72.12 [Abhandlung] von Hans Loewe

Materialitätstyp:

  • Manuskript
Datum: 22. Februar 1930
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Anmerkung. Sämtliche in Anführungszeichen gesetzte Stellen sind Werke von Karl Kraus.x) „Der MenschWer wäre, was er ist, wo Trug und Wesendie Welt vertauscht in namenloser Wahl.Der Hund:ZueignungIch bin ein Hund und kann nicht Zeitung lesen“ aus Karl Kraus, Der sterbende Mensch.An Karl Kraus, zu seiner Vorlesung „Die letzten Tage der Menschheit“ 22/23. Februar 1930von Hans Loewe, zu seiner 33. Geburtsnacht, 22./23. Februar 1930.

Ich bin an meinen Punkt gebannt.

Zufällig nennt man den Verlauf der Linie,die aus Punkt und Punkten begriffen wird.Doch: ist die Linie da, so ist der Punkt gewiß.Wo Trug und Wesen die Welt vertauscht in namenloser WahlDa gibt die Frage „Wer wäre, was er ist“ das Stichwort niemand.Dem Wesen treu, stellt Niemand sich nicht vor.Nich mein ist ja. So bleibt die Treue.Und es erscheint der Hund.Ich bin ein Hund und kann nicht Zeitung lesen.Warum sollte ein Hund nicht Zeitung lesen können?Nur, weil er andere Sorgen hat?Weil er nicht Zeitung schreibt?Weil er an Dreck nicht wittern mag?Er mag nicht, doch er kann.Denn meine Mutter hat er selbst gelesen,wie ein Mitglied eines Tierschutzvereinesseinen Hund, der zwei Tage abgängig war,vertilgen ließ! Der Herr brachte den Hundzum Tierarzt. Der lehnte den Kopf des Tieres an den Tischund öffnete den Mund der Kreatur. Dann schüttete erein Säckchen Gift hinein. Da sah das Tier die Menschen traurig anund starb.

Sprecht nicht davon, denn diese Vorstellung kehrt wieder,stell ich mir vor: Der Ober gibt dem Hund ein Zeitungsblatt zu lesen.

Treu eurer Art, mögt ihr zum Hunde sprechen, schimpfen, fluchen:er hört euch an, verspricht auch Besserung, doch glaubt,daß kein falsch an ihm ist, wo er doch sagt,daß er nicht Zeitung lesen kann.

Ihr habt gelesen, daß der Meister sagt:Mein Werk ist der Beweis: Die Presse lügt,weil Drücken gleichbedeutend ist mit Lügen.Ihr meint, daß sie auch falsche Nachricht bringt.So siehste aus! Das sagt man dort, wo Eisbein Spezialität ist.Und nirgendwo hab ich so spitze Köpfe, so spitze Ohren undso sonderbare Schnauzen gesehn wie dort.Was Wunder, wenn der Mann im Norden niesein Stückchen Schweinefleisch vergaß und die Verfügung traf,daß er bei seinem Haus erhalten bleibe, nämlich so:dreihundert Pfund im Jahr. Zehntausend Pfund in dreiundreißig Jahren.Dreihunderttausend Pfund in tausend Jahren.Vor grauen Jahren führte mich die Eisenbahndurch das Gebiet von Bratislava. Ein Mann saß im Coupéund sprach zu andern Männern von Leder und von der Kundschaft,indes das Schmalz aus aus seiner Rede triefte. Da brach die Panik los,denn eine Schar von Mißvergnügten stürmte den Waggon:In Preßburg war Entsetzliches geschehn.Der Kurs der Gänseleber war gefallen. Er fiel und fiel.Ganz Preßburg war von Lebern überschwemmt.Ich rettete mich, ehe mir die Galle platzte, und floh nach Wien.Seit damals tragen Menschen Gansgesichter. Es is ja eh in der Zeitung gestanden.So hieße der Beweis, daß, was ich sage, wahr ist.Noch stand es nicht. Noch wie Lemberg noch in unserem Besitz.Lemberg fiel erst nach Wien, das längst an Preßburg fiel.Herrje! Hat auch die Presse zugerichtet.

Nicht, daß sie auch falsche Nachricht bringt. „Wo Trug und Wesen die Weltvertauscht“, sind in der Vorstellung dessen, der die Welt besser vorstellt, Adjektivenicht vorhanden, namenlos ausgenommen. Sie sind an ihr Ziel gelangt,nicht in die Weltanschauung der Relativität, die den Kampf um die Wahrheitdurch Selbstmord entscheidet: sie blieben am Ursprung.

Was ist denn Eitelkeit? Ein Tauschgeschäftvon Wert und Geltung. Wo wird Wert geopfert?Doch von der Welt! Wo Geltung?Doch wohl von jenem, den sie eitel nennt!

Also: ein Verlustgeschäft. Zu viel Wert bezahlt für zu viel Geltung (etwa: dasErlebnis der Welt mit Schober), für eine Passivpost. Ein HundertprozentigesVerlustgeschäft. Wer es abschließt, der Träger des Grenzwertes der Dummheit,wo Dummheit keine Eigenschaft ist, sondern ein Phänomen, so greifbar undunüberwindlich wie ein Bundeskanzler.

In „Schön ist häßlich, häßlich schön“ wurde (am 9. April 1926) das erste ‚häßlich‘als Gerundium gesprochen. So war beim Kommen das Wesen gegeben, derNachsatz als Subjekt und Prädikat beglaubigt, und die Hexe, die Trug und Wesenvertauscht in namenloser Wahl, in lusterfüllter Hingegebenheit an ihr Wesendem nichtgenannten Schüler vorgestellt, der eben aus der Poesie des Irrenhausesangekommen war, wo er „die geistige Wohltat erwähnen“ müßte, bevor er sieerfassen dürfte.

Schon daselbst, weil der Umfang meiner bisherigen Lektüre zufolge anderer Sorgenals von einem beliebigen Durchschnittgymnasiasten beizeiten übertroffen erscheint, hätteich es nicht gewagt, im zweiten Absatze dieser Zueignung Denkvorgänge eineshochberühmten deutschen Schriftstellers hinter der Scene in auffallender Parallelezu einer Vererbungslinie der Kopfformen abzuführen, deren Verlauf kaum durchirgendeine abendländische Fakultät als vorhanden anerkannt sein dürfte, wärenicht ein Punkt gewiß: daß diejenigen, die an Minna von Barnhelm dasWesen des Komischen durchaus studiert haben mit heißem Bemühn, das Resultatdieser Zueignung zufolge der mathematischen Beweisführung zwar nichtvereinen können, zufolge ihrer Dummheit es aber werden verneinen wollen,weil sie sich sonst gleich umbringen müßten, infolgedessen sagen werden: Komisch.

Unwahr ist, daß das Resultat meiner mathematischen Beweisführungkomisch ist. Wahr ist, daß es tragisch ist. Unwahr ist, daß es nicht komisch ist.Wahr ist, daß es komisch ist. Unwahr ist, daß das Komische komisch ist. Wahr ist,daß das Komische nicht komisch ist. Unwahr ist, daß das Komische nicht tragischist. Wahr ist, daß das Komische tragisch ist.

Wahr ist, daß der Zeitgeist durch mathematischen Beweis ad absurdumgeführt wird: Zueignung, weil Eigentum des Geistes.

Der immer gegenwärtigund spürbar wirkend ihre Zeit durchquerte“,

die große Zeit, die er noch gekannt hat, wie sie so klein war, die wiederklein geworden ist, weil ihr dazu noch Zeit blieb, obwohl sie ihren Geistaufgegeben hat in einem Scherbengericht.

Das Ziel: die Vernichtung. Der Urspung: die Lüge. Ziel ist Urspung.Das ist das Tragische. Das ist das Komische.

Am 23. Februar soll die Tragödie der Menschheit dem Schüler vorgestelltwerden vor dem, der die Welt vorstellt als von lebenslänglichen Frohnsclavender diktatorischen Gewalt von Preßburg bevölkert.

Wahr ist, daß der Paragraph 23 dieser Febertage mein Geburtstag ist.

Ich hatte nun beabsichtigt, in die mathematische Besprechung des Weltgesetzeseinzugehen, von dem zu vermuten ist, daß es Pythagoras geahnt hat, daß erMoses gekannt hat, von dem aber gewiß ist, daß es Karl Kraus bewußt erlebt –zunächst in Beibehaltung des Themas Adjektiva, ausgehend von den Zahlenbeziehungen,die im Faust als Hexeneinmaleins genannt sind, vom Goetheschen Mephistofalsch interpretiert. Namenlose Zahlen sind eine Adjektive. Sie sind dieewigen Attribute Gottes. Sie sind die Bausteine des Tempels, aus dem eszu treiben gilt die Händler und die Wechsler.

Ich hatte beabsichtigt, den Satz:

Und der das Ziel noch vor dem Weg gefunden,so kam vom Ursprung nicht.“ Aus den abgebraischen ‚Variationen mit Wieder-holung‘, von denen in der modernen Mathematik nur der Satz bekannt ist,respektive gilt: „Die Summe der möglichen Variationen mit Wiederholung

von n Elementen der rten Klasse = nr, und alles übrige Larifariunmathematischer Wahrscheinlichkeitstheorien, als das Grundgesetzder Periodizität nachzuweisen, wo der zeitlose Satz Gottes:

Du bliebst am Ursprung. Ursprung ist das Ziel.

Der Erscheinungsform in Raum und Zeit einen anderen Ausweg nichtoffen läßt als den Weg der Periodizität, die bei mechanischen Vorgängenaußerhalb der Möglichkeit menschlicher Erfahrung liegt (zufolge der Periodi-zitätszahl 232,792.560 (dem kleinsten gemeinsamen Vielfachen der Zahlen 11, 12, 13,14, 15, 16, 17, 18, 19, 20). Außerhalb der Erfahrung, weil der einzige Gegenstand,an welchen bisher mechanischen Vorgängen entspringende ‚Variationenmit Wiederholung‘ beobachtet worden sind, die Roulette ist, die bei einerTages-Spielanzahl von 500 Spielen 1300 Jahre brauchen würde, um die durchdas Zahlungsgesetz gegebene Periodizität zu erreichen.

Obgleich in der Sekunde, die von der Setzung des letzten Schlußpunktes biszur Aufschreibung das O (in Obgleich) verging, im Neuen Wiener Journalbalkendick blöde Lettern erschienen sind ‚Karl Kraus will die Bankvon Monte Carlo sprengen‘, hatte ich doch beabsichtigt, für Herrn Karl Krausdas von mir durch ein ganzes Jahr erarbeitete mathematische Werkniederzuschreiben, es ihm also zuzueignen und anhand einer beliebigenNummer der in Wien erhältlichen Zoppoter Kasinozeitung oh. einer authen-tischen Liste abzulaufener Spielresultate nachzuweisen: daß aus der Variationder 60. Klasse oh. nach einem an einer (beliebigen Stelle aus den Tages-Spielverläufenherauszugreifenden Ablauf von 60 Spielen der weitere Verlauf mit absoluterEindeutigkeit, also mit Gewißheit bestimmbar ist.

Obgleich in der Sekunde, die von der Setzung des letzten Schlußpunktes biszum darauffolgenden O (in Obgleich) verging, unter den obgenannten Balken-lettern ein Artikel erschienen ist, den ich nicht gelesen habe, steht mir das Recht zu,ihn als eine Erscheinungsform des Phänomens, das Dummheit heßt, abzulesen. Beweis:Er schreibt unter den Balken. Pro oder contra? Bei pro muß er sich umbringen,also schreibt er contra. Das Exempel hieß: Bestimmung des Spielverlaufes unterAusschluß jeder Wahrscheinlichkeitsannhme. Mit dieser Voraussetzung habe ich esvorgestellt, nachdem ich ein Jahr lang darüber nachgedacht habe. Bei dieser Voraussetzunghat er nicht Stoff, fünf Minuten darüber nachzudenken. Also: der pure Unsinn.

Auch wenn er ein Prominenter ist. Ein Prominenter ist ein Punkt. Für dieDenkfunktion eines Punktes ist ein Linienfeld transcendental. Ein Punkt hat zu kuschenund weiterzuschreiben. Er steht unter der diktatorischen Gewalt von Preßburg.

Ich hatte beabsichtigt, den Nachweis aufzuschreiben, daß das für dieVariationen von 2 Elementen gefundene Gesetz für die Variationen allerElemente-Anzahlen, welche Potenzen von 2 sind, in Anwendung kommt,somit für den Ablauf der Welt; wobei die Grenze 60 auch dann vorhandenist, wenn die Elementezahl größer ist als 60. Einen Kommentator zu diesemSatz habe ich dem Herrn Karl Kraus nicht zu geben. Und für den Fall, daßmein Wort im heiligen Feuer der Fackel erscheint, wird es die Seelender Leser nicht verbrennen. Wer es nicht weiß, hat es nicht zu wissen.

Ich hatte beabsichtigt, die innere Unwahrheit einer Literatur darzutun,die Handlungen beschreibt und gar erfindet: als ob ein Punkt einLinienfeld beschreiben oder erfinden könnte. Der sechzehn bis achtzehnStunden im Tag das Erlebnis des in Raum und zeit Pünktlichenerleidet, ihm ist die Sprache Thema. Wie sie es ist, vermag nicht zufassen, wer das in Raum und Zeit Pünktlichen nicht inne ward.Spinoza: Er kam vom Weg und fand den Ursprung. Und der denUrsprung noch vor dem Ziel gefunden, an ihm hat sich die Periodizitäts-zahl noch nicht erfüllt.

All das hatte ich darzustellen beabsichtigt. Ich hoffte, die Aufschreibungin einer Woche bewältigen zu können. Auch war mir von der Welt, diees nicht wußte, der letzte von ihr erhältliche Geldbetrag von sechzig Schillingenzugeflossen. Wenn es auch für einen eigenen Raum nicht reichte, so hatteich doch meine bisherige Schlafstelle bis zum 15. Februar gemietet, under hätte ausgereicht, u weiter – wie bisher – an der freien Luft undan Kaffeehaustischen zu arbeiten.

Ich hatte ferner beabsichtigt, etwa am 13. Februar den Verlag „Die Fackel“mit dem Hinweis auf meine wirtschaftliche Notlage abermals um eineUnterstützung zu bitten, nachdem mir vor sieben Jahren eine solchegewährt worden ist, und ich vom Verlag „Die Fackel“ damals ein Antwort-schreiben erhalten hatte, in dem erklärt ist, daß nicht die geistige Wohltat, dieich erwähnte, sondern meine wirtschaftliche Notlage das Anrecht auf eineUnterstützung gibt.

Ich hoffte, daß mir die Unterstützung zuteil werden würde, undbeabsichtigte infolgedessen, Herrn Karl Kraus zu bitten, er möge mirzu seinen Vorlesungen am 22. und 23. Februar freien Eintritt gewähren,und ich hoffte, daß er meine Bitte erfüllen würde, weil in derBuchhaltung der Fackel der Fall nicht vorgesehen sein kann, daß einKäufer einer Eintrittskarte mit dem Gelde der Fackel Lustbarkeits-steuer entrichtet.

All das hatte ich beabsichtigt, im Dunkel gehend einer Troglodyten-welt der Erscheinungsformen, von denen nichts vorhanden ist alsBestialität, erwacht aus einem Traumstück, noch den Schrecken in denGliedern, und wissend um das Licht aus dem dunkelsten Österreich.

Ich war in meiner Darstellung bis zur Aufzeichnung des Tragischen, desKomischen gekommen: der zerschellte in dem Kaffeehaus, in dem ichschrieb, einen Lichtmangel, die Scherben krachten auf den Boden, gleichdarauf noch eine Lichtkugel, und ich schrieb das Wort ‚Scherbengericht‘.Nachdem ich den Satz vom Paragraph 23 geschrieben hate, bemerkte ich,daß – was mir bisher noch nie passiert war – eben doch hat passierenmüssen: meine Brieftasche, die die letzten fünfzig Schillinge enthielt,war abhanden gekommen.

Den Verlust meines gesamten Vermögens habe ich nicht alstragisch, nicht als komisch betrachtet. Dem in Raum und Zeit Pünktlichenlieh ich mein Ohr und erkannte, daß die Zueignung auch in der Formnur ein Fragment sein kann.

Ich leg es in des Meisters reine Händeund anvertraue mich dem Augenblick,da er mich ruft, daß ich das Werk vollende.

Hans Loewe II. Vereinsgasse 1/III.

Wien, den 6. Februar 1930.