130.6 Brief RA E. Lion an Samek

Materialitätstyp:

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Sender

Dr. E. Lion
Gänsemarkt 62
Hamburg 36
Datum: 18. Juni 1929
Betreff: Kraus ./. Hamburger Nachrichten

Empfänger

An: Herrn Rechtsanwalt | Dr. Oskar Samek
Schottenring 14
Wien I.
Seite von 3

Sehr geehrter Herr Kollege!

Nach der reichsdeutschen Rechtslehre stellt eine Be-leidigung den Tatbestand einer unerlaubten Handlung dar, gegen-über welcher der Verletzte auf Unterlassung klagen kann, wenn dieBeleidigung in ihren Folgen fortwirkt und wenn Wiederholungenzu befürchten sind. Die Wiederholungsgefahr wird im allgemeinen,wenn erst einmal eine Beleidigung gefallen ist, bejaht. Auch dieBerichtigung, die das Blatt nach § 11 PressG. gebracht hat, be-seitigt nicht die Wiederholungsgefahr, da die Berichtigung abge-druckt werden muss, einerlei ob der Schriftleiter sie für zu-treffend hält oder nicht.

Man könnte also im Zivilverfahren auf Unterlassung der fraglichen Behauptung klagen. Man kann aber nach dem Stand-punkt des Reichsgerichts auch auf Zurücknahme der beleidigendenÄusserung antragen und braucht in diesem Fall nicht Wiederho-lungsgefahr zu behaupten. Herr Kraus hatte in seinem Brief anmich vom 21. Mai Klage auf Widerruf angeregt. Mit dieser Klagewürden wir also aller Voraussicht nach durchkommen. Auch hierist natürlich die pressgesetzlich vorgeschriebene Berichtigungnicht als Rücknahme der Beleidigung anzusehen, weil die Berich-tigung zwangsmässig erfolgt. Ich würde also in diesem Fall den

Antrag dahin fassen, dass der Schriftleiter und der Verleger verurteilt werden, die beanstandete Behauptung zu widerrufen.

Nach § 11 des Gerichtskostengesetzes beträgt derStreitwert in nicht vermögensrechtlichen Prozessen regelmässigRM 2.000.–, kann aber „nach Lage des Falles“ höher oder nie-driger angesetzt werden, was für die Kostenfrage von Bedeutungist. Ich würde den normalen Wert von RM 2.000.– annehmen, daHerr Kraus an einer Erhöhung kein Interesse haben wird, anderer-seits ein Antrag auf Herabsetzung die Sache als für den Belei-digten weniger wichtigerscheinen lässt, was unerwünscht ist.

Mit kolleg. HochachtungELion

Nachschrift. Im vorigen Sommer waren meine Frau und ich inVelden mit dem Arzt Herrn Dr. Alt aus Wien zusammen, der, wie eruns mitteilte, mit dem Anwalt von Herrn Kraus befreundet ist.Ich nehme an, dass Herr Dr. Alt Sie gemeint hat und möchte Siezutreffendenfalls bitten, Herrn Dr. Alt von meiner Frau und mirbestens zu grüssen.

D.O.

KrausHamburger Nach-richten II.20. JUNI 1929