193.87 Brief RA Johann Turnovsky an Samek

Materialitätstyp:

  • Typoskript

Sender

JUDr. JOHANN TURNOVSKY | Advokat
Vodičkova 33
Prag
Datum: 2.IV.1936
Betreff: Kraus – Sozialdemokrat | Dr. Emil Strauss

Empfänger

An: P.T. | Herrn Dr. Oskar Samek, | Advokat
Reindorfgasse 18
Wien – XIV
Datum: 3.APR.1936
Seite von 8

Sehr geehrter Herr Doktor.

Nachdem ich die Anordnung der Haupt-verhandlung für den Herrn Kraus genehmen Termin / 15.IV.1936 /erwirkt hatte, habe ich mir die Uebersetzung der einzelnenzum Wahrheitsbeweis herangezogenen Stellen aus den verschie-denen Fackelheften vorbereitet. Vorsichtshalber habe ich michbei Herrn Fischer erkundigt, ob er bereits die Vorladung zurHauptverhandlung erhalten hat, da ich weiss, dass das Gericht manchmal die Ladung der Zeugen übersieht, und vermeiden woll-te, dass dies auch diesmal, wenn Herr Kraus eigens nach Prag kommt, geschehe. Da mir Herr Fischer sagte, er habe noch keineLadung erhalten, fuhr ich heute zum Strafgericht Pankrac, wo-selbst ich folgende Feststellung machen musste:

Herr Dr. Schwelb hat als Verteidigerdes Angeklagten dieser Tage eine Eingabe bei Gericht überreicht,in welcher er namens des Angeklagten ankündigt, dieser werdesich bei der Hauptverhandlung mit der weiteren Einwendung ver-teidigen, dass der Privatkläger am 27.I.1936 in der Presseange-legenheit Tk XIX366/36 mit ihm einen Vergleich abgeschlossen

hat, ohne sich vor Abschluss des Vergleiches das Recht vorzube-halten, den Angeklagten wegen des Inhaltes desinkriminierten Artikels vom 10.8.1934 zu verfolgen. Dadurch seider Privatkläger des Klagerechtes im ersten Prozesse verlustiggeworden. Er sei daher der Ansicht, dass bei der Hauptverhand-lung keine weiteren Beweise zugelassen werden dürfen, also auchnicht der Beweis durch Verlesung der Protokolle über die Einver-nahme der Zeugen Dr. Franzel, Dr. Brügel und Heinrich Fischer.Sollte das Gericht jedoch anderer Ansicht sein, dann verwahreauch er sich gegen die Vorlesung dieser Protokolle und besteheauf Einvernahme dieser Zeugen, wobei er als weiteren Beweis überdas gleiche Thema die Einvernahme des Herrn Dr. Erich Heller be-antrage.

Ich habe mit dem Vorsitzenden des Pressesenates Dr. Tisek über diese Eingabe gesprochen und zu meiner nicht ge-ringen Ueberraschung festgestellt, dass er von der Durchführungweiterer Beweise absehen will und der Ansicht ist, dass das Kla-gerecht wegen Unterlassung des oben angeführten Vorbehaltestatsächlich erloschen ist.

Dazu muss ich Folgendes bemerken:

Es ist richtig, dass beim Abschlusse des Verglei-ches in der zweiten Presseangelegenheit gegen Dr. Strauss derVorbehalt der Verfolgung wegen des in dem I. Prozesse inkrimi-nierten Artikels nicht gemacht wurde. Ich habe dies auch nichtfür notwendig gehalten und bin überzeugt, dass dieser Vorbehaltnach den bestehenden gesetzlichen Vorschriften im Gesetze auchnicht vorgesehen ist.

Die Verteidigung spielt auf die Bestim-mung des § 18 des Gesetzes über den Ehrenschutz an. Dieser Para-graf ist überschrieben: „Gegenseitige Klagen“ und lautet:1./ Ist es zu einem Vergleiche oder zu einem Urteile übereine Privatklage wegen einer nach diesem Gesetze strafbarenHandlung gekommen, so kann die eine Partei die andere Parteiwegen einer anderen derartigen strafbaren Handlung, die diesegegen sie bis zum Abschlusse des Vergleiches oder bis zumSchlusse des Beweisverfahrens begangen hat, nur dann verfolgen,wenn sie sich vor dem Vergleiche oder vor Schluss des Beweis-verfahrens ausdrücklich das Recht ihrer Verfolgung vorbehaltenhat. Dieser Vorbehalt ist nicht notwendig, wenn der Berechtig-te von der strafbaren Handlung oder von der Person des Schuldi-gen erst nach Abschluss des Verfahrens oder nach Schluss des Be-weisverfahrens Kenntnis erlangt hat.

2./ Auch wenn sich die Partei nach der Bestimmung des Ab-satzes 1/ das Recht der Verfolgung der anderen Partei vorbehal-ten hat, ist die Verfolgung ausgeschlossen, falls das Begehrenum Strafverfolgung nicht innerhalb der gesetzlichen Frist ge-stellt wurde.

3./ Die Bestimmungen des Absatzes 1 gelten auch dann, wenndie von der Gegenseite begangene strafbare Handlung in tatsäch-lichem Zusammenhang mit der Handlung steht, derentwegen es zurHauptverhandlung gekommen ist. Das Begehren um Strafverfolgung

der von der Gegenseite begangenen Handlung kann jedoch ineinem solchen Falle noch binnen 15 Tagen nach Abschluss desVergleiches oder nach Schluss des Beweisverfahrens gestelltwerden, selbst wenn die gesetzliche Frist zur Einbringung derPrivatklage bereits abgelaufen ist.

Daraus geht noch – wie ich bestimmt annehmen zudürfen glaube – Folgendes hervor: Die Verfolgung einer sol-chen strafbaren Handlung muss bis zum Abschlusse des Verglei-ches oder bis zur Schliessung des Beweisverfahrens nur insolchen Fällen vorbehalten werden, in welchen die strafbareHandlung noch nicht verfolgt wurde. Der Vorbehalt der Ver-folgung einer bereits verfolgten strafbaren Handlung hättedoch keinen Sinn und der Gesetzgeber hätte, wenn er diesenVorbehalt auch für solche Fälle hätte statuieren wollen, un-bedingt sagen müssen: „…, so kann die eine Partei dieandere Partei wegen einer anderen derartigen strafbaren Hand-lung, die diese gegen sie bis zum Abschlusse des Vergleichesoder bis zum Schlusse des Beweisverfahrens begangen hat, nurdann verfolgen, wenn sie sich vor dem Vergleiche oder vorSchluss des Beweisverfahrens ausdrücklich das Recht ihrerVerfolgung oder ihrer Weiterverfolgung vorbehalten hat.“

Dass der Gesetzgeber nicht diese Absicht hatte,geht meiner Ansicht nach aus den Materialien zum § 18 hervor.Da ist gesagt: „Einer besonderen Regelung bedarf der Fall dergegenseitigen Klagen. Aus der Praxis ist der beliebte Vorgang

bekannt, dass bei gegenseitigen Beleidigungen bis zum letztenTage der Frist gewartet wird, damit die andere Partei nichtmehr gegenseitig klagen könne. Dies will der Entwurf durchdie Bestimmung verhindern, dass wegen gegenseitiger straf-barer Handlungen gegen die Sicherheit der Ehre noch bis zurBeendigung des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung, wel-che über die Klage des einen der Beklagten angeordnet wurde,geklagt werden kann, mag auch die regelmässige Klagefristschon abgelaufen sein.

Die angeführten Bestimmungen gelten nur, wenn diegegenseitig begangenen strafbaren Handlungen in tatsächlichemZusammenhange stehen, wenn also zum Beispiel die Beleidigungan Ort und Stelle erwidert wurde. Aber auch wenn ein solcherZusammenhang nicht besteht, ist aus dem eben angeführten Grun-de wünschenswert, die Möglichkeit der gegenseitigen Klageneinzuschränken, wenn es schon zu einem Vergleiche oder zumUrteile gekommen ist. Wollen sich nämlich die Parteien dasKlagerecht wegen irgendeiner strafbaren Handlung, welche sichzwischen ihnen bis zum Abschlusse des Vergleiches oder biszur Beendigung des Beweisverfahrens ereignet hat und welchedem Berechtigten bereits bekannt war, wahren, so sollen beideParteien genötigt sein, sich das Verfolgungsrecht ausdrück-lich bis zu der angeführten Zeit vorzubehalten.

Ferner sagt der Motivenbericht: Die gleichen Grund-

sätze, wie im § 17 sind auch die Grundlage für die Fassungdes § 18. Durch den Vergleich oder das Urteil gemäss Absatz 1des § 18 sollen alle zwischen den Parteien entstandenen Sachenerledigt werden und die nachträglichen Klagen / vorausgesetzt,dass die Beleidigungen bekannt sind / durch den ausdrücklichenVorbehalt bedingt sein. Die Motivenberichte sprechen alsoausdrücklich von gegenseitigen Beleidigungen und Klagen undvon nachträglichen Klagen, deren Ueberreichung eben nur mög-lich sein soll, wenn sie bis zum Abschlusse des Vergleichesoder bis zur Beendigung des Beweisverfahrens vorbehalten wurde.

Daraus geht doch sicherlich hervor, dasses nicht notwendig ist, sich die Ueberreichung der Klage oderdie Strafverfolgung vorzubehalten, wenn es sich nicht um gegen-seitige, sondern nur um einseitige Beleidigungen handelt, diebereits verfolgt wurden und bezüglich welcher das Strafverfah-ren noch anhängig ist.

Dies habe ich auch Obergerichtsrat Dr.Tisek auseinandergesetzt; er erklärte jedoch, dass er meine Aus-legung nicht für richtig halte und dass das Obergericht in einemsolchen Falle eine von Dr. Tisek herausgegebene Entscheidungauch bestätigt habe. Dagegen hat das Oberste Gericht dieseFrage noch nicht entschieden, weswegen Dr. Tisek die Gelegenheitbegrüsse, eine Entscheinung des Obersten Gerichtes herbeizuführen.

Man muss also damit rechnen, dass bei derfür den 15. d.M. angeordneten Hauptverhandlung, zu der keine

Zeugen geladen werden, keine Beweise durchgeführt werden dürftenund dass nur über die Frage ein Beschluss gefasst werden wird,ob das Klagerecht wegen der Unterlassung des Vorbehaltes nach§ 18 beim Abschlusse des Vergleiches in der zweiten Presseange-legenheit erloschen und der Angeklagte daher freizusprechen ist.

Unter diesen Umstanden weiss ich nicht, ob sichHerr Kraus zu dieser Verhandlung wird einfinden wollen und ichmache mir, wenn ich auch an diese Auslegung des Gesetzes nichthabe denken können, Vorwürfe, dass ich den Vorbehalt beim Ab-schlusse des Vergleiches in der zweiten Angelegenheit nicht ge-macht und dadurch, wenn auch unbewusst, zur Komplizierung die-ses Prozesses beigetragen habe.

Ich hoffe jedoch, dass das Oberste Gericht dieseAuslegung des § 18 des Ehrenschutzgesetzes nicht bestätigen undeiner gemäss § 281 Zahl 9 St.P.O. überreichten Nichtigkeitsbeschwer-de stattgeben wird.

Indem ich Sie, sehr geehrter Herr Doktor, bitte,diese Mitteilung zur Kenntnis zu nehmen und an Herrn Kraus weiter-zuleiten, bin ich mit besten Grüssen an ihn und Sie

in vorzüglichster Hochachtung ergebener:Dr. Turnovsky

KrausSozialdemokrat 3. APR. 1936