193.98 Brief RA Johann Turnovsky an Samek

Materialitätstyp:

  • Typoskript mit handschriftlichen Überarbeitungen
  • Typoskript mit handschriftlichen Annotationen

Schreiberhände:

  • Johann Turnovsky, schwarze Tinte
  • Karl Kraus, Bleistift

Sender

JUDr. JOHANN TURNOVSKY | Advokat
Vodičkova 33
Prag
Datum: 24.IV.1936
Betreff: Kraus – Sozialdemokrat

Empfänger

An: P.T. | Herrn Dr. Oskar Samek
Reindorfgasse 18
Wien – XIV
Datum: 25.APR.1936
Seite von 6

Sehr geehrter Herr Doktor.

Ich teile Ihnen höflichst mit, dass mirheute die schriftliche Ausfertigung des Urteiles zugestelltwurde, mit welchem Dr. Emil Strauss gemäss § 259 Abs.2 St.P.O. freigesprochen worden ist. Die Frist zur Aus Durch führung der Nich-tigkeitsbeschwerde endet daher am 1.V., resp. 2.V.1936, dochwill ich die Beschwerdeschrift spätestens am 30. d.M. überrei-chen. Ich gebe Ihnen die Begründung des Urteiles im Nachfol-genden wieder und bemerke, dass die zwei Judikate, welche bis-her bei den Prager-Gerichten über diese Rechtsfrage vorliegen,tatsächlich analoge Fälle betreffen. Es handelt sich um eineEntscheidung des Kreis-Strafgerichtes, als Berufungsgerichtesin einem nicht durch die Presse begangenen Ehrenbeleidigungs-falle, der in I. Instanz vor dem Straf-Bezirksgerichte in Prag verhandelt wurde und dann um eine Entscheidung des Obergerich-tes über eine Berufung gegen ein vom Pressesenat des Kreis-Straf-gerichtes erlassenes Urteil, wobei es sich allerdings nur um die? Uebertretung des § 4 der Pressgesetznovelle gehandelt hat.

Da mir gleichzeitig der Beschluss zuge-stellt wurde, mit welchem Herr K. zum Ersatze der Kosten desStrafverfahrens und der Rechtsvertretung des Angeklagten schul-dig erkannt worden ist, habe ich vorsichtshalber sogleich einen

Kostenrekurs an das Obergericht verfasst, den ich fristgemässüberreichen werde. Auf die Nichtigkeit in der Kostenfrage wer-de ich natürlich auch in der Nichtigkeitsbeschwerde hinweisen,nicht ohne auf die Absurdität der erstinstanzlichen Entscheidunghinzuweisen, die darin besteht, dass man durch die Unterlassungdes Vorbehaltes die Straftat für gesühnt und alle anhängigenStreitigkeiten für liquidiert erachtet, trotzdem aber dem An-xgeklagten den Anspruch auf Kostenersatz zuerkennt, weil er frei-xgesprochen wurde, wobei es sich ja um einen Freispruch lediglichaus dem Grunde handelt, dass seine Tat gesühnt und alle Ehrenbe-leidigungen zwischen beiden Parteien liquidiert sind.Es folgt also die Urteilsbegründung:

„Die Bestimmung des § 18 des Gesetzes Nr. 108ex 1933 trägt zwar die Ueberschrift „Gegenseitige Klagen“ alleinaus der Textierung des ersten und zweiten Absatzes dieser Bestim-xmung geht hervor, dass sie für beide Parteien gilt, sie mögen nungegenseitige Klagen überreicht haben oder nur eine von ihnen, d.i.der Privatkläger in dem Falle, wenn sich der Beleidigte bis zumVergleiche oder bis zum Schlusse des Beweisverfahrens einigerstrafbarer Handlungen nach diesem Gesetze gegen den Privatklägerschuldig gemacht hat, sodass das Klagerecht des Privatklägersgegen die konnexen Handlungen des Angeklagten erlischt, wenn ersich die Verfolgung nicht ausdrücklich vorbehalten hat, vorausge-setzt, dass er bis zum Abschlusse des Vergleiches oder bis zumSchlusse des Beweisverfahrens von der Handlung oder von der Per-son des Schuldigen Kenntnis erlangt hatte.

Die Bestimmung des § 18 Ges. 108/33 steht

auf dem Standpunkte, dass alle zwischen den Parteien gegen dieEhre verübten Delikte durch den Vergleich gleichzeitig und miteinem Schlage liquidiert sein sollen. Einzig diese Auslegungentspricht auch dem Begriffe des Vergleiches. Ein Vergleich be-deutet ein gegenseitiges Nachgeben, eine gegenseitige Ausgleichungdes gestörten Gleichgewichtes zwischen den Parteien, eine Erneu-erung des gegenseitigen ruhigen gesellschaftlichen Zusammenlebens,der gegenseitigen Wertschätzung und Achtung. Dieses angedeuteteZiel könnte nicht erreicht werden, wenn der Vergleich zwischenden Parteien nicht absolut wäre. Es soll kein Schatten zwischenden Parteien bestehen bleiben, nur über den ausdrücklichen Wunsch!der Parteien könnte – durch den Vorbehalt – eine Ausnahme erfolgen,dass nämlich irgend ein den Parteien bereits bekannter Fall geson-dert liquidiert werden soll, jedoch ohne Unterschied, ob in diesembereits die Verfolgung aufgenommen worden ist oder nicht. Es hättekeinen Zweck und wäre im Widerspruch mit dem Sinne des Gesetzes,wenn ein Unterschied gemacht werden sollte zwischen bei Gerichtschon anhängigen Fällen und solchen, in welchen es zur gerichtli-chen Verfolgung noch nicht gekommen ist und wollte man für dieersteren Fälle den Vorbehalt nicht verlangen, dagegen für die letz-teren, abgesehen davon, dass unter dem Begriffe „verfolgen“ dieVerfolgung von der Überreichung des Strafantrages an mit Ein-schliessung aller prozessualen Handlungen des Verfolgenden biszum Schlusse des Beweisverfahrens verstanden werden muss.

Die einzige Ausnahme, welche das Gesetz fürFälle statuiert, in welchen einer der Streitparteien die strafbare

Handlung oder die Person des Schuldigen noch nicht bekannt ist,kann auf andere Fälle nicht ausgedehnt werden, insbesondere nichtzu Gunsten jener Partei, welcher mit Rücksicht darauf, dass sie selbstdie Anregung zur Strafverfolgung gegeben hat, die Details desgestörten Rechtszustandes bereits bekannt sind. Gerade von einersolchen Partei kann man umsomehr verlangen, dass sie sich das Ver-folgungsrecht vorbehält, weil sie, wenn sie sich schon zur Straf-verfolgung entschlossen hat, zu beurteilen vermag, ob es mit ihrenInteressen in Einklang zu bringen ist, dass sie auch diesen Fallauf einmal bei einer anderen Gelegenheit liquidiert. Im Uebrigenhat auch die erwähnte Ausnahme keinen anderen Zweck und Sinn, alsdurch die präventive Einschränkung eines möglichen Entweichens bessere Voraussetzungen für den Abschluss eines redlichen Verglei-ches zwischen den Gegnern zu schaffen.

Was die Bestimmung des § 18 des Ges. 108/33 be-trifft „… so kann die eine Partei die andere wegen einer nachdiesem Gesetze strafbaren Handlung verfolgen“, muss auf die Be-stimmung des § 6 Absatz 5 hingewiesen werden, nach welcher auch der ein Strafausschliessungsgrund ebenfalls auf die Person anzuwendenist, welche für die Vernachlässigung der pflichtgemässen Sorgfaltbei der Herausgabe der Druckschrift verantwortlich ist, durchderen Inhalt die strafbare Handlung begangen wurde. Wenn auchdurch die Bestimmung des § 18 Ges. 108/33 der Strafausschliessungs-das Erlöschen des Verfolgungsrechtes des Angeklagten nicht aus-drücklich als Strafausschliessungsgrund angeführt ist, muss dochmit Rücksicht darauf, dass durch die Unterlassung der dort ange-führten prozessualen Handlung das Erlöschen des Verfolgungsrech-tes für den Privatkläger eintritt, a contrario die Unzulässigkeit

der Verfolgung des Angeklagten als Strafausschliessungsgrund an-gesehen werden. Aber wenn auch diese Erwägung nicht richtig wäre,kann der Sinn des ersten Absatzes des § 18 nicht zum Nachteiledes verantwortlichen Redakteurs ausgelegt werden, wenn diese Be-stimmung für den Autor gilt.

Mit Rücksicht auf das oben Angeführte gelangtdas Kmetengericht zu der Ueberzeugung, dass der Privatkläger,da er sich beim Abschlusse des Vergleiches vom 27. Januar 1936sub G.Z.Tk XIX 366/36 die Strafverfolgung des Angeklagten fürdiese Strafsache nicht vorbehalten hat, sein Verfolgungsrechtwegen dieser Strafsache eingebüsst hat, weswegen der Angeklagte von der Anklage gemäss § 259 Absatz 2 St.P.O. freizusprechen war.

Was den Schlussantrag der Anklage betrifft, derAngeklagte möge ohne Rücksicht auf den Ausgang des Prozesses zumErsatze jener Kosten verurteilt werden, welche er durch die Be-antragung von Beweisen in der offenen Absicht verursacht hat,das Verfahren hinauszuziehen, kommt die Bestimmung des § 34 Abs. 6Ges. 108/33 nicht in Betracht, da aus den Akten festgestellt wird,dass der Angeklagte keine Beweise, die er hätte früher geltendma-chen können, angeboten und durchgeführt hat.“

Ich arbeite bereits an der Beschwerdeschriftund bitte Sie, sehr geehrter Herr Doktor, wenn Ihnen noch irgend-welche Argumente einfallen sollten, mir diese möglichst bald be-kanntzugeben.

Mit den besten Grüssen und in vorzüglichsterHochachtung Ihr ergebener:Dr. Turnovsky

KrausSozialdemokrat 25. APR. 1936