27.3 Protokoll der öffentlichen Hauptverhandlung (Strafbezirksgericht I Wien, Karl Adam Fryda, Rat des Landesgerichts für Strafsachen)

Materialitätstyp:

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Datum: 25. März 1927
Seite von 9

Abschrift.

Öffentliche Hauptverhandlung

Strafbezirksgericht I in Wien am 25. März 1927Beginn 9 Uhr 10 Min.Richter L.G.R. Dr. Fryda Schriftführer: Dr. Schaginger Privatankläger: Karl Kraus n.e. sein Vertreter Dr. OskarSamek V.a.Angeklagter: (Der Name folgt unten)Verteidiger: Dr. Eduard Frischauer V.a.

Der Beschuldigte erklärt, auf einen Ausgleich nicht ein-gehen zu wollen.

Die Anklage wird vorgetragen, der Angeklagte gibt über seine persönlichen Verhältnisse und die Ankla-ge an:

Ernst Ely, 10. November 1878 in Wien geboren, zuständig nach Wien, mos., ledig, Redakteur,Gymnasialmatura, Eltern: Ignatz und -cilie Ely, für niemand zu sorgen, 1.600.– Smonatlich, IV. Kühnplatz Nr. 4, auf Be-fragen unbescholten:

Ich bekenne mich nicht schuldig.

Ich habe den Brief nicht veröffentlicht. Ich hatte den-selben auch nie in meinem Besitz.

Ich kenne Frau Gina Kaus.

Ich erinnere mich flüchtig, im Feber oder März 1925, daswar 9 Monate vor der Veröffentlichung des inkriminiertenBriefes, mit Frau Gina Kaus ein Gespräch gehabt zu haben.Dieses Gespräch beinhaltete, dass die „Stunde“ Briefedes Karl Kraus besitze. – Der veröffentlichte Brief kann

aber unmöglich der Brief sein, von dem ich damalssprach. Denn bei der Intensivität der Polemik zwischenKraus und „Stunde“ ist es höchst wahrscheinlich,dass ein Brief, der sich bereits im März 1925 in meinemBesitz befand, sicherlich schon früher wäre veröffent-licht worden. – Ich habe das in lässiger Weise zuFrau Kaus gesagt und hinzugefügt, dass ich gegen dieVeröffentlichung von Briefen bin. Nach Vorhalt der Aus-sage des Zeugen Karl Tschuppik, O.N. 2 in U XII 71/26(„– dem Stil nach könnte der Artikel von Ely herrühren“.)Tschuppik dürfte den Artikel nicht genau gelesen habenund nur die Schlusspointe im Sinne gehabt haben. Ichgebe zu, dass diese Wendung die Merkmale meines Stilsträgt. Diese Wendung kam aber bereits in einem früherenArtikel von mir vor. (Der einzige Hof, den uns ……, der Steinhof … lautet die Wendung)Ich verwahre mich aber ganz entschieden, schon aus reinstilistischen Gründen, dagegen, den inkriminierten Ar-tikel geschrieben zu haben. Der Artikel trägt nichtdie Merkmale meines Stils. –

Auf Frage des P.A.V., ob Beschuldigter zu Kaus von Brie-fen an Liebknecht gesprochen habe, sagt Besch: Bei demGespräch habe ich von Wilhelm Liebknecht bestimmt nichtgesprochen. Ob ich von sozialdemokratischen Politikernsprach, weiss ich nicht. Ich kann mich daran nicht mehrerinnern. – Den Namen Liebknecht habe ich aber bestimmtnicht genannt. Ich weiss nicht, welche Briefe dieStunde“ von Kraus hatte. Ich habe mich nie darumgekümmert. Ich persönlich habe niemals Briefe besessen.

Ich hatte nie einen Kontakt mit Wilhelm Liebknecht.Der P.A.V. gibt an: Liebknecht hat den Brief an Dr.Viktor Adler übermittelt, in dessen Nachlass er vonKarl Adler gefunden wurde, der ihn der „Stunde“ über-gab.

Besch. sagt: Ich habe niemals von Karl Adler einenBrief verlangt, noch auch bekommen.

Ich kann mich nicht erinnern, wer mir gesagt hat, dassdie „Stunde“ Briefe habe. –

Die Frau Kaus hat im allgemeinen über die Kampagne gegenKarl Kraus gesprochen. Bei dieser Gelegenehit sprachauch ich von den Briefen, die den Karl Kraus kompromit-tieren sollen. – Den veröffentlichten Brief halte ichübrigens nicht einmal für Kraus kompromittierend. –

Ich habe mich nie dafür interessiert, welchen Inhaltsdie Briefe des Karl Kraus sind. –

Ich habe auch nie erwartet, dass in den Briefen wert-volles Material gegen Kraus drinnen steht.

Der P.A.V. hält dem Besch. vor, dass der vorletzte Ab-satz des Artikels das Stilgepräge des Besch. trage, wo-rauf Besch. entgegnet: Dieser Absatz trägt nicht meinStilgepräge.

Der P.A.V. gibt an: Metaphern und Antithesen sind dasStilgepräge des Besch.

Beschuldigter sagt: Meine Stellung in der „Stundeist die eines Leitartiklers, ich bin der Politiker derStunde“. Ich war nur Chefredakteur, niemals Umbruch-redakteur. Umbruchredakteur ist Brody, manchmal auchBekessy selbst. Brody ist jetzt in Wien.

Nach Vorhalt des P.A.V., dass der Besch. selbst seiner-

zeit eine Zeugenaussage mit Rücksicht auf den § 45 P.G. ablehnen wollte, sagt Besch: Ich bin der Meinung, dassdiese Sachen unter das Pressgesetz fallen. Ich habemich nur auf meinen prinzipiellen Standpunkt gestellt.Es ist wahr, ich war der einzige, der dies tat.

Der P.A.V. bringt vor: Im Dezember 1925 erfolgte eineprinzipielle Entscheidung des Landesgerichtes für Strafsachen in Wien I, dass der § 45 P.G. in solchen Fällennicht herangezogen werden könne zur Befreiung von derZeugenaussage. Diese Entscheidung war dem Beschuldigten bekannt. –

Beschuldigter: Das ist richtig. – Bei der Zeugeneinver-nahme habe ich die Wahrheit gesagt. Auf die Frage desP.A.V. sagt Besch:

Bei zweiten zeugenschaftlichen Einvernahme am 16. Ok-tober 1926 habe ich das Gespräch mit Frau Gina Kaus nicht mehr in Erinnerung gehabt, es schien mir auchnicht relevant. – Ich weiss nicht, wer von der Redaktiondie Briefe besitzt. –

Der Verteidiger führt an: Ich halte die Strafsache fürsubjektiv verjährt. Die Aussage des Tschuppik war Feber1925, die Mitteilung der Zeugin Kaus an den Privat-anklägervertreter rührt von 2 Jahren her. –

Weiters beantragt der Verteidiger, Karl Kraus darüberals Zeugen zu vernehmen, wann die Aussage des Tschuppik und die Mitteilung der Frau Gina Kaus an ihn gelangtsind. –

Beschuldigter : Ich habe auch anderes Material über Kraus nicht in Händen gehabt.

Der P.A.V. gibt an: Der P.A. hat sich in Ischl mit einemSpazierstock in der Hand abbilden lassen; der Besch.

hat in einem Prozess Spitz gegen Dr. Kaufmann alsZeuge angegeben, dass ihm diese Karte angeboten wordensei, er sie aber zurückgewiesen habe, dass ihm aberein anderer, nämlich Spitz, diese Karte wieder über-bracht habe, er, der Besch. sie aber zurückgewiesen habe.Besch. sagt: Von dieser Ansichtskarte habe ich FrauKaus keine Mitteilung gemacht.

Verteidiger beantragt, den Dr. Marc Siegelberg und Dr.Fritz Kaufmann, Redakteure der „Stunde“ darüber ein-zuvernehmen, dass der Besch. sich gegen die Veröffent-lichung von Briefen aussprach und dass es ganz ausge-schlossen ist, dass der Besch. die Briefe veröffent-licht hat.

Zeugin Regine Kaus, 1895 in Wien geb., mos., vh.,Schriftstellersgattin, III. HyegasseNr. 3 gibt nach W.E. Hs. an:

Gegen die Unbefangenheit der Zeugin wird von keinerSeite ein Einwand geltend gemacht. – – –

Etwa vor zwei Jahren habe ich mit dem Beschuldigten im Café Central über Briefe des Karl Kraus gesprochen.Bei dem Gespräch waren noch Leute anwesend, ich weissaber nicht, welche. – – –

Inhalt des Gespräches waren die Angriffe der „Fackelgegen die „Stunde“. Es war so die erste Zeit derFehde zwischen den beiden Zeitschriften. In der „Stundewaren schon einige Gegenartikel gegen Kraus erschie-nen. Ich habe Ely geraten, diesen Kampf mit unfairenund unlauteren Mitteln einzustellen. –

Wieso das Gespräch überhaupt auf den Presskampf kam,weiss ich nicht mehr. Wahrscheinlich bin ich daraufzu sprechen gekommen. –

Ich habe zu Ely als dem Exponenten der „Stunde“ ge-sprochen, da ich ihn dafür hielt. Ely identifiziertesich mit dem Kampf der „Stunde“. Nach dem Gespräch,wie ich es damals führte, musste ich Ely dafür halten. –Der Besch. sagte mir damals dem Sinne nach, „ach,wir werden schon fertig werden mit Kraus, wir habenuns Briefe beschafft, die an einen höheren Parteifunk-tionär der sozialdemokratischen Partei gerichtet sind. “Das Wort „sozialdemokratisch“ ist gefallen. – Ausden Briefen sollte, nach der Erzählung des Ely, hervor-gehen, welcher Reaktionär Kraus gewesen sei. – Ob dasWort „Reaktionär“ fiel, kann ich nicht bestimmt angeben.Ich habe das damals dem Sinne nach herausgehört. Eskam so heraus, dass Kraus seine Meinung sehr starkgeändert habe. – Ob von mehreren Briefen oder von einemBrief die Rede war, kann ich nicht angeben. – Ich hatteden Eindruck von „mehreren Briefen“ – Ob der Be-schuldigte sagte „ich“ oder „wir“ haben Briefe,kann ich nicht angeben. –

Aus dem Gespräch ging hervor, dass die Absicht be-stand, Briefe zu veröffentlichen.

Ich kann es nicht beschwören, ob der Beschuldigte gesagt hat, er werde Briefe veröffentlichen odernicht.

Aus dem Gespräch ging hervor, dass er, der Beschuldigte,in Gemeinschaft mit Anderen den Brief veröffentlichenwerde. –

Es ist auch mein Eindruck, dass er oder auch andere mit ihmsich die Briefe verschafft haben. –

Von diesem Gespräch habe ich Chefredakteur Austerlitz

Mitteilung gemacht.

Ich hatte nämlich den Eindruck, dass es sich um Briefean ihn handelte. Diese Mitteilung erfolgte einige Tagenach meinem Gespräch mit Ely. Ich habe Austerlitz ge-fragt, ob ihm Briefe von Kraus entwendet worden sein konn-ten. Er entgegnete, das sei ganz ausgeschlossen. Er warauch der Ansicht, dass es keine Briefe geben könne, dieKraus kompromittierten. Austerlitz sagte noch, dass esgegen die journalistische Standesehre verstosse, eine der-artige Kampfmethode anzuwenden. –

Dem Karl Kraus habe ich dieses Gespräch damals, jedenfallsnoch im Frühjahr 1925 mitgeteilt. –

Die Publikation der Briefe erfolgte 1/2 Jahr später. –

Auf Frage des P.A.V. sagt Zeugin:

Einige Zeit nach einem Vortrag des Kuh habe ich einzweites Mal mit Kraus gesprochen. Während der Zeit desVortrages war ich in Berlin. – Ich hörte nachträglich,dass Kuh in dem Vortrage gesagt hätte, „eine Frau hätteZwischenträgerdienste geleistet.Kraus Karl sagte lä-chelnd darauf, ich hätte in geradezu unerhörter Weisekeine Zuträgerdienste geleistet. –

Ich sagte noch zu Kraus, dass ich nur ein einziges Maletwas, was ich erfahren habe, weiter erzählt habe, daich eine Unrechtshandlung daraus entstehen fürchtete.Das war der Fall bei den Briefen des Kraus an einen Po-litiker. Der Kraus fragte mich, mit wem ich gesprochenhabe, ich antwortete darauf: „Mit Ely!

Kraus bat mich noch, als Zeugen ihm zur Verfügung zustehen, ich sagte das zu. –

Dieses Gespräch mit Kraus dürfte Anfangs November 1926

oder Weihnachten 1926 gewesen sein. – – –

Der P.A.V. verweist auf die Angabe ON 16 U XII 71/26,wonach Anton Kuh diesen in Rede stehenden Vortrag am1. Oktober 1926 gehalten habe. – Die Privatanklage wurde am 16. November eingereicht. –

Zeugin sagt:

Bei meinem zweiten Gespräch mit Kraus hat er sichan das erste Gespräch erinnert. –

Auf Antrag des P.A.V. wird aus dem Akt U XII 71/26festgestellt, dass der Strafantrag gegen Dr. MarcSiegelberg und weitere unbekannte Täter gestelltwurde. –

Daraus schliesst der P.A.V., wenn damals dieses Ge-spräch in Erinnerung gewesen wäre, er den Beschuldigten nicht damals als Zeugen geführt, sondern gleich denStrafantrag gegen ihn gestellt hätte. –

Der Verteidiger weist darauf hin, dass das letzte Indizdie Aussage des Zeugen Tschuppik damals noch nichtexistent war. –

Der P.A.V. erbietet sich zum Beweis des Umstandes, dasser die Aussage des Zeugen Tschuppik dem Kraus erst nachdem 16. Oktober 1926 mitgeteilt habe, da er (P.A.V.)selbst erst nach Zustellung des Abschlussdekretes sichden Akt abschreiben liess.

P.A.V. beantragt, Karl Tschuppik neuerlich als Zeugeneinzuvernehmen, der jetzt weiss, dass der Beschuldigte der Schreiber des Artikels sei. Aus Diskretionsgründenkann der P.A.V. jetzt noch nicht angeben, wer ihm dieseMitteilung machte. Tschuppik hat sich vor einem Monatso geäussert. – Anschrift: Tschuppik, Berlin, Tier-

gartenstrasse Nr. 18.

Verteidiger spricht sich dagegen aus.

Beschluss auf Vertagung zur Einvernahme des Zeugen Tschuppik und der Zeugen Dr. Kaufmann und Dr. Siegelberg überdie von den Parteien angegebenen Beweisumstände.

Schluss: 10 Uhr 08 Minuten. –2.– S Stempel

Fryda m.p., Dr. Schaginger m.p.