76.1 Brief Richard Flatter an Kraus

Materialitätstyp:

  • Typoskript mit handschriftlichen Annotationen
  • Kopie

Schreiberhände:

  • Karl Kraus, schwarze Tinte

Sender

Dr. Richard Flatter
Langegasse 68
Wien, VIII.
Datum: 12. Oktober 1926

Empfänger

An: Herrn | Karl Kraus
Lothringerstraße
Wien
Seite von 2

Sehr geehrter Herr!

Die Blätter, denen dieser Brief beiliegt, sind die ersten zweiAkte einer von mir begonnenen neuen „Macbeth“-Uebersetzung.

Der bisherige Zustand des „Macbeth“ im Deutschen ist wahrhaftigempörend. Gerade dieses Stück ist von den Uebersetzern und Bearbeitern, an-!gefangen von der guten alten Tante Tieck bis zum grimmen Jordan, entwedererbärmlich vernachlässigt oder schändlich misshandelt worden. Trotzdem hät-te ich es niemals unternommen, da ich noch dazu nicht vom Bau bin und kaumüber die primitivsten Kenntnisse der englischen Sprache verfüge, mich an eineUebertragung des „Macbeth“ heranzumachen, wenn ich nicht durch das April-heft der „Fackel“ dazu gedrängt worden wäre. Wenn also meine Arbeit, ihreBeendigung vorausgesetzt, eines Dankes wert ist, so gebührt er Ihnen alsdem, der sie veranlasst hat; und so erscheint es mir auch wie selbstverständ-lich, dass Sie der erste sind, dem ich sie, abgesehen von einem kleinenFreundeskreis, vorlege.

Dass ich, gleich zu Beginn meiner Arbeit, genötigt war, die beidenvon Ihnen nachgedichteten ersten Hexenszenen neu zu bearbeiten, und wie ichmich dieser unsäglich schwierigen Aufgabe entledigt habe, würde einer sepa-raten Auseinandersetzung bedürfen, die ich mir vorbehalte, nämlich für den

Fall, dass Sie sich mit meiner Arbeit wirklich befassen sollten. Ich wäreIhnen sehr verbunden, wenn Sie sich dieser Mühe unterziehen würden. ZweiAkte ungefähr sind noch zu übertragen und es ist mir jetzt – den grösstenTeil des bisher Uebersetzten habe ich während des Sommerurlaubes erledigt –Und meiner?sehr beschwerlich, mich in den wenigen Stunden, die der Beruf mir frei lässtzur Fortsetzung der Arbeit zu zwingen. Ein Wort von Ihnen, dass sie wertsei, beendet zu werden, würde mich wohl dazu bringen, dieses verantwortungs-volle Werk über alle seine Schwierigkeiten hinweg abzuschliessen.

Mit vorzüglicher HochachtungIhr ergebenerDr. Flatter