34.12 Urteil des Strafbezirksgerichts I Wien (G.Z. U IV 570/26, Richter: Julius Benesch, Verteidiger: Friedrich Schnepp)

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Datum: 11. November 1926
Seite von 4

Abschrift.

Geschäftszahl U IV 570/26

Im Namen der Republik!

Das StrafBezirksgericht I in Wien hat heute in Gegenwartin Abwesenheit des Privatanklägers Karl Kraus Privatanklägervertreters Dr. Oskar Samek und in Gegenwartdes Angeklagten Anton Kuh,und des Verteidigers Dr. Friedrich Schnepp über die Anklage verhandelt, die der Privat-ankläger gegenAnton Kuh, 12./7. 1890 Wien g.z., m., lSchriftstellerwegen der Übertretung der Ehrenbeleidigungerhoben hatte,und über den vom Ankläger gestellten Antrag auf Bestrafungzu Recht erkannt:

Der Angeklagte ist schuldig, am 25. Oktober 1925 in Wien, und zwar imKonzerthaussaale in einem Vortrage, mithin öffentlich durch die WorteItzigseuche, ich schäme mich u.s.w. … Sie kommen von hinten“, diebesten Zitate hat er von mir, „Intelligenzplebejer“, als Kraus vor unge-fähr 30 Jahren – er sagt vor 48 Jahren – nach Wien kam, „von reinenHänden allein kann man nicht leben“, „hierauf sagt dieser Wahnsinnigeein Schriftsteller, der sich nicht entblödet auf Sexualität anzuspie-len“, „dass nenne ich die Geburt des Ethos aus dem Geiste des Asesund durch Verlesung“ Friedrich Nietzsche hat in einerNacht eine Vision gehabt. Karl Kraus ist ihm erschienen mit der Fackel

und nun hören Sie zu. Versuchen sie, nicht erschüttert zu sein, wasNietzsche über Kraus und Wien schreibt. Die grosse Stadt ist Wien,wer Kraus ist werden sie erraten.

Und nun folgt eine Verlesung des Kapitels „Vom Vorübergehenaus dem dritten Teil des „Zarathustra“ von Nietzsche, aus dem ichjedoch nur die strafrechtlich relevanten Stellen zitiere:

Also durch viel Volk und vielerlei Städte langsam hindurch-schreitend, ging Zarathustra auf Umwegen zurück zu seinem Gebirgeund seiner Höhle. Und siehe dabei kam er unversehens auch an dasStadttor der grossen Stadt; hier aber sprang ein schäumender Narrmit ausgebreiteten Händen auf ihn zu und trat ihm in den Weg.Dies aber war derselbige Narr, welchen das Volk“ den Affen Zarathu-stra’s hiess: denn er hatte ihm etwas von Satz und Fall der Redeabgemerkt und borgte wohl auch gerne vom Schatze seiner Weisheit.Der Narr aber redete also zu Zarathustra: …………Hier aber unterbrach Zarathustra den schäumenden Narren und hieltihm den Mund zu. ‚Höre endlich auf! rief Zarathustra, mich ekelt lan-ge schon deiner Rede und deiner Art! …………‘Warum wohnst Du solange am Sumpfe, dass du selber zum Frosch und zurKröte werden musstest?„Flieset Dir nicht selbst nun ein faulichtes schaumichtes Sumpf-Blut durch die Adern, dass du also quacken und lästern lerntest?…… Man heisst Dich meinen Affen, du schäumender Narr: aberich heisse dich mein Grunzeschwein, durch Grunzen verdirbst du mirnoch mein Lob der Narrheit.

Was war es denn, dass dich zuerst grunzen machte? Dass Niemand dirgenug geschmeichelt hat: darum setztest du dich hin zu diesem Un-rate, lass du Grund hättest viel zu grunzen – dass du Grund hättestzu vieler Rache! Rache nämlich, du eitler Narr, ist all dein Schäumenich erriet dich wohl! Aber dein Narrenwort tut mir Schaden, selbst wodu Recht hast!Mich ekelt auch dieser grossen Stadt und nicht nur diese Narren

den Karl Kraus dem öffentlichen Spotte ausgesetzt, zu haben.

Er hat hiedurch die Uebertretung gegen die Sicherheit der Ehre nach§ 491 StG. begangen und wird nach § 493 St.G. unter Anwendung des§ 266, 261 StG. zu einer Geldstrafe vonzweihundert 200 Schilling im N.E.F. zu fünf Tagen Arrest und gemäss § 389 StPO. zum Ersatze derKosten des Strafverfahrens verurteilt. Von der Anklage der Übertre-tung, der Ehrenbeleidigung durch die Ausdrücke „Kleine Schiffgassedes Geistes“ , „P.A. versuchte als Redakteur bei der Nr.Fr.Presse un-terzukommen und wurde von dort hinausgeworfen“, und „Das ist so?wird der Beschuldigte gemäss § 259 Z. 2. St.P.O. freigesprochen

Gründe:Der im Urteilstenor festgehaltene Tatbestand erscheint durch dieZeugenaussagen und, von einigen, für die Qualifikation des Tatbestan-des unerheblichen Abweichungen in der Verantwortung des Besch. abge-sehen, durch das Geständnis des Besch. erwiesen. Dem Gerichte erscheintdurch die einzelnen Aeusserungen sowohl als auch durch deren Zusam-menhang der Tatbestand der öffentlichen Verspottung gegeben. Der Be-schuldigte selbst gibt in seiner Verantwortung an, dass in der Hal-tung des P.A. gegenüber Nietzsche und in einem Kapitel des „Zarathu-stra das ihm vollständig auf den P.A. zu passen schien“ Anlass undAnregung gegeben zu seinem Vortrage gefunden und sonach die inkr. Aeus-serungen in voller Absicht gemacht hat. Die Art der Verantwortung desBeschuldigten vor Gericht bestärkte das Gericht in der Ueberzeugung,dass der Besch. die Absicht der Verspottung als Leitlinie hatte. Obeinzelne Aeusserungen diese Absicht besonders stark erkennen liessenoder ob bei Einzelnen diese Absicht verwischt wurde, ist irrelevant

gegenüber dem einheitlichen Komplex des Vortrages, der in seiner Ge-samtheit die Verspottung der Persönlichkeit des P.A. zum Ziele hatte.Das Gericht ist der Anschauung des Besch. gefolgt, dass es nicht an-gehe aus diesem einheitlichen Vortrage einzelne Stellen zusammen-hanglos herauszugreifen, sondern er ist in seiner Gesamtheit zubeurteilen gewesen und es verdienen nur die vom P.A. heraus gehobe-nen Stellen grössere Beachtung. Gegenüber dem Bedürfnisse des Be-schuldigten, dem P.A. immer wieder dem öffentlichen Spotte preis-zugeben, waren die beantragten Beweise teils unerheblich, teils un-zulässig. Mildernd war das Geständnis des Tatsächlichen, das imZuge der Verantwortung nahezu rückhaltlos erfolgte, seine offen-sichtlich leichte Erregbarkeit und seine Veranlagung überhaupt,sowie seine Unbescholtenheit; erschwerend war kein Umstand.

Das Urteil erscheint sonach dem Verschulden angemessen.

Wien, am 11. November 1926

Der Richter:Dr. Benesch m.p.

Der SchriftführerDr. Wilhelm

Mit der Urschrift gleichlautend.

Wien, am 6./12.1926Unterschrift