34.11 Protokoll der öffentlichen Hauptverhandlung (Strafbezirksgericht I Wien, G.Z. U IV 570/26, Julius Benesch)

Materialitätstyp:

  • Durchschlag
Datum: 11. November 1926
Seite von 7

Abschrift.

G.Z. U IV 570/269

Öffentliche HauptverhandlungStrafbezirksgericht I in Wien am 11. November 1926Beginn 12 UhrEnde 4 Uhr 50 Min.2 Pausen 50 Min.Dauer d. Hv. 8/2 St.Richter L.G.R. Dr. Benesch Schriftführer Dr. Wilhelm

Privatankläger: Karl Kraus, u.e.Za. sein VertreterDr. Oskar Samek pers.V.aAngeklagter Anton Kuh, p. Verteidiger: Dr. Salo Weitberg für Dr. Friedrich Schnepp L.U. 7.VII 1925 V. ausg.

Anton Kuh, 12.VII.1890, Wien, Wien, mos.led. Schriftsteller, III. Beatrixgasse 1, ohne Vermögen,Eltern Emil und Auguste, für die Mutter zu sorgen, wegenPressdelikte vorbestraft.

Ich bekenne die inkriminierten Äusserungenim angegebenen oder ähnlichen Wortlaute gemacht zu haben,wobei ich Abweichungen noch zum Ausdruck bringen werde.Die Kompetenz des Bezirksgerichtes bestreite ich. Lite-rarische Auseinandersetzungen, auch pamphletistischen In-haltes vertragen nicht eine juristische Analyse; der P.A. hat selbst unzählige Polemiken gegen die gesamte künstle-rische und wissenschaftliche Welt geführt in der Sicher-heit, seine Verantwortung hiefür nicht beim Bezirksgericht erbringen zu müssen. Insbesonders verwahre ich mich da-gegen, dass die inkriminierten Stellen aus dem Zusammen-hang gerissen, dem Verständnis entrückt und so angeklagtsind. Der Gesamtinhalt des Vortrages, der intensive Mit-arbeit der Zuhörer zur Bedingung hat, hat eine beleidigende

Wirkung nicht gehabt. Auf Vorhalt des Richters, dassdas Publikum nicht imstande war, die vom Besch. ver-langte Mitarbeit zu leisten und infolge dessen sich demEindrücke von Beleidigungen zu entziehen, gibt Besch. an:Ich rechne mit dem höchsten Niveau eines Auditoriums.

Ad 1.) Das Wort „Itzigseuche“ wurde von mir beim Vortrage improvisiert und geprägt. Ein beleidigender Inhalt diesesWortes wäre daher erst zu beweisen. Dieses Wort existiertin seinem wörtlichen Sinn überhaupt nicht, weil es einesolche Seuche bakteriologisch nicht gibt. In metapho-rischem Sinne aber ist es keine Beleidigung, weil jederMetapher die Herabsetzung der andern zum Stoffe hat. Indiesem Sinne ausschliesslich hat z.B. Nietzsche in seinerSchrift gegen Strauss diesen „Bildungsphilister“ ge-nannt. Dieser war weit entfernt, dadurch beleidigt zu seinund die ganze Welt fasst die Metapher als eine Anspielungauf asketische, ästetische und pädagogische Entartung auf. Ich bestreite somit das Vorliegen des objektiven Tatbe-standes einer Beleidigung. Ad 2) Hierin kann ich eineBeleidigung nicht erblicken „ich schäme mich“, kehrtsich nur gegen die Kraus-Anhänger, die so beschaffen sind,dass man sich hütet, in den Verdacht zu kommen, ein sol-cher zu sein, also in die kleine Schiffgasse des Geisteszu kommen. Gegen den P.A. richtet sich das nicht. Ad 3)Zum Satze „er kommt von hinten“ fehlt der höchst be-zeichnende Zusatz, der in dem Buche „Literatur“ vonKraus an dieser Stelle vorkommt, „da kennt er sich aus“.Diese Stelle hat einen deutlichen, von Allen verstandenenHinweis auf mich.

P.A.V. stellt fest, dass nur die Informationen vomP.A. stammen, die Textierung der Klage jedoch ausschliess-lich von ihm selbst. Besch: Ad 4) Ich stelle unter Beweis

dass der P.A. seine besten Witze tatsächlich von mirhat. Ich verweise vorläufig auf 1.) „Es ist unwahr,dass Bekessy eine Milliarde bekommen hat, wahr ist viel-mehr. “ 2.) Der Wortwitz „Az Est - Ases“. BeideWitze wurden in grösserer Gesellschaft von mir kreiertund der P.A. wusste, dass ich der Autor sei, weil er inseiner „Fackel“ bei beiden Stellen hinzufügte „einer,der es doch wissen muss, sagt:“ Ad 5) „Intelligenzple-bejer“ ist keine Beleidigung, sondern ein polemischerTerminus, bei dem man so lange nachdenken muss, dass jedeBeleidigung verfliegt. Ad 6.) Die Stelle über die Dauerder Anwesenheit von Karl Kraus in Wien ist keine Beleidigung,weil es überhaupt nicht kalendarisch zu verstehen ist, son-dern nur die zeitlich gebundene kulturelle Zugehörigkeitbeinhalten will, bei der es wie ich hinzufügte, auf die ka-lendarische Richtigkeit gar nicht ankommt, Ad 7) „Vonreinen Händen kann man nicht leben“ bezieht sich natürlichnicht auf den P.A. sondern auf eine Polemik des P.A. gegenColbert, worin der P.A. selbst zum Ausdrucke bringen wollte,dass die Tatsache reiner Hände kein geistiger Besitz ist.

Ad 8.) „Wahnsinnige“ ist keine Beleidigung, sondern be-deutet nur einen, der ein monomanisches Weltbild hat. Ad 9)halte ich aufrecht und stelle unter Beweis, dass P.A. wirk-lich auf Sexualitäten angespielt hat. Ad 10) „Ases“ resp.Asesponem“, wie ich übrigens wiederholt vom P.A. genanntwurde, hat nicht den in der Klage angegebenen Sinn. AlsSachverständigen über den wahren, nicht beleidigenden In-halt dieses Wortes beantrage ich den Komiker Armin Berg und den Oberrabbiner Chajes der isr. Kultusgemeinde. Ad 11)Die Zitierung Nietzsches und das Verlesen eines Kapitels desZarathustra“ war die ethische Motivierung meines Vor-trages und die Antwort, darauf, dass P.A. am 25. Todestag

Nietzsches gegen diesen in einem Vortrag losging. DieAnalogie und Vision Nietzsches in Bezug auf den P.A. war so gross, dass ich mir dieses Kapitel gar nicht ent-gehen lassen konnte. Zu sämtlichen Punkten bemerke ich,dass mich die Person des P.A. niemals an sich interessiert,sondern nur als Exponent einer geistigen Einstellung,ähnlich wie das Buch des P.A.Heine und die Folgennicht gegen Heine gerichtet war, sondern gegen die Folgen.Wenn man meinen Vortrag im Zusammenhang lest, geht dasauch zur genüge hervor.

Zeuge Dr. Viktor Stadler, 28 Jahre in Prag, klos, I. Göttweiherstrasse 1, R.A.A., auf Antrag des Verteidigers be-eidigt. Ich war in dem Vortrag und habe zum Teil mitste-nographiert. Der Vortrag war auf das Niveau einer Ehren-beleidigung gestellt. Auf Frage des Richters, ob einTypus, z.B. der des Krausanhänger oder Kraus selbst gemeintwar, gibt Zeuge an: Die Unterscheidung ist nicht leicht,jedoch sollte vorwiegend die Person des P.A. getroffenwerden. Ich kann sowohl nach meiner Erinnerung, als auchnach meinen Aufzeichnungen bestätigen, dass sämtliche Äus-serungen so gefallen sind, wie sie inkriminiert sind. Aufdie Frage des Besch. gibt Zeuge an: Ich habe den Vortrag des Beschuldigten nicht gestört, sondern auf Ruhe gedrungen.Das Gefühl, dass ich getroffen war, habe ich nicht gehabt.Die Frage des Besch. ob Zeuge das Gefühl gehabt habe, dassein Vortrag gehalten wurde oder Beschimpfungen ausgestossenwurden, wird vom Richter nicht zugelassen. P.A.V. beantragtBeweis darüber, dass die Broschüre des Besch. mit demStenogramm nicht in allen Punkten übereinstimmt. Richter stellt fest, dass in der Broschüre an manchen Stellen ge-feilt wurde. So wurde das Wort „herzeigt“ durch „lebtersetzt.

Dr. Schnepp tritt in die Verteidigung ein.

Zeuge Dr. Ludwig Münz, 27 Jahre, mos. led. Kunsthisto-riker, III. Salesianergasse 12, Verteid. stellt fest,dass Zeuge durch vorzeitiges Aufrufen durch den Saal-diener während einer Viertelstunde im Saal anwesend war.Zeuge, n.W.E. Der Beschuldigte sagte: „Von reinen Händenallein kann man nicht leben “. Ich gebe zu, dass dieseStelle durch einen Zuruf provoziert wurde. Auf Befragendes Besch: Ich bin ein Freund des P.A., bin oft mit ihmzusammen und habe ihm über den Vortrag Bericht erstattet.Ich habe einmal einen Zuruf gemacht, wurde aber nichthinausgeworfen und nicht bedroht. Ich war über den Vortrag empört.

P.A.V. verzichtet auf weitere Zeugen.Besch. beantragt zum Punkt 7 als Zeugen über den Zusammen-hang und die Art der Replik Graf Adalbert Sternberg undAltgraf Erich Salm, sowie zum objektiven Tatbestand über-haupt. Ferner macht sich Besch. zur Erbringung des Wahr-heitsbeweises über den Vortrag als Ganzen erbötig. Fernerals Sachverständige über die Persönlichkeit des P.A. dieSchriftsteller Harden, Bahr, Blei, Heinrich und Thomas Mann,Werfel, Ehrenstein, die Professoren Einstein und Freud,Georg Engländer und Karl Hollitzer.P.A.V. spricht sich gegen die Zulassung dieser Beweis-anträge aus.

B. auf Ablehnung der Beweisanträge als unerheblich.Besch. beantragt Requirierung des Buches „Literaturdes P.A. und „Nachts“ des P.A. worin er seine Anhängerselbst als Jüngels und Itzige hinstellt. Weiters die Re-quirierung eines Feuilleton der Zeitung „Morgen“ vomFebr 1924 und der Zeugen Karl Tschuppik und Franz Blei

über die Herkunft der Witze, über den Ausdruck „Ases“als Zeugen den Tempeldiener der Heimatsgemeinde desP.A. zum Beweise, dass P.A. die Bedeutung des Wortes vonJugend auf gekannt habe. Besch. stellt weiter unter Be-weis, dass P.A. versucht habe, bei der N.F. Presse alsRedakteur unterzukommen und von dort hinausgeworfen wordensei und zitiert weiters in jüdelndem Tonfälle: „Das istso?

P.A.V. dehnt die Anklage auf die beiden letzteren Äusserun-gen aus und auf die Äusserung „kleine Schiffgasse desGeistes“.

P.A.V. verliest aus dem Buche „Literatur“ des P.A. die vom Beschuldigten zum Punkt 3 zitierte Stelle undfolgert aus dem Zusammenhänge, dass diese Stelle nichtauf den Beschuldigten abziele.

Vert. stellt in Ergänzung der vom Beschuldigten gestelltenAnträge noch folgende Beweisanträge: Einvernahmen desRedakteur Ernst Ely, IX. Canisiusgasse 12 und des Schrift-stellers Karl Tschuppik, I. Hotel Bristol, Altes Haus und die Requirierung des Feuilleton aus der Nummer desMorgen“ vom 8.II.1924 und der „Fackel“ vom April1926 zum Beweise, dass die zwei mehrfach erwähnten Witzedas erstemal vom Beschuldigten publiziert resp. geäussertwurden. Bezüglich des Ausdruckes „Intellegenzplebejer“,„Itzigseuche“ wird ein Sachverständigengutachten beantragtoder ein Gutachten der philos. Fakultät der UniversitätWien, eventuell der Schriftsteller Salten, Auernheimer,Müller oder mit Rücksicht darauf, dass P.A. mit den meistenSchriftstellern verfeindet ist, ein Sachverständigernacn Wahl des P.A.

P.A.V. spricht sich mit Rücksicht auf die einwandfreie

Ermittlung des objektiven Tatbestandes gegen die Zulassungder beantragten Beweise aus und zieht die Anklage be-züglich der Punkte „kleine Schiffgasse des GeistesP.A. strebte ein Engagement bei der N.F. Presse an undflog daselbst hinaus“ und die Äusserung „Das ist so?zurück.

B./ Auf Ablehnung des angebotenen Wahrheitsbeweises alsbeim Tatbestand der öffentlichen Verspottung unzulässigund auf Ablehnung der übrigen Beweise als unerheblich.Der Ankläger beantragt Bestrafung des Angeklagten.

Der Richter verkündet das Urteil. Nach der Rechtsmittel-belehrung erklärt der Angeklagte Berufung puncto Nichtig-keit, Schuld und Strafe.

Verteid. ersucht um Zustellung einer Urteilsabschrift.u. U.