6.4 Urteil des Strafbezirksgerichts I Wien (G.Z. U I 122/23/3 Richter: Christoph Höflmayr, Verteidiger: Heinrich Foglar-Deinhardstein)

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Datum: 10. April 1923
Seite von 2

U I 122/233

Im Namen der Republik!

Das Strafbezirksgericht I in Wien als Pressegericht hat heute in Ab-wesenheit des Privatanklägers Karl Kraus unddes Angeklagten Karl Schiffleitner,in Gegenwart des Pr.Ankl.Vertreters Dr. Oskar Samek und des Verteidigers Dr. Heinrich Foglar-Deinhardstein über die Anklage verhandelt, die der Privatankläger gegenKarl Schiffleitner 26 J., verh. verantwortlicher Redakteurder „Reichspostwegen der Uebertretung des § 23 Preßgesetz erhoben hatte, und überden vom Ankläger gestellten Antrag auf Bestrafung und Veröffentli-chung der Berichtigung zu Recht erkannt:

Karl Schiffleitner wird von der Anklage wegen der Uebertretungnach § 23 Pr.G., angeblich begangen dadurch, daß er als verantwortli-cher Redakteur der „Reichspost“ sich grundlos weigerte, die ihm mitBezug auf den mit der Ueberschrift „‚Nachruf‘ nicht von, sondern aufKarl Kraus“ in der Nr. 38 der „Reichspost“ vom 9./II. 1923 abgedruck-ten Artikel zugekommene Berichtigung zu veröffentlichen,gem. § 259/3 St.P.O. freigesprochen.

Gründe:

Das Gericht ließ sich bei der Entscheidung von folgenden Erwä-gungen leiten:

Der strafbare Tatbestand des § 23 Pr.G. wäre vorliegendenfallsnur dann gegeben, wenn sich der Beschuldigte grundlos geweigerthätte, die Berichtigung zu bringen.

Der Beschuldigte gibt zu, daß er das Berichtigungsschreiben erhaltenhat und daß seither mehr als 2 Nummern der „Reichspost“ erschienen sind,ohne daß die Berichtigung gebracht wurde, er verantwortet sich aberdahin, daß die Berichtigung, da sie keine Berichtigung mitgeteilterTatsachen ist, dem Gesetze nicht entspricht.

Das Gericht war aus nachstehenden Gründen derselben Ansicht:Die zu berichtigende Stelle „Obendrein ein Mensch, der sich mitBegeisterung in den Umsturz gestürzt hat, aber sofort wieder aus allenHimmeln der Republik stürzte, als ihm Genosse Breitner die neu er-fundenen Steuern abzwackte; der die Republik über den grünen Klee undüber alle monarchische Vergangenheit pries, bis er wegen magistrali-cher Belästigung mit Zahlungsaufträgen mit dem Auswandern drohte ……kann überhaupt nicht berichtigt werden; denn diese Stelle enthält kei-ne Tatsachen, sondern Meinungen u. zw. die Meinung, daß Pr.Ankl. sichmit Beisterung in den Umsturz gestürzt hat, die Mei-nung, daß Privatankläger später seine Stellungnahme zur Republik änderte und die Mei-nung, daß das Motiv dieser Aenderung und seiner Androhung der Auswan-derung die Lustbarkeitssteuer war. Da gem. § 23 Pr.G. nur Tatsachenberichtigt werden können, die obengenannte Stelle aber, da sie keine Tat-sachen enthält, überhaupt nicht berichtigungsfähig ist, so erübrigt es,auf die Frage, ob die Berichtigung selbst dem Gesetze entspricht, ein-zugehen.

Da aus den angeführten Gründen der Beschuldigte zur Veröffentlichungnicht verpflichtet war, so war seine Weigerung der Veröffentlichung kei-ne grundlose und der Beschuldigte einen strafbaren Tatbe-standes nach § 23 Pr.G. freizusprechen.

Wien, am 10. April 1923[Unterschrift]

Beschluß.

Die Kosten des Verfahrens hat gem. § 390 StPO. der Privatanklä-ger zu tragen; dieselben sind einbringlich.

Wien, am 10. April 1923[Unterschrift]

KrausReichspost II.Eingelangt 12. APR. 1923