193.32 Artikel „Karl Kraus – sechzig Jahre“ von Emil Franzel [aus: Der Sozialdemokrat, 1934]

Materialitätstyp:

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Datum: 28. April 1934
Seite von 7

Abschrift.

Karl Kraus – sechzig Jahre

Es ist ein einzigartiges Leben, dessen sechzigsterJahresring sich heute zur Vollendung rundet. Am 28. April 1874wurde Karl Kraus zu Jičin in Böhmen geboren, in dem Hause, dasacht Jahre zuvor in der Nacht vor Königgrätz Bismark beherbergthatte. Im Alter von zwei Jahren kam Karl Kraus nach Wien, wo erseine Jugend verbracht hat und das ihm zur Heimat in einem ganzbesonderen Sinne werden sollte. Um diese Stadt, ihren Geist undihren Ungeist kreist sein gewaltiges Schaffen.

Das zweite Lebensjahrzehnt brachte entscheidende Ein-drücke: das Burgtheater, das damals wirklich noch denGlanz des „alten“ Burgtheaters hatte, von dem in späteren Tagendie Schmöcke schwärmten, die seines Geistes nie einen Hauch ver-spürt hatten, neben Shakespeare und den Klassikern aberauch im Sommertheater Offenbach und als dritten der nach-mals von Karl Kraus wieder erweckten Dramatiker Nestroy.Zugleich mit dem Wunder der Bühne erlebt der Gymnasiast das Wunderder Sprache. Vom Lateinischen her, dieser strengsten undschlichtesten aller Sprachen erlebt er das Deutsche. SeinemLehrer Sedlmayer widmet er nach langen Jahren eine er-greifende Ode:

Von strenger Milde war dieser Unterricht.Du guter Lehrer hattest den Schüler gern.Doch näher deinem reinen HerzenLag wohl das Wohl eines armen Wortes.

Latein und Deutsch: du hast sie mir bei-gebracht.Doch dank ich Deutsch dir, weil ich Lateingelernt.Wie wurde Deutsch mir, als ich deinenLieben Ovidius lesen konnte!

Der ganze Zauber dieser „figürlichen Achtziger Jahre“,die mit der Spätblüte einer noch idealistisch und idyllisch ge-richteten Bürgerkultur zusammenfielen, lebt – unvergesslich fürjeden, der es von dem Dichter einmal gehört hat – in dem GedichtJugend“:

Rückwärts mein Zeitvertreib!Jugend erst werde!Länger als ihr verbleib’ich auf der Erde!

Und weil die Blätter falb,Soll es mich laben,innen und ausserhalbFrühling zu haben!

Der österreichische Liberalismus war um jene Zeit po-litisch bereits im Abstieg. Geistig beherrschte er noch die Pres-se und mit ihr das gesamte literarisch-künstlerische Leben. SeinGebetbuch ist die „Neue Freie Presse“, sein Hohepriester MoritzBenedikt. Gegen den Mann und sein Blatt nimmt der junge KarlKraus 1899 den Kampf auf. Er gründet „Die Fackel“.

Was ein Menschenalter später grosse Mode und ein wohl-feiles Schlagwort wurde, der Kampf gegen den Liberalismus, daswar um die Jahrhundertwende die Sache einer kleinen Schar geisti-ger Menschen. Es ist einer der stärksten Beweise gegen den Ras-senwahn und Rassendünkel der neudeutschen Barbarei, dass die bei-den bedeutendsten Vorkämpfer in diesem Ringen Juden waren:Karl Kraus und Gustav Landauer. DerLiberalismus in seinem Niedergang, das ist die Lüge vom Fort-schritt, die Lüge von der bürgerlichen Kultur, die Lüge von derfreiheitlichen Gesinnung. Karl Kraus erfasste sie wie alle Er-scheinungen von der Sprache her. In dem einmaligen, nie trügen-den Empfinden für die Einheit von Wort und Begriff, für die „Wahrheit“ in solchem höchsten Sinne, liegt sein ganzes Genie.

Mit schlafwandlerischer Sicherheit greift er aus dem Meer vonWorten, das die Presse tagtäglich gebiert, die sinnfälligenLügen heraus; ohne sie zu lesen, weiss er, was die Blätter brin-gen, ohne sie gehört zu haben, errät er aus einer einzigenPhrase den Tonfall der Kulturhändler und Berufslügner. Wenn erüber Männer und Erscheinungen aus den verschiedensten geistigenRegionen im ersten Augenblick der flüchtigen Begegnung in denSpalten und auf dem Strich der Zeitung Bescheid weiss, dieCharlatane demaskiert lange, ehe sie es selbst tun, so ist dasGeheimnis seiner Universalität, seiner visionären Kraft undseines nie fehlenden Urteils, dass er durch den Schein der Dingeihr Wesen, an der Sprache, die sie sprechen und – grösseresVerbrechen – auch schreiben, ihren Charakter erkennt. Er hatwenig Vorläufer in seiner Art, keinen der ihm gleicht. Er istdurchglüht von der Leidenschaft des Revolutionärs, er erinnertschon in seinen ersten satirischen Essays an Lassalle, esist kein Zufall, dass unter Sozialisten zuerst der alte Lieb-knecht ihn entdeckt, der Wahrheitsfanatiker und Rebellgegen alle liberalen Halbheiten.

Karl Kraus sieht und verkündet, dass der Fortschrittin den Abgrund führt, dass die bürgerliche Kultur ein Geschäft,dass die bürgerliche Freiheit ein Aushängeschild für die Knecht-schaft der Armen, die Gesinnung der Liberalen eine Ware ist. DerSprachkritiker wird auf Schritt und Tritt Kritiker der Gesell-schaft. Der gegen die Sünde am Wort rebelliert, wird notwendigzum Rebellen gegen die Sünde an der Menschheit.

Aber der Satiriker kann und wird nie Politiker sein.Er lebt in einer anderen Sphäre. Er kann das Vorbild reinerMenschlichkeit geben und leben:

Noch hält der Glaube, dass ein Beispiel frommtdem Rest von Menschheit, der den Glauben rettetaus dieser Schmach.

aber sein Verhängnis bleibt doch, wie Kierkegaard essah, dass ein Einzelner seiner Zeit nicht helfen, dass er nurausdrücken kann, dass sie untergeht. So werden alle politischenSympathien, die er hegt und die ihm dargebracht werden, beiKarl Kraus zu Episoden. Galt er vor dem Krieg als konservativ,ohne jemals wirklicher Parteigänger der Christlichsozialen zusein, so wird er nach dem Krieg nicht minder zu Unrecht derSozialdemokratie zugezählt, bis auch diese scheinbare Gemeinschaftin unerbittlichen Kampf mündet. Er lässt sich nicht einordnen, erschliesst keine Kompromisse, er war für jede Gruppe, die seinWort auf ihre Fahnen schrieb und mit ihm werben wollte, ein ge-fährlicher Freund. Politik ist ihm ein übles Geschäft und er wärenicht der grosse Satiriker, der unbestechliche Richter über dieZeit, wenn er Sinn für das entwickelte, was in der Sphäre derPolitik wahrscheinlich ebenso nötig wie in der seinen unzulässigist: der Ausgleich zwischen Wollen und Können, das Abwägen desEinsatzes gegen den möglichen Gewinn. Bismark hat die Politikdie „Kunst des Möglichen“ genannt. Für die Satire – die dichteri-sche Satire, die nicht Gebrauchskunst, handwerkliche Fertigkeitim Dienste eines Auftraggebers, sondern sittliches Gebot undBerufung ist – gibt es den Begriff „möglich“ gar nicht. Siepostuliert ein Ideal und prophezeit den Untergang derer, diezu schwach sind, es zu verwirklichen. Das ist ihr Lebenselementund darin liegt ihre sittliche Bedeutung für die Menschheit. Demeinzelnen Politiker wird auch Karl Kraus gerecht, wenn er diePersönlichkeit in ihm erkennt, in seinem Tonfall denMut zur Wahrheit und die Echtheit der Ueberzeugung fühlt. Lassalle

Liebknecht, Viktor Adler, Lenin, aber auch – so wenig bindetdiesen grossen Einzelgänger eine Disziplin, so wenig lässtsich der Diener am Wort bei ebendiesem nehmen – Bismark oderFranz Ferdinand von Este nennt er mit Respekt und Sympathie.Es ist der kleinliche Trick seiner Feinde, ihm seine Wider-sprüche vorzuhalten. Es trifft ihn nicht, so wenig wieder andere Vorwurf der Eitelkeit, mit dem sich die Eitelsten anihm zu rächen suchen:

Wo Leben sie der Lüge unterjochten,war ich Revolutionär.Wo gegen Natur sie auf Normen pochten,war ich Revolutionär.Mit lebendig Leidendem hab ich gelitten.

Wo Freiheit sie für die Phrase nutzten,war ich Reaktionär.Wo Kunst sie mit ihren Können beschmutzten,war ich Reaktionär.Und bin zum Ursprung zurückgeschritten.

Er hat den Krieg kommen sehen und den tiefen Sinn der„grossen Zeit“ erkannt. „Die letzten Tage der Menschheit“ wirdman noch lesen, wenn niemand mehr wissen wird, wer Remarque war.Hunderte seiner Zeitgenossen werden durch sein Wort und in sei-nem Werk fortleben. Nach Jahrhunderten wird man Benedikt undBekessy, Kerr und Grossmann, Erzherzog Friedrich und Schober für seine Erfindung, für Possenfiguren und Ausgeburten eineraristophanischen Phantasie halten, nicht zu unterscheiden vonden anderen Marionetten seiner gigantischen Bühne, den Hinsichtlund Ramatamer, Flamingo von Fahnengold und Nowotny von Eichen-sieg.

Er hat, wenige Jahre nach dem Krieg, die Wiederkehrdes Grauens prophezeit „ in dieser kleinen Zeit … die wiedergross werden wird“. Sie kam und er schwieg. Warum? Die Ueber-lebenden werden es einmal erfahren. Die ihn totgeschwiegen haben

und alle, die einem übermenschlichen Grauen mit dem über-kommenen Cliché, dem Unmenschlichen mit den Kinkerlitzchendes Allzumenschlichen, dem Tod mit Schmucknotizen und denMördern mit Mikoschwitzen entgegentreten, sie alle haben keinRecht, ihn zu fragen, ihn anzuklagen. Wer sein Werk und ihndurch das Werk kennt und liebt, zweifelt nicht, dass Karl Kraus weder aus Vorsicht noch aus Gleichgültigkeit schweigt.

Unter den Sozialdemokraten, die Karl Kraus einmalverehrt und ihm zugejubelt, ihn als Kronzeugen zitiert und ihnaufs höchste gerühmt haben, gibt es viele, die es nicht ver-winden konnten, dass sein Weg seit Jahren nicht der Weg derPartei war. Sie tragen schwer an dem Leid, das er ihnen ange-tan hat wie vielen Anderen vorher und wohl manchen, die nach-kommen werden. Sie verstehen nicht, dass es das Element diesesDichters ist, einsam zu sein und seinen Weg allein zu gehen.Viele hassen ihn so heiss, wie sie ihn einst geliebt haben.Tragik des satirischen Dichters, des ungern gehörten Prophetendes Unterganges, Tragik seiner Gefolgschaft!

Er ist nie ein Sozialdemokrat ge-wesen. Aus dem Missverständnis, er könnte es jemals sein, ausseinem eigenen Irrtum, über eine kleine Gemeinde hinaus un-mittelbar auf die organisierte Masse wirken zu können, sindhässliche Folgen entstanden. Sie sollten heute den Blick fürseine einzigartige Grösse nicht trüben.

Er war immer ein Sozialist, der uner-bittliche Hasser der Bürgerwelt, der Freund der Schwachen, derAnwalt der Menschlichkeit und ein Mann, dessen Unversöhnlichkeitgegenüber der bestehenden Ordnung nur der Gegenpol seiner

glühenden Sehnsucht nach einer besseren Welt gewesen ist. Indieser Sehnsucht, in jenem Hass trafen und treffen ehrlicheSozialisten sich mit ihm, über alle Grenzen hinweg, die zwischenseinen und ihren Bezirken aufgerichtet sind. Wenn jemals seinReich kommt, wird es auch das unsere sein und nur in unseremwird sein Werk leben. Versinkt die Welt „im deutschen Wahn“,dann war er doch für Alle, für jene, die ihn lieben, und dieanderen, die ihm grollen: „ das letzte deutscheWunder, das sie rief!

Emil Franzel.