193.60 Entwurf der zweiten Presseklage Karl Kraus ca. Sozialdemokrat (Dr. Emil Strauss)

Schreiberhände:

  • Oskar Samek, schwarze Tinte

Materialitätstyp:

  • Durchschlag mit handschriftlichen Überarbeitungen
Datum: 10. Dezember 1935
Seite von 4

Entwurf

der zweiten Presseklage Karl Kraus ca: Sozialdemokrat / Dr. Emil Strauss /.

In der Nr. 279 der Tageszeitung „Sozial-demokrat“ vom 30. November 1935 ist ein anonymer Artikelunter dem Titel „Der Verrat der Geistigen“ erschienen.In diesem Artikel, der im Original und Uebersetzungin die Staatssprache hier beigeschlossen ist, wird ausge-führt, dass derjenige, der an Mut, Ueberzeugungstreue undopferbereite Menschlichkeit der grossen Geister der Epocheglaubte, in den letzten Jahren immer vom neuen enttäuschtworden ist. Die grossen Unbestechlichen, die Richter ihrerZeit und die allzeit Gerechten seien der Reihe nachalle nach Damaskus gegangen. Dafür werden nun Beispieleangeführt und neben dem Dichter der „WeberGerhart Haupt-mann, G.B. Shaw und Knut Hamsun auch der Privatkläger alseiner von denen bezeichnet, die nach Damaskus gegangen sind,was besagen will, dass sie ihrer Gesinnung teils aus spekulativer Berechnung, teils aus Feigheit untreu gewordensind. Von Gerhart Hauptmann wird ausgesagt, dass er seinenKotau vor der blutigen Gewalt und schmutzigen Korruptiongemacht hat / gemeint ist offenbar, dass er sich dem Hitlerregime unterworfen und zum Dichter des dritten Reiches geworden ist sei gehuldigt habe, von G.B. Shaw, dass er sich gewandelt habe aus geschäftlicher Berechnung gegenwärtig im italienisch-Abessi , von KnutHamsun, dass er sich zu innerhalb der Hitler sphäre bekenne zu einer erbärmlich feigen und niedrigen Handlung hergegeben habe . Vom Privatkläger wird ausgesagt, dass er in Starhembergs Arme geeilt sei .Im „Sozialdemokrat“ wurde und wird der österreichischeVicekanzler Starhemberg als Reaktionär und Arbeiter-schlächter dargestellt und die Bemerkung, man habe demPrivatkläger in Starhembergs Arme eilen gesehen, soll besagen,dass er seine frühere Gesinnung aufgegeben habe und sich in das Lagerder Reaktion und unter die Feinde der Arbeiterklasse begeben habe. , Starhembergs der die Macht im Reich repräsentier und um dessen Gunst der PK offenbar buhlt, und da über dies vom Sozialdemokrat früher aus unverständlichen Gründen als „Zuchthäusler“ bezeichnet wurde in dem Konflikt eine bestimmte Haltung einnehme.

Aus diesen eben angeführten Beispielenfolgert der anonyme Schreiber des inkriminierten Artikels,dass es mit dem europäischen Geiste zu Ende ist sei , dass denNachkommenden nichts bleib t e , als ganz von vorne anzufan-gen, weil die Grössten ihrer Epoche / zu denen nach demInhalte des Artikels die in diesem Artikel Angeführten,also auch der Privatkläger gehört / ihnen nur traurigeBeispiele des moralischen Verfalles hinterlassen.

Beweis: der inkriminierte Artikel.

Der Angeklagte Dr. Emil Strauss ist nichtnur verantwortlicher Redakteur der Tageszeitung „DerSozialdemokrat“ sondern Funktionär der deutschen sozialdemokrata-schen Partei in der Tschechoslowakischen Republik, deren Haupt-organ die Zeitung „Der Sozialdemokrat“ ist. Als solcherist er über den Inhalt der Zeitung, an deren Redaktioner tätig mitwirkt und in welcher auch von ihm geschriebeneArtikel erscheinen, selbstverständlich genau informiert,sodass die bei ihm übliche Verteidigung, er habe den in-kriminierten Artikel weder verfasst, noch vor der Veröffent-lichung gelesen, noch in Druck gegeben, wenn überhaupt jemals, so in diesem Falle ab-solut gewiß nicht standhalten kann. Ganz abgesehen davon mussjedoch diese übliche Verteidigung auch deshalb von vorn-herein als ungeeignet zurückgewiesen werden, weil Dr. EmilStrauss vom Privatkläger wegen eines ähnlichen in der Zei-tung „Der Sozialdemokrat“ erschienenen Artikels nachdem Gesetze über den Ehrenschutz belangt werden mussteund weil er in diesem Prozesse, der sich bereits über einJahr hinzieht und in dem die Hauptverhandlung am 27.XI.1935, also 3 Tage vor Erscheinen des hier inkri-minierten Artikels, abgehalten wurde, durch seinen Anwalt Anträge überreichen liess, die eine Verschleppung desProzesses und eine Verzögerung der Urteilsfällung zum Zielehatten . , vor allem durch

Beweis: die Strafakten dieses Kreisgerichtes TK VI8789/34.

Selbst wenn also der Angeklagte, Dr.Emil Strauss, vorbringen sollte, dass er nicht der Autordes inkriminierten Artikels ist, und wenn ihm die Autor-schaft nicht nachgewiesen werden könnte, so kann es dochkeinem Zweifel unterliegen, dass der inkriminierte Artikel,in welchem der Privatkläger de s Gesinnungsverrates r Liebedienerei unddes moralischen Verfalles bezichtigt wird, mit Wissen undWillen des Angeklagten veröffentlicht worden ist.Da der Inhalt des inkriminierten Artikels geeignet ist, denPrivatkläger lächerlich zu machen,in der öffentlichen Mei-nung herabzusetzen und verächtlich zu machen und da sowohlder Schreiber als auch der Angeklagte wissen mussten, dassdie vom Privatkläger behaupteten Tatsachen unwahr sind, istder Tatbestand der § 1 bis 3 des Gesetzes über den Ehren-schutz gegeben.

Die Privatkläger erhebt daher gegenDr. Emil Strauss die Anklage gemäss §§ 1–3 des Ehrenschutz-gesetzes, sowie gemäss § 4 der Pressgesetznovelle und be-hält sich vor, die detaillierten Strafanträge in der nachden Vorschriften des zitierten Gesetzes zu überreichendenAnklageschrift zu stellen.

Prag, am 10.XII.1935.

12. DEZ. 1935KrausSozialdemokrat