichtlich ein Druck-fehler steht“. Diese Behauptung ist unwahr. Wahr ist, dass dem Gegner

nie aus einem Druckfehler der Vorwurf der Fälschung gemacht wurde. Wahr ist, dass zwar die falsche Zitierung eines Satzes aus dem Juni-heft der Fackel festgestellt, aber ausserdem und ganz unabhängig davonauch der Vorwurf erhoben wurde, dass der Sachverhalt der dortigen Dar-stellung falsch wiedergegeben war, indem im Artikel der VossischenZeitungIch bin der grösste lebende Lyriker“ (3. Nov.) behauptetwurde, in der Fackel seien die Gedichte als das Produkt des Irren aus-gegeben worden, was nicht der Fall war; ein Mann namens Borger habesich gemeldet, der Karl Piehowicz desavouiert hat“, was nicht derFall war, da Piehowicz selbst ihn genannt hatte; und indem schliess-lich die Anerkennung, die in der Fackel ausdrücklich dem GedichtEinen Trunk der Liebe“ zuerteilt wurde, so zitiert war, als wäre siedem ganz anders gelobten Gedicht „Junge Tänzerin“ zuerteilt worden.Es ist unwahr, dass man für „goste“ „grosse Glockenblumeinterpoliert hat, „nicht ohne vorher den Irren vernommen zu haben, deraussagte – und auch später wiederholte – er habe ‚goste‘ gewählt, weilerfundene Worte schöner seien als richtige …“ Wahr ist, dass dieVernehmung nach dem Druck „grosse Glockenblume“ erfolgte. Wahr ist,dass man „grosse“ gedruckt hatte, bevor man wusste, dass „goste“ „zar-te“ bedeutet. Es ist unwahr, dass es in der Fackel heisst: „Die grosseGlockenblume ist mehr als eine Glockenblume, die zarte weniger“. Wahrist, dass es dort (S. 112) heisst: „Die grosse Glockenblume ist mehrals eine Glockenblume, die zarte weit weniger“.

Es ist unwahr, „dass Karl der Goste nunmehr mir vorwirft,meine Urfassung von Paul Zech abgeschrieben zu haben. Er drückt sei-nen Plagiatsvorwurf unendlich geschickt aus … der Plagiatsvorwurfaber ist absolut sichtlich“. Wahr ist, dass Karl Kraus einen Plagiats-vorwurf nicht erhoben, sondern nur behauptet hat, das Gedicht

Glockentänzerin“ von Zech müsse dem Verfasser der „Jungen Tänzerinseinerzeit bekannt gewesen und könne nicht ohne Einfluss auf dieVerfertigung des Gedichtes für Scherls Magazin geblieben sein. Siezitieren: „Dass diese Schöpfung (mein Gedicht) von einer Vor-schöpfung (Zechs Gedicht) bezogen war, wusste ich aus dem inte-grierenden, wertverändernden Wort (goste statt zarte), in dessenGefolge alles Weitere fremdkörperlich erschien.“ Es ist unwahr,dass der Satz (S. 121) so lautet, wahr ist, dass er lautet:… wusste ich aus dem einen integrierenden, wertveränderndenWort …“. Es ist unwahr, dass als dieses eine integrierende, wert-verändernde Wort „goste“ statt „zarte“ erkannt war. Wahr ist, dassals dieser Wertunterschied das Wort „zarte“ erkannt war, das inder Originalfassung in Scherls Magazin gefunden wurde, nachdem dieder Fackel übermittelte Fassung das Wort von der „grossen Glocken-blume“ aufgewiesen hatte.

Dr. Oskar Samek

Rekommandiert.