69.2 Brief RA Max Hirschberg an Samek

Materialitätstyp:

  • Typoskript mit handschriftlichen Überarbeitungen

Schreiberhände:

  • Max Hirschberg, schwarze Tinte

Sender

DR. MAX HIRSCHBERG
KAUFINGERSTRASSE 30
MÜNCHEN, C 7
Datum: 20. April 1928
Diktiersigle: 2/H

Empfänger

An: Herrn | Rechtsanwalt Dr. Oskar Samek
Schottenring 14
Wien I
Seite von 4

Sehr geehrter Herr Kollege!

In Sachen Kraus gegen Kerr gestatte ich mir aufIhre Anfrage vom 16. April 1928 zu erwidern:

Nach Ihrer Mitteilung muß Herr Kraus Herrn Kerr in einem öffentlichen Vortrag als Schuft bezeichnethaben und dieser hat einige Tage später im BerlinerTagblatt ein Gedicht mit gröblichen Injurieen gegen HerrnKraus veröffentlicht. Nach § 199 StGB. kann der Richter,und zwar nach freiem Ermessen, beide Beleidiger odereinen derselben für straffrei erklären, wenn eine Belei-digung auf der Stelle erwidert wird. Die ratio legisist: wer beleidigt wird und auf der Stelle erwiderthandelt regelmässig im Affekt. Wem eine Beleidigung auf derStelle erwidert wird, erhält dadurch schon gewissermasseneine Strafe. Der Richter soll daher berechtigt sein,nach freiem Ermessen einen oder beide für straffreizu erklären. Eine Erwiderung auf der Stelle liegt dann vor

wenn der Beleidigte von der Beleidigung Kenntnis erhaltenhat und diese erwidert hat, solange er noch durch dieBeleidigung erregt war. Ob dies zutrifft, ist die wesent-liche Tatfrage. Die Bestimmung findet auch auf Press-beleidigungen Anwendung (RG. in Strafsachen Bd. 2 S. 181).In dieser Entscheidung setzt das Reichsgericht zurAnwendung des § 199 eine gleiche oder annähernd gleicheSchwere beider Handlungen hinsichtlich der Schuld voraus.Das wäre allerdings bei der exzessiven FormulierungKerrs wohl kaum zu bejahen. Eine Erwiderung „auf derStelle“ liegt somit vor, wenn anzunehmen ist, daß dieErwiderung noch unter Nachwirkung der Erregung über diewiderfahrene Beleidigung abgegeben wird. Ein Zwischenraumvon einigen Tagen würde dies nicht völlig ausschliessen,aber unwahrscheinlich machen; denn Kerr könnte angeben,daß er das Gedicht alsbald verfasst, sein Abdruck sichaber einige Tage hingezogen habe.

Die Straffreierklärung nach § 199 ist nichtauf formelle Beleidigungen beschränkt. Im vorliegendenFall würden aber nach Ihrer Mitteilung beiderseits nurFormalbeleidigungen vorliegen. Ich halte es für unwahrschein-lich, daß das Gericht beide Parteien, insbesondere HerrnKerr, für straffrei erklären würde. Zunächst müßte Kerr beweisen, daß er bei dem Vortrag des Herrn Kraus anwesendwar oder von der ihm widerfahrenen Beleidigung alsbaldKenntnis erlangt hat. Hat er das Gedicht, was ja allerdings

nicht anzunehmen ist, geschrieben bevor er von derBeleidigung Kenntnis erhielt, so ist selbstverständlichdie Anwendung des § 199 von vornherein ausgeschlossen.Nun ist Herr Kerr in seiner Abwehr über das Ziel dochganz gewaltig hinausgegangen. Das Gericht würde ihmdaher kaum Straffreiheit bewilligen. Andererseits kannnatürlich seitens des Herrn Kerr Widerklage erhobenwerden, da der vom § 388 StPO. erfordernde Zusammenhangder beiden Beleidigungen gegeben ist, wenn Herr Kerr sein Gedicht in Kenntnis der ihm widerfahrenen Beleidigungverfasst hat.

Bezüglich der etwaigen Klage gegen den verant-wortlichen Redakteur gilt § 20 Preßgesetz vom 7.V.1874.Danach ist der verantwortliche Redakteur als Täter zubestrafen, wenn nicht durch besondere Umstände die Annahmeseiner Täterschaft ausgeschlossen wird. Nach der herr-schenden Praxis wird eine Aneignung des strafbaren Inhaltsdurch den Redakteur dann angenommen, wenn der Verfasserin der Veröffentlichung nicht genannt wird. Der Redakteurkann sich in diesem Fall auch nicht durch die nachträglicheNennung des Verfassers straffrei machen. Andererseits istaber dadurch, daß der Verfasser eines Beitrags sich selbstin der Zeitung nennt, regelmässig die Annahme, daß derverantwortliche Redakteur die Äusserung als die eigenewidergibt, widerlegt. Es gilt hier das Gleiche wie bei denEinsendungen bei denen die Redaktion bemerkt, daß sie

die Verantwortung ablehne oder sich den Inhalt nicht zueigen mache. In diesem Fall muß gegen den Einsendervorgegangen werden. Der Redakteur könnte höchstens alsGehilfe strafbar sein. Von einer Klage gegen den Redakteurunter Weglassung des Beklagten Kerr wäre daher auf jedenFall abzuraten. Auf § 199 könnte sich dieser nicht berufen.

Mit vorzüglicher koll. HochachtungHirschberg Rechtsanwalt.

KrausKerr