112.30 Brief Samek an Elfride Schmaltz

Materialitätstyp:

  • Durchschlag mit handschriftlichen Überarbeitungen

Schreiberhände:

  • Oskar Samek, schwarze Tinte

Sender

Oskar Samek
Schottenring
I., Innere Stadt
Datum: 9. November 1929
Betreff: Kraus – Kerr – Wolf.
Diktiersigle: Dr.S/Fa.

Empfänger

An: Frau | Elfride Schmaltz
Halensee. | Nestorstrasse 53
Berlin
Seite von 4

Sehr geehrte gnädige Frau!

Im Auftrag des Herrn Kraus, dessenWiener Rechtsanwalt ich bin, beehre ich mich Ihnen das Folgendemitzuteilen:

Da Sie als Zeuge in seinem Prozess geladenwaren, so erklärt es sich unschwer, dass Herr Kraus vor der Ver-handlung mit Ihnen nicht Rücksprache genommen hat. Aus dem gleichenGrund richte auch ich dieses Antwortschreiben an Sie und nicht HerrKraus selbst. Woraus Sie entnommen haben, er hätte „keine Zeit ge-funden“ mit Ihnen zu sprechen, als er in Berlin war, entzieht sichseiner Kenntnis. Sollten Sie vielleicht aus einer Gesprächswendungseines Berliner Vertreters, des Herrn Dr. Laserstein, zu dieser Ver-mutung gekommen sein, so dürfte ein Missverständnis vorliegen, daausschliesslich der oben angeführte Grund für das Unterbleiben eineZusammentreffens massgebend sein konnte. Ueberdies wäre ja, da ein-mal Ihr Wissen um die Materie bekannt und die Bekundung dieses Wis-sens von Ihnen selbst und spontan angeboten war, eine Vergewisserungüber das Ausmass und die Details Ihrer Orientiertheit überflüssiggewesen, selbst wenn sie Herrn Kraus unbedenklich erschienen wäre.Schon aus dieser Feststellung mögen Sie aber, sehr geehrte gnädigeFrau, ersehen, dass Ihre Ueberzeugung: Herr Kraus wäre „nicht er-staunt gewesen darüber, dass Sie nicht vor Gericht erschienen“, vonihm keineswegs angenommen wird. Leider ist gerade das Gegenteil derFall und er möchte Ihnen sagen, dass er in dem Masse, in dem erIhren Schmerz und Ihre Entrüstung über die Blosstellung des Ver-storbenen begreiflich findet, die Unterlassung der natürlichen

Konsequenz unbegreiflich findet: dass der wichtigste Zeuge, der dieWahrheit bekräftigen und die Unwahrheit abwehren konnte, sich ab-sentiert hat. Dass Sie verehrte gnädige Frau also unterlassen haben,wozu Sie sich freiwillig angeboten hatten. Der Umstand, dass eineZeitung vorher geschrieben hatte, „die langjährige Freundin Hardens werde als Zeugin auftreten“, erscheint Herrn Karl Kraus die Fern-haltung keineswegs zu rechtfertigen, und bedauerlicherweise istjetzt nichts anderes erzielt, als dass die Zeitung Lügen gestraft wur-de. Jedes Ihrer im Gefühl so berechtigten Worte beweist Ihnen dieNotwendigkeit, dass gerade Sie den natürlichen Schritt unternehmen,der sich aus der Situation und aus Ihrem eigenen Anerbieten ergibt.Es versteht sich nach jedem Ihrer Briefe und insbesondere nach demletzten – und gerade in Anerkennung Ihrer Pietätspflicht – vonselbst, dass auf Ihre Zeugenschaft nicht verzichtet werden kann. Daaber Herr Karl Kraus das tiefberechtigte Interesse an der Feststel-lung der Wahrheit, die sie ihm selbst mitgeteilt haben, mit derschonungsvollsten Rücksicht auf Ihre Empfindlichkeit verbinden möchte,so stelle ich Ihnen anheim mir oder Herrn Dr. Laserstein Ihren Aufent-halt in der Tschechoslovakei, wo Sie ja mehrere Monate verbleibenwollen, bekanntzugeben, damit Ihre dortige Einvernahme in die Wegegeleitet werden kann und Sie vor einer Nervenpein der öffentlichenBerliner Verhandlung bewahrt bleiben, ohne doch alles Wissenswerte,was auszusprechen nicht nur ihre Zeugenpflicht ist sondern auch offen-bar von Ihnen als Freundespflicht empfunden wird, unausgesprochenzu lassen.

Herr Karl Kraus sagt Ihnen für alle freundliche Absicht auf der Erforschung des wahren Sachverhaltes durch mich seinen herzlichenDank, aber es ist selbstverständlich ganz undenkbar, dass es auch

weiterhin, wenn es schon zu der Katastrophe des erstrichterlichenUrteiles gekommen ist, bei dieser blossen Absicht verbleibe.

Mit dem Ausdruck der vorzüglichsten Hoch-achtung und in Erwartung Ihrer baldigen freundlichen Nachricht anmich oder an Herrn Dr. Laserstein zeichne ich

als Ihr sehr ergebener

Rekommandiert

Betr. KrausKerr/Wolfexp. 11.11.1929.