193.55 Äußerung [Schriftsatz in Sachen Kraus ca. Strauss] (Kraus und Samek an das Obergericht in Prag)

Schreiberhände:

  • Oskar Samek, rote Tinte
  • Oskar Samek, Bleistift
  • Karl Kraus, Bleistift
  • Johann Turnovsky, blauer Stift
  • Oskar Samek, schwarze Tinte

Materialitätstyp:

  • Durchschlag
Datum: 4. Dezember 1935
Seite von 12

Bei der Hauptverhandlung vom 27. November1935 hat das Gericht über Antrag der Verteidigung den Beschlussgefasst, die Akten dem Obergerichte in Prag zur Entscheidungüber den gestellten Delegierungsantrag vorzulegen.

Zu diesem Beschluss und zu dem Antrag derVerteidigung überreicht der Privatkläger die folgendeAeusserung.

Wie aus dem Akte hervorgeht, hat sich derAngeklagte zur Erbringung eines Wahrheitsbeweises auf die Not-wendigkeit der Vorlesung einer ganzen Bibliothek berufen, be-stehend aus den Fackelheften Nr. 766–770 (92 Seiten), 771–776 (112 Seiten), 777 (16 Seiten), 778–780 (56 Seiten),787–794 (208 Seiten), 890–905 (315 Seiten), ferner denDramen „Die letzten Tage der Menschheit“ (792 Seiten),Die Unüberwindlichen“ (158 Seiten) und der GedichtsammlungZeitstrophen“ (204 Seiten).

Dieser ungeheuerliche Versuch, ein solchesangeblich zu Beweiszwecken dienendes Material zu produzieren– ein Versuch, der allein schon die Verschleppungsabsicht er-kennen lässt –, hat die Veranlassung gegeben, dass der Ange-klagte – lange nach der überschrittenen Frist – einen „Dele-gierungsantrag“ gestellt hat, weil die Kosten der Uebersetzungdieser zum Beweis herangezogenen Schriften an die 100.000.–– Kc.betragen würden, die er, ein fix besoldeter Beamter, der füreine Familie mit zwei Kindern zu sorgen habe, aufzuwenden nichtin der Lage sei, „aus welchem Grunde es dem Verteidiger unmög-lich gewesen sei“, in der vom Gericht gewährten Frist dem Auf-trage, die im Beweisbeschluss vom 1.3.1935 angeführten Schrift-stücke in beglaubigter Uebersetzung in die Staatssprache vor-zulegen, zu entsprechen.

Diese monströse, gewiss noch nie dagewese-ne Beweisaufnahme soll lediglich zu dem Zwecke vorgenommen wer-den, um darzutun, dass der Standpunkt des Privatklägers imFackelheft vom Juli 1934 (890–905) in einem absoluten Wider-

spruch zu all dem stehe, was der PrivatklägerJahrzehnte hin-durch verkündet und geschrieben hat“. Dieser angebotene Wahr-heitsbeweis über Widersprüche in der Meinung des Privatklägers ist aber ein Monstrum, einzig und allein darauf angelegt, vonvornherein Verwirrung zu stiften und den im Umfang minimalenTatbestand einer gewöhnlichen Ehrenbeleidigung hinter einer un-möglichen, völlig deplazierten Debatte verschwinden zu lassen.Der Angeklagte wurde nicht deshalb zur Verantwortung gezogen,weil er dem Privatkläger Widersprüche vorgeworfen hat – in deminkriminierten Artikel kamen solche Behauptungen, die auchgar nicht beleidigend oder anklagbar wären, überhaupt nicht vor –,sondern er wurde zur Verantwortung gezogen, weil er den Privat-kläger ganz bestimmter ehrloser Handlungen bezichtigte, wie z.B.dass die Zeitschrift „Die Fackel“ eine Hetzschrift sei; dass essich bei dem Privatkläger um einen Verfall handle, nämlich umeinen moralischen Verfall, wie aus einem späteren gleichfallszu inkriminierenden Artikel hervorgeht, einen Verfall, der inder Tiefe des Absturzes wohl den Gerhart Hauptmanns übertreffe;dass er versucht habe, die tschechoslovakischen Behörden gegendie österreichische Emigration und gegen einzelne Schriftstelleraufzuputschen (eine Behauptung, zu deren Beweis das Vorlesen einerStelle von wenigen Zeilen genügen wurde, die aber das gerade Ge-genteil ergeben wird); dass er den Ruhm erwerben könnte, derZutreiber des österreichischen Henkers geworden zu sein; dasser sich dazu versteige, einen ausgewachsenen Zuchthäusler(gemeint ist der österreichische Vizekanzler Starhemberg) überLassalle zu stellen (es handelt sich ausschliesslich um eineBemerkung über eine oratorische Begabung) u.s.w. u.s.w. Zuge-geben, dass sämtliche behaupteten oder nicht behaupteten Wider-sprüche und noch mehr im Geisteswerk des Privatklägers, dasvorliegt und in das alle Welt Einsicht nehmen kann, wahr wären,so berechtigt kein Widerspruch, so „höchst auffallend“ er demAngeklagten erscheinen mag, ohne Beweis der unlauteren Motivefür diesen Widerspruch, den Privatkläger zu beleidigen. Ein

richtig geführter Wahrheitsbeweis, der zur Entlastung desAngeklagten führen könnte, hätte also diese unlauteren Motiveund einzig und allein diese zu beweisen, etwa dass der Privat-kläger für seinen angeblichen Gesinnungswechsel in irgend einerForm bestochen worden sei, dass er ihn aus Feigheit, Streberei,Stellensucht, aus dem Drang nach einer sichtbaren Position imGeistesleben oder dergleichen oder aus irgend einem anderenschäbigen Grund welcher Art immer vorgenommen habe. Der angeb-liche „ Gesinnungswechsel“ als solcher kann vor keinem Gerichteder Welt, in keiner Sprache der Welt, zum Gegenstand einesWahrheitsbeweises gemacht werden, weil der Vorwurf des Ge-sinnungswechsels ohne den Vorwurf des unlauteren Motivs niemalsGegenstand eines Ehrenbeleidigungsprozesses bilden kann, da erkeine Ehrenbeleidigung bildet. Selbst wenn bereits in dem be-leidigenden Artikel (und nicht erst später als Verschleppungs-manöver) behauptet worden wäre, es läge ein krasser Gesinnungs-wechsel vor, dann wäre zwar der angebotene Beweis mit dem Vor-wurf kongruent, ein solcher Beweis müsste aber vom Gericht ab-gelehnt werden, weil dieser Vorwurf keine Beleidigung ist, undder Angeklagte müsste freigesprochen werden. Zu einer Beleidi-gung wird der Vorwurf (der allenfalls die Ernsthaftigkeit desAutors problematisch macht, was aber noch lange keine Beleidi-gung ist) einzig und allein durch die Motive, und einzig undallein für diese muss der Angeklagte die Beweise anbieten, Be-weise, die in jeder Sprache und vor jedem Forum binnen einerStunde überprüfbar sind und vor dem Gerichte in der Staats-sprache nicht einmal eines Dolmetschers bedürften.

Der Antrag des Angeklagten, es mögen 1953Seiten aus den Schriften des Privatklägers zur Verlesung gelan-gen, aus welchen dann hervorgehen soll, dass ein Gesinnungs-wechsel bei ihm vorliegt, hat mit der Sphäre des Wahrheitsbe-weises, die sich lediglich auf die Motive für den Gesinnungs-wechsel zu erstrecken hätte, nicht das Geringste zu tun, und der

Angeklagte und sein Verteidiger sind sich selbstverständlichdessen auch ganz und gar bewusst; ihr Manöver mit dem Nachweisdes Gesinnungswechsels hat denselben Zweck wie ihr weiteresManöver mit dem Angebot der Uebersetzung dieser Schriften indie Staatssprache, nämlich den Zweck, die klare und kurzeSache zu trüben und zu verschleppen. Die Tatsache, dass es ab-solut unmöglich ist, die vom Angeklagten angeführten Schriftendes Privatklägers ins Tschechische zu übersetzen, musste ihmund seinem Verteidiger schon bei Stellung des Antrages voll-kommen bewusst gewesen sein; dies ist so klar wie der Sachver-halt selbst. Insbesondere aber musste der Angeklagte wissen,dass er nicht imstande sein werde, die Kosten der Uebersetzungaufzubringen, weil er für zwei Kinder zu sorgen hat, und erhatte, wenn er ein ehrlicher Prozessgegner wäre, diesen angeb-lichen Notstand dem Gerichte sofort bekanntzugeben. Anstatt-dessen liess er sich eine sechsmonatige Frist für die Ueber-setzung gewähren, um nach Ablauf derselben zu erklären, dasser „in der vom Gerichte gewährten Frist“ dem Auftrage, dieUebersetzungen vorzulegen, nicht entsprechen könne. Aus dervom Angeklagten gewählten Begründung der Nichtvorlage „in dervom Gerichte gewährten Frist“ geht klar hervor, dass dieseProzessführung auf der Taktik der Verschleppung aufgebaut ist.Hier wird ganz offenbar der Versuch einer Irreführung durcheine Zusammenfügung disparater Vorstellungen, durch einen Ton-fallschwindel, unternommen. Die Armut des Angeklagten erlaubtihm weder in der vom Gericht gewährten Frist noch in irgendeiner Frist, die Uebersetzungen vorzulegen (es wäre denn, erhätte die Aussicht auf eine Millionenerbschaft oder einenHaupttreffer gehabt). Zu dieser Ueberlegung musste er, wennschon nicht bei oder vor der Hauptverhandlung, bei welcher ihmder Auftrag erteilt wurde, so doch mindestens nach einer Wochekommen, und der Angeklagte hätte, wenn er wie gesagt ein ehr-licher Prozessgegner wäre, die moralische Verpflichtung gehabt,sofort dem Gerichte diesen Umstand bekanntzugeben. Anstattdes-

sen hat er die Frist verstreichen lassen. Dies zeigt schlagenddie Unaufrichtigkeit der gegnerischen Prozessführung.

Aber nicht nur die Uebersetzung der Schrif-ten des Privatklägers ist absolut unmöglich, auch die blosseVerlesung derselben in diesem Prozesse wäre ebenso wie sie ab-surd ist, technisch einfach undurchführbar. Der Angeklagte ver-langt zum Beweise eines Widerspruchs, der, solange die Motivenicht unlautere sind, völlig gleichgiltig wäre, die Verlesung von1953 Buchseiten, eine Verlesung, die, wenn man selbst einenVerhandlungstag mit zirka sechs Stunden veranschlagt, und an-nimmt, dass die Richter so schwierige und vermutlich nicht ge-rade plastische Vorlesungen in dieser Dauer überhaupt ertragenkönnten, bei einer tätlichen Ration von 60 Seiten 32 Verhand-lungstage, also zirka sechs Wochen dauern wurde. Die Stellungder Beweisanträge erfolgt also in der offenbaren Absicht, dasVerfahren zu sabotieren, in einer Sache, die nun schon längerals ein Jahr dauert, die Urteilsfällung zu verzögern und dasGericht über den wahren Sachverhalt hinwegzutäuschen.

Davon abgesehen würde aber auch die Höheder Kosten der beglaubigten Uebersetzung keinen gesetzlichenGrund für eine Delegierung bilden. Gemäss § 62 St.P.O. sind dieGerichtshöfe zweiter Instanz berechtigt, „aus Rücksichten deröffentlichen Sicherheit oder aus anderen wichtigen Gründen aus-nahmsweise dem zuständigen Gerichte Strafsachen abzunehmen undsie einem anderen Gerichte derselben Art in ihrem Sprengel zu-zuweisen“. Es müssen also, abgesehen von Rücksichten der öffent-lichen Sicherheit, wichtige Gründe vorliegen, welche die aus-nahmsweise Abtretung eines Straffalles von dem zuständigen Ge-richte an ein zu delegierendes Gericht begründet erscheinenlassen. Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, dass in diesemFalle die Voraussetzungen hiefür nicht vorliegen. Der Dele-gierungsantrag stützt sich auf die Behauptung, dass der Ange-klagte nicht in der Lage sei, die Kosten der Uebersetzung der

von ihm zum Wahrheitsbeweis angebotenen Schriften zu tragen.Der Angeklagte Dr. Emil Strauss ist aber in Wahrheit nur dasverantwortliche Organ eines des gut fundierten Blattes einer Partei,die über viele Millionen verfügt und ihn zum verantwortlichenRedakteur ihres Hauptorganes bestellt hat. Nicht der Angeklagte wäre verpflichtet, die Kosten der Uebersetzung zu tragen, son-dern sein Blatt, seine Partei. Der Angeklagte wird sich vergeb-lich bemühen, jemandem glaubhaft zu machen, dass er für diemit seiner Stellung als verantwortlicher Redakteur verbundenenmateriellen Folgen selbst aufkommen müsse, und kein mit denPresseverhältnissen nur einigermassen Vertrauter wird ihm glau-ben, dass die Kosten, die mit der Führung dieses Prozesses ver-bunden sind, tatsächlich von ihm getragen wurden. Wenn aberschon eine materielle Erwägung ausschlaggebend sein soll, näm-lich für die Delegierung, so wäre doch wohl (für die Vorbringungdes Materials in welcher Sprache immer) mit weit mehr Recht zufragen, wie der Kläger, der bloss Ehrenschutz begehrt und dernicht die Wohltat einer parteiamtlichen Vertretung geniesst,dazu kommt, die Kosten einer sechswöchigen Debatte, ob sie inPrag oder in Leitmeritz angeführt wird, zu bezahlen, und zwarselbst im Falle seines Obsiegens, da ja die Kosten wegen derangegebenen Bedürftigkeit des Angeklagten uneinbringlich wären.Wenn der Delegierungsantrag des Angeklagten überhaupt einenanderen Sinn hat als den der Sabotage, so lediglich den, dasihm offenbar angenehmere Gericht in Leitmeritz, das er selbstvorschlägt, über seine Straftat urteilen zu lassen, (weil er– gewiss unbegründeterweise – bei diesem Gericht entweder einegünstigere Einstellung für ihn als Sozialdemokraten oder einegegen den Privatkläger vorhandene Einstellung als dem Bekämpferalldeutschen und hitlerdeutschen Wesens erwartet.)

Man kann keinesfalls die Ansicht vertreten,dass die im § 62 St.P.O. als Voraussetzung für die Delegierungausgestellten wichtigen Gründe vorliegen, wenn es sich darumhandelt, die Durchführung von Beweisen zu erleichtern, die für

die Entscheidung des Straffalles nicht nur ohne eine Spur vonBelang sind, sondern im Gegenteil ihn verwirren. Denn es sollnicht der moralische Beweggrund der Widersprüche, sondern es sol-len die Widersprüche selbst bewiesen werden, die das Gericht nicht im geringsten interessieren. Wie absurd eine Beweisauf-nahme aber die „Widersprüche“ der Fackel wäre, geht schon ausdem Umstand hervor, dass das Thema eben dieser „Widersprüche“seit jeher ein Hauptmotiv der Fackel bildet. Es gibt sogar eineigenes Buch des Privatklägers, das den Titel führt „Sprücheund Widersprüche“. Die Dummheit und Schlechtigkeit dieses Vor-wurfs wird seit Jahrzehnten mit dem vollen Bewusstsein derscheinbaren Widersprüche, deren gemeinsame geistige und morali-sche Wurzel der flache Leser nicht erkennt, stigmatisiert,und gerade das Hereinziehen der „Widersprüche“ in das Prozess-thema beweist den Trick der gegnerischen Prozess-führung, die klare Absicht, diesen Prozess ad kalendas graecashinauszuschieben. Hiefür existiert aber ein geradezu schlagen-der Beweis. Was nämlich von den Werken des Klägers einzig zuübersetzen wäre und die Uebersetzung für den Gerichtszwecklohnte, ist ausser den sich durch Jahre erstreckenden zahllosenvehementen Satiren gegen die heillose Haltung der österreichi-schen Parteigenossen des Angeklagten der 31 Seiten umfassendeArtikel aus dem Fackelheft vom Oktober 1932, „Hüben und Drüben“,in dem die Haltung erschöpfend dargestellt wird. Dieser Ar-tikel hat das Blatt des Angeklagten nicht gehindert, die Persondes Privatklägers bei seinen wiederholten Vorlesungen in Prag in der enthusiastischesten Weise zu feiern, (was gewiss eingrösserer Widerspruch im Verhältnis zu seinem heutigen Betragenist, als die angeblichen Widersprüche des Privatklägers, alsseine angeblich verschiedenen Haltungen gegenüber der öster-reichischen Sozialdemokratie). Aber mehr als das. Das Blatt desAngeklagten hat zweieinhalb Monate nach dem tragischen Februar-ereignisse, das der Privatkläger ausschliesslich aus dem tief-

sten Mitgefühl mit der armen Arbeiterschaft beurteilt hat,als dem Opfer gewissenloser Führer, Politiker und Journalisten,die sie nutzlos, aussichtslos und auf die Gefahr einer mittel-europäischen Katastrophe just in den Tagen, da Dollfuss in derfurchtbarsten Notwehr gegen die einbrechenden Hitlerhordenstand, geopfert haben, um sich selbst in (eine selbstverständlichund ausdrücklich vergönnte) Sicherheit zu bringen, – das Blattdes Angeklagten hat also zweieinhalb Monate nach dem Ereignissein der zeugenmässig nachweisbaren vollen Kenntnis der Ansich-ten des Privatklägers (die er in Prag Parteigenossen des Ange-klagten und anderen Politikern gegenüber vertrat), einenwahren Hymnus zu dessen 60. Geburtstag veröffentlicht. DiesesFaktum bildete nicht nur an und für sich einen Widerspruch,der weit grösser ist als der dem Privatkläger vorgeworfene,sondern der Aufsatz enthält geradezu eine sensationelle Ue-berführung der Verlogenheit dieser Prozessführung. Er ent-hält nämlich in der Spalte … nichts geringeres als eineverächtliche Abfertigung jener Sorte von Leuten, die demHerausgeber der Fackel Widersprüche vorwerfen. Das Blatt schreibt:Es ist der kleinliche Trick seiner Feinde, ihm seine Wider-sprüche vorzuhalten. Es trifft ihn nicht, so wenig wie derandere Vorwurf der Eitelkeit, mit dem sich die Eitelsten an ihmzu rächen suchen:

Wo Leben sie der Lüge unterjochten,war ich Revolutionär.Wo gegen Natur sie auf Normen pochten,war ich Revolutionär.Mit lebendig Leidenden hab ich gelitten.

Wo Freiheit sie für die Phrase nutzten,war ich Reaktionär.Wo Kunst sie mit ihrem Können beschmutzten,war ich Reaktionär.Ich bin zum Ursprung zurückgeschritten.

Hier, in diesem Gedicht – und es führtden Titel „Mein Widerspruch“ – ist gerade aus den ersten Zeilender zweiten Strophe „ Wo Freiheit sie für die Phrase nutzten,war ich Reaktionär“ die ganze Rechtfertigung der Brandmarkungeines politischen Treibens enthalten, das parasitär an der

Freiheit schmarotzt, und eben die Freiheit durch ihre halb-schlächtige Haltung einem Hitler preisgegeben hat. Dies, ebendies, und nichts anderes ist der Inhalt jener Seiten 170–315des Aufsatzes vom Juli 1934, die die Journalistik von derSorte des Angeklagten in Wallung gebracht haben und zu demWiderspruch, den hundertmal Gepriesenen zu schmähen. ZahlloseMale wird in diesem Aufsatz selbst auf das unsinnige Motiv von denWidersprüchen hingewiesen, und kein Gedankengang ist in ihmenthalten, der das Blatt des Angeklagten jemals verhinderthat, dem Autor zu huldigen und mit dem insbesondere der Autordes Artikels vom 28. April 1934, Herr Dr. Emil Franzel, nichtin zahllosen Gesprächen mit Begeisterung einverstanden gewesenwäre. Nach all dem Ausgeführten könnte es sich also einzig nurdarum handeln, irgend welchen, wenn auch nur den allergering-fügigsten unsauberen Beweggrund für Ansichten, frühere oderspätere, die miteinander in äusserem oder angeblichem Wider-spruch stehen, vor Gericht nachzuweisen. Alles andere ist einegeistige Debatte, die in ihrer unerträglichen Ausdehnung nichteinmal vor einem aussergerichtlichen Forum vorstellbar wäre.Wenn nicht sogar die Abweisung eines solchen Ansinnens an dieJustiz, die leider schon eine gewisse Ausführlichkeit erfordert,eine arge Zumutung an die Geduld der Richter bedeutete, somüsste man gleich in dieser Darlegung auf das Absurdum ein-gehen, dass der Widerspruch als solcher eine Ehrenminderungbedeute t n soll . Vielleicht genügt es aber, die ganze Torheit oderUnlauterkeit dieses Gedankens an der krassesten Vorbringungdes Angeklagten zu demonstrieren. Er findet ein Gravamen darin,dass derselbe Autor, der einen vehementen Kampf gegen den ehe-maligen Wiener Polizeigewaltigen Schober geführt hat, das Juli-heft der Fackel schreiben konnte, welches eine Würdigung desvon Nationalsozialisten ermordeten Bundeskanzlers Dollfuss ent-hält. Ganz abgesehen davon, dass Schober erweislicher und er-

wiesener Massen ein Schrittmacher der Nazibewegung inOesterreich war, wäre zu sagen und zu bekennen: der Privat-kläger hätte, wenn eben dieser Schober an Dollfuss’ Stelleden furchtbaren Notwehrkampf gegen die Hitlergefahr zu führengehabt hätte und ihn auch nur mit einem Teilchen von dessenEnergie geführt hätte, selbst dem Schober des 15. Juli 1927den Vorzug vor einem in Oesterreich herrschenden Hitler ge-geben, seinen Kampf gegen diese Gefahr, die nicht nurOesterreich sondern ganz Mitteleuropa bedroht, unterstützt,und eine verblendete österreichische Sozialdemokratie, dieihm dabei in den Rücken gefallen wäre, ganz so gebrandmarkt,wie es im Juliheft 1934 geschehen ist. In dieser Ansicht weisser sich eins mit den vernünftigen Politikern in der Tschecho-slovakei, die längst erkannt haben, dass diese Abwehr auchdas vitale Interesse ihres Staates ist. Es wäre, wenn wegensolcher Angelegenheiten eine Beweisführung zugelassen würde,nachzuweisen, dass nach dem Februarereignisse der tschecho-slovakische politische Schriftsteller Peroutka in Prag nachden mündlichen Darlegungen des Privatklägers, die den gleichenInhalt hatten wie das Juliheft 1934 der Fackel, von diesem ihm völlig überzeugt, zu einer Zeit, wo noch völlige Verwirrungin der Beurteilung der österreichischen Vorgänge herrschte,das Wort gebraucht hat: „Da sieht man, der Dichter ist dereinzige Realpolitiker “, und dass am Schlusse derselben De-batte Carel Capek die Worte gesprochen hat: „Man wird IhnenWidersprüche vorwerfen, aber der Widerspruch ist in denen,die Ihnen diesen Vorwurf machen. “ Wenn man nun aber sogarbereit wäre, sich zu all diesen Widersprüchen und noch vielmehr zu bekennen, wozu bedürfte es der Vorbringung einesMaterials, das diese Widersprüche sichtbar macht, solangederen Motive nicht als unehrenhaft nachgewiesen werden können?Kein Gericht kann die Richtigkeit der jeweiligen Ansicht über-

prüfen, nur deren Echtbürtigkeit (Wahrhaftigkeit) und Lauter-keit, solange ein etwa bestehender Verdachtsgrund nicht durchBeweise erhärtet wird. Keinen dieser Widersprüche würde derPrivatkläger und vor keiner Macht der Welt zurücknehmen, zujeder Meinung, die sich aus einer unbeeinflussten und unbe-einflussbaren Betrachtung der jeweiligen Zeitumstände ergibtund die sich für den oberflächlichen Betrachter ändern kann,wie sich die Zeitumstände ändern, bekennt er sich nach wie vor,heute und immer, die Wurzel seiner Betrachtung ist dieselbegeblieben, er vermag nicht einmal die Hoffnung auf einenSozialismus zurückzunehmen, die er gehegt hat, weil sich die österreichische Sozialdemokratie gegen die Greuel des Weltkriegesschließlich mit Mut gestellt hat, denn diese Ansicht und Hoffnung war da-mals berechtigt. Wogegen er sich durchgehend und konsequentwehrt, ist, dass gegen ihn Meinungsexekutoren auftreten, dieim Namen der Freiheit Gewalt anwenden.

Was das Wesentliche dieses Prozesses bil-det, wie die inkriminierten Beleidigungen gemeint waren undwelcher Wahrheitsbeweis zu führen wäre, wird noch anschaulicherdurch eine abermalige Beleidigung des Blattes gegen den Privat-kläger in der Nummer vom 30. November 1935. Von ihm wird dortdirekt ausgesagt, dass er das traurige Beispiel des moralischenVerfalls hinterlasse. Der Täter wird sich für diese und andereBeleidigungen der Notiz zu verantworten haben. Die Notiz zeigt deutlich, dass dem Privatkläger auch in dem inkriminiertenfrüheren Aufsatz Unmoralität vorgeworfen werden sollte. Ebendiese Unmoralität und sonst nichts hätte der Angeklagte auchin dem vorliegenden Prozess zu beweisen. Es ist schlechthinunvorstellbar, dass ein Gericht darüber zu urteilen hätte, obeins angebliche Meinungsänderung gegenüber einer Partei odereiner Person, welche doch den reinsten Motiven entsprungensein kann, demjenigen, über den man die Meinung geändert hat,zur Beleidigung der Ehre das Recht gäbe. Wollte man diesen den Prozess auf dieses abseitige Terrain führen und in diesem

Ausmasse durchführen, so müsste, abgesehen von der Tatsacheder angeblichen Meinungsänderung, auch der ungeheure Beweisdurchgeführt werden, in welcher Art sich die Partei in kri-tischen Augenblicken verhalten hat. Einem solchen Beweissteht aber ein Gerichtsverfahren niemals offen.

Alles in allem muss also gesagt werden,dass es sich ganz und gar nicht um einen „wichtigen Grund“handelt, aus welchem nach der Vorschrift des § 62 St.P.O. eine prozessuale Ausnahmsverfügung erfolgen darf. Der Privat-kläger beantragt daher:

das löbliche Obergericht in Prag möge unter ausdrücklichemHinweis auf die Ueberflüssigkeit der Beweisaufnahme über eineMeinungsänderung, solange nicht Beweise für deren Unlauter-keit angeboten werden, über den Antrag der Verteidigung inder Weise beschliessen, dass die anhängige Strafsache demzuständigen Gerichte in Prag nicht abzunehmen und keinemanderen Gerichte zuzuweisen ist.