134.1 Privatklage von Paul Amadeus Pisk gegen Karl Kraus wegen Ehrenbeleidigung (Strafbezirksgericht I Wien)

Schreiberhände:

  • Oskar Samek, Bleistift
  • Karl Kraus, schwarze Tinte
  • Oskar Samek, schwarze Tinte

Materialitätstyp:

  • Durchschlag mit handschriftlichen Annotationen
Datum: 15. Juli 1929
Seite von 6

Eingelangt am 15. Juli 1929

G.Z. 4 U 1095/29

An dasStrafbezirksgericht IWien

Privatankläger: Dr. Paul Amadeus Pisk, Musiker undMusikschriftsteller, Wien IV.Schleifmühlgasse Nr. 19

durch: Dr. Otto Pisk, Rechtsanwalt,Wien

Beschuldigter: Karl Kraus, Schriftsteller,Wien III. Hintere Zollamtsstrasse 3(per Adresse: Verlag „Die Fackel“)

wegen: Ehrenbeleidigung

Privatanklage

Der Beschuldigte kennt mich seit mehreren Jahren, besondersseit dem Jahr 1924, als ich bei der Aufführung seiner Stücke „Traum-theater“ und „Traumstück“ die musikalische Leitung innehatte. HerrKarl Kraus hat darüber in den Nummern 649–656 der ZeitschriftDie Fackel“ berichtet.

Nun hat der Beschuldigte im heurigen Jahr einen Offenbach-Zyklus im Architektenvereinssaal, Wien I. Eschenbachgasse 9 abgehalten,in dem er eine Reihe von Operetten dieses Komponisten, textlich erneu-ert und mit aktuellen Zeitstrophen versehen, zum Vortrag brachte. DieMusik wurde von Georg Knepler am Klavier ausgeführt.

Dem Beschuldigten ist es genau bekannt, dass ich Musikbericht-erstatter der „Arbeiter-Zeitung“ bin und dass ausschliesslich ich dasOperetten-Referat der „Arbeiter-Zeitung“ führe. Man weiss auch in Wiener Kunstkreisen, dass ich meine Berichte im Feuilletonteil und in der Ab-teilung „Kunst und Wissen“ der „Arbeiter-Zeitung“ entweder mit der Sig-natur P.P. oder mit vollem Namen unterzeichne.

Der Beschuldigte fühlt sich seit einiger Zeit dadurch zurück-gesetzt, dass seine Bedeutung in der Presse Wiens nicht nach Gebührgewürdigt wird. Ich selbst habe dienstlich damit nichts zu tun, da dieschriftstellerische und literarische Tätigkeit des Beschuldigten nichtin mein Ressort fällt.

Als nun Herr Karl Kraus anlässlich der 110. Wiederkehr desGeburtstages Jacques Offenbach seinen Operettenzyklus ankündigte, habeich mir über Auftrag der Schriftleitung meines Blattes Karten zu vierVorlesungen des Beschuldigten und zwar zu „Pariser Leben3.VI., „Die Bri-ganten5.VI., „Die Grossherzogin von Gerolstein6.VI. und „Blaubart7.VI. gekauft,um über den musikalischen Teil dieser Darbietung in der „Arbeiter-Zeitung“ zu berichten.

So war ich auch Freitag den 7. Juni 1929 anwesend, als dienicht im Blaubart sondern Pariser LebenOperette „Blaubart“ zum Vortrag gebracht wurde, im Höflingslied desGrafen Oskar fügte nun der Vortragende mehrere aktuelle Zeitstrophenein, von denen eine das Schweigen der gesamten Presse Kraus gegenüberzum Inhalt hatte und zwar etwa in der Form, dass sich die sozialdemo-

kratische und die bürgerliche Presse zusammengetan hätten, ihn totzu-schweigen. Nach dieser Strophe hörte Herr Kraus zu singen auf, nahmeinen Zettel zur Hand und sprach im überlauten Tone zum Publikum gewen-det: „Aber in einigen Tagen wird ein anderer Wind aus dem Zentralorgan(der Untertitel der ‚Arbeiter-Zeitung‘ lautet ‚Zentralorgan der Sozialde-mokratie Deutschösterreichs‘) wehen, denn ein Vertreter des Zentralorgans,ein Schlieferl, ist hier im Saale anwesend (vielleicht auch ‚hat sich inS. 8den Saal verirrt‘, oder ‚geschlichen‘) und wird die Leser dahin aufklären,dass ich nicht musikalisch bin und nicht singen kann. Mit ein paar Slezaksnehme ich es allerdings noch auf, aber ich singe nicht David Bach, sondernOffenbach“.

Der Ausdruck „Schlieferl“ wurde vom Vortragenden mehrmals wieder-holt mit einigen Bemerkungen, etwa „dass das Schlieferl an einer Zusatz-strophe Anstoss genommen habe “, dies konnte er vielleicht aus einer abweh-ren Bewegung schliessen, die ich möglicherweise gemacht habe, ohne mir dessenbewusst zu sein.

Abgesehen davon, dass ich beim Wiener Publikum als Musikbericht-erstatter der „Arbeiter-Zeitung“ bekannt bin und abgesehen davon, dass derBeschuldigte zweifellos wusste und sah, dass ich im Saale anwesend war,musste ein Grossteil des Publikums erkennen, dass mit der Bezeichnung„Schlieferl“ ich gemeint war. Die Absicht des Beschuldigten geht auch ausseinem weiteren Verhalten unzweifelhaft hervor.

Ich behalte mir vor, für diesen ersten Vorfall ausser meinerVernehmung als Zeugen auch andere, damals im Saale anwesende Personen nam-haft zu machen, die sofort die Bezeichnungen als auf mich gemünzt erkannten.

In der „Arbeiter-Zeitung“ vom 9. Juni 1929 habe ich denn in derAbteilung „Kunst und Wissen“ ein Referat erstattet, in dem ich auf den ge-schilderten Vorfall vom 7. Juni 1929 zu sprechen kam, und die gerichtlicheAustragung der Angelegenheit ankündigte. Dieser Aufsatz war mit meinem vol-len Namen gezeichnet.

Am Montag den 10. Juni 1929 fand der nächste Offenbachvortrag desBeschuldigten wieder im Ingenieur- und Architektenvereinssaal statt, „Fortu-nios Lied“ und „Die Insel Tulipatan“.

Ich selbst war nicht anwesend, aber mehrere meiner Bekannten, dieauf die Angelegenheit aufmerksam geworden waren.

Der Beschuldigte hatte eine grössere Anzahl von Exemplaren derNummer der „Arbeiter-Zeitung“ vom 9. Juni 1929 an der Stelle, wo meinReferat stand, rot angestrichen und die Exemplare mit den Programmenan des Publikum verteilen lassen. Ich lege einen solchen rot angestriche-nen Artikel bei.

Der Beschuldigte befasste sich in der Vorlesung mit meinemAufsatz und leitete seine Ausführungen mit folgenden Worten ein: „Eineim Krupnik-Organ (gemeint ist die „Arbeiter-Zeitung“) erschienene Notiz zwingt mich, die Reihe meiner Vorträge für eine Weile zu unterbrechenund die elementare Wirkung auf das Publikum, die mir nachgerühmt wurde,zu erproben.“ Er nahm den Artikel zur Hand und versuchte, ihn Satz fürSatz zu zerpflücken, indem er jedesmal einleitend sagte: „Das Schlieferlschreibt “, oder „Das Schlieferl schreibt weiter “, ferner „der Musikkri-tiker des Organs“, „der Referent, der seit Jahren den Kitsch der bürger-lichen Operetten toleriert oder bejaht …“ (damit unzweifelhaftmich als alleinigen Operettenreferen der „Arbeiter-Zeitung“ meinend),„dass ich in solcher Fachkritik eine Petite, ja mehr noch eine Correpetitebegangen …“ (dies bezieht sich auf meine bekannte Tätigkeit alsKorrepetitor), ferner „diese armen Teufel nennen sich Fachmänner, mitihrem armseligen Fachwissen “, ferner „Schlieferl- und Tinterlpraktiken“u.s.f.

Mit Bezug auf die in meinem Artikel enthaltene Bemerkung,diese Beschimpfung, mit der sich nicht die Kritik sondern das Gerichtzu beschäftigen hat“ äusserte er sich damals im gleichen Vortrag: „Ichweiss, dass ich verurteilt werde, aber es wird eine triumpfale Niederla-ge sein, ich werde das Urteil an allen Anschlagsäulen der ‚Wipag‘, an-bringen und auch im ‚Krupnik-Organ‘ inserieren, um endlich den Beweiszu erbringen, dass die revolutionäre Sozialdemokratie die bürgerlichenGerichte zu Hilfe nehmen muss, um mit mir fertig zu werden. Von derBedenkzeit werde ich gewaltig Gebrauch machen.“

In der Folge bezeichnete er mich auch mit den Worten: „Dasgegen mich propagierende Schlieferl, losgelassen durch den Machtwahn,den ich gereizt habe“, ferner „dieser Mann, ein kümmerlicher Schönberg-schüler, schreibt: …“‚ „und diese Leute nennen sich Fachmänner“,dann nochmals „das gegen mich wirkende Schlieferl“, wobei er einzelne

Sätze meines Artikels mit ironischen Glossen versehen vorlas. Am Schlussseiner Rede, richtete er seine Augen suchend ins Publikum, mit der Bemer-kung, er müsse nachsehen, ob sich das Schlieferl wieder im Saale befinde,„wenn es heute hier ist, so beneide ich es nicht um den Beifall, den meinePolemik und Satire hier auslösen wird.“

Ich erwähne dazu, dass es in Musikkreisen bekannt ist, dass ichseinerzeit Schüler Arnolds Schönberg war, wie dies auch aus jedem Musik-lexikon entnommen werden kann. Die Bezeichnung „kümmerlicher Schönberg-schüler “ ist daher ebenfalls zwingend auf mich gemünzt. Die Bemerkung, be-züglich der Verurteilung beweist auch deutlich, dass bereits am erstenAbend ich persönlich gemeint und angegriffen wurde.

Während des zweiten Abends beschäftigte sich dann der Beschul-digte auch mit drei Redakteuren der „Arbeiter-Zeitung“ Dr. David JosefBach, Otto König und Dr. Oskar Pollak, die er ebenfalls schmähte.

Als Zeugen mache ich namhaft: Herrn Fritz Löwy, Privatbeamten,Wien XVI. Hasnerstrasse 40, Herrn Dr. Angelo Gropper, Arzt, und FrauHertha Gropper, beide Wien IX. Währingerstrasse 33, Herrn Otto Silbermann,Kaufmann, Wien VI. Joanelligasse 8.

Durch diese wiederholten vor der grossen Öffentlichkeit vorge-brachten Ausfälle, Schmähungen und Beleidigungen erachte ich mich in mei-ner Ehre tief verletzt und erhob gegen Herrn Karl Kraus die Privatanklagewegen Uebertretung gegen die Sicherheit der Ehre und stelle durch meinenin B. ermächtigten Vertreter den Antrag auf strenge Bestrafung des Be-schuldigten.

Zu einer Sühneverhandlung beim Gemeindevermittlungsamt werde ichnicht erscheinen.

Dr. P.A. Pisk

[Steno] 14Dr. Samek

Kraus – Dr. Pisk