193.99 Brief Samek an RA Johann Turnovsky

Materialitätstyp:

  • Durchschlag mit handschriftlichen Annotationen

Schreiberhände:

  • Karl Kraus, rote Tinte

Sender

Oskar Samek
Reindorfgasse
XIV., Penzing
Datum: 28. April 1936
Betreff: Kraus – Sozialdemokrat
Diktiersigle: Dr.S/Fa.

Empfänger

An: Herrn | Dr. Johann Turnovsky, Advokat
Vodickova 33
Prag II.
Seite von 8

Sehr geehrter Herr Kollege!

Mit bestem Dank auch von seiten des HerrnK. bestätige ich den Empfang Ihrer freundlichen Briefe vom 22.,23. und 24. April 1936. Ich beantworte diese Briefe zusammenfassendnach den folgenden Gesichtspunkten:

1.) Berichtigungen. Herr K. schliesst sich der Ansicht an, dassgegen das ‚Prager Tagblatt‘ die Berichtigungsklage aussichtslosist und wird diesen Fall in der Weise erledigen, dass er diesemBlatt einen Brief schreiben lässt, der die Niederträchtigkeit derVerweigerung der Berichtigung bei der Aufnahme einer offensicht-lich falschen Notiz darstellt.

An die ‚Prager Presse‘ könnte die Berichti-gung vielleicht ohne den ersten Absatz noch einmal gesendet wer-den, mit einem Begleitbrief, ungefähr des folgenden Wortlautes,den ich vorschlage und in welchem Herrn Laurin die Möglichkeitgegeben wird, auch den letzten Satz auszulassen, wenn er diesenSatz nicht als dem Gesetz entsprechend erachtet:

Hochgeehrter Herr! Ich danke Ihnen für Ihre freundlicheAbsicht, aber ich könnte beim besten Willen, gegen einen Artikel,der mit dem Schein der Richtigkeit in jedem Wort und zwischenden Worten von Unwahrheiten strotzt, keine andere Berichtigungoder Entgegnung verfassen. Da Sie die Berichtigung der Stellevon der Beendigung beanstanden, so schicke ich die Berichtigungohne diese. Ich wäre auch damit einverstanden, dass Sie denletzten Satz, obwohl ich auf diesen Wert lege, weglassen, wobeiich Ihnen mitteilen möchte, dass die LIDOVE NOVINY die Berichti-

gung vollständig gebracht hat. Mit vorzüglicher Hochachtung.“

In der Berichtigung an den ‚Sozialdemokratkönnte vielleicht zur Verdeutlichung des Grundes des Freispruchesder letzte Satz in der folgenden Weise geändert werden:

„Wahr ist vielmehr, dass Dr. Strauss lediglich aus demformalen Grund freigesprochen wurde, weil sich der PrivatklägerKarl Kraus in einem zweiten von ihm gegen den gleichen An-geklagten angestrengten Prozess, in welchem sich dieser zurVeröffentlichung einer Ehrenerklärung wegen ähnlicher Beleidi-gungen, zur Bezahlung der Verfahrens- und Anwaltsspesen undzu einer Busse zu Gunsten der Arbeitslosen der HauptstadtPrag verpflichtete, die Weiterverfolgung der im ersten Prozessunter Anklage gestellten Beleidigungen nicht vorbehalten hat.“

Herr K. gibt auch zu bedenken, ob es nichtmöglich wäre, mit der Klage auf Widerruf gegen den ‚Sozialdemokratvorzugehen, und erbittet sich Ihre Meinungsäusserung. Ich selbsthalte diese Klage nicht für ausgeschlossen. Allerdings ist es schwer,den Zusammenhang zwischen dem Bericht und einer Beeinträchtigungdes Erwerbes oder Fortkommens logisch herzustellen. Zu erwägenwäre auch, ob dieser Prozessbericht nicht zum Gegenstand einerneuen Ehrenbeleidigungsklage gemacht werden kann, denn die Behauptung,Kraus habe gegen das österreichische Proletariat und seine helden-haften Schutzbündler Stellung genommen, war in dem Artikel vom10. August 1934 nicht enthalten und stellt eine ganz neue Beleidigungdar. Eventuell könnte sogar die Wiederholung der früheren Beleidi-gungen im Zusammenhang mit der falschen Behauptung, Dr. Strauss seivon der gegen ihn erhobenen Anklage vollinhaltlich freigesprochenworden, womit offenbar zum Ausdruck gebracht werden soll, dass erdie Wahrheit der Beleidigungen erwiesen habe, als neue Beleidigungaufgefasst werden. Auch darüber erbitte ich mir Ihre geschätzteMeinungsäusserung.

In der Berichtigung für den ‚Tagesbotenmöchte ich vorschlagen, gleich den ersten Absatz auszulassen, weil

es mir wirklich bedenklich erscheint, das Wort „beendet“ zumGegenstand einer Berichtigung zu machen, wenn später ausdrücklichmitgeteilt wird, dass eine Nichtigkeitsbeschwerde erhoben wurde,so dass auch dem simplern Leser klar werden kann, dass es sich nurum eine Beendigung in der ersten Instanz gehandelt hat. Für diebeiden anderen Punkte der vorgeschlagenen Berichtigung möchte ichim Einvernehmen mit Herrn K. kleine Aenderungen vorschlagen, dieich auf den von Ihnen eingesendeten Entwürfen verzeichnet habe.Ich sende Ihnen sämtliche Berichtigungen wieder zurück und bitteSie, sehr geehrter Herr Kollege, sie mir gelegentlich wieder ein-zusenden, damit ich sie meinem Akt anschliessen kann.

2.) Nichtigkeitsbeschwerde. Zu dieser sind Herrn K. und auch mireinige verwendbare Argumente eingefallen, die ich Ihnen mitteile,wobei die Auswahl selbstverständlich Ihnen überlassen bleibt.Da ich nicht weiss, wie Sie Ihre Nichtigkeitsbeschwerde aufbauenwerden, bringe ich sie ohne jede Ordnung vor, wie sie mir geradeeinfallen.

Der § 18 kann nicht auf den verantwortlichenRedakteur bezogen werden, sondern nur auf den wirklichen Täter.Er sagt ausdrücklich, dass er nur bei einer strafbaren Handlungin Betracht kommt, die nach diesem Gesetz (Ehrenschutzgesetz)zu behandeln ist. Im § 23 des Gesetzes heisst es ausdrücklich,dass die allgemeinen Bestimmungen mit den in diesem Abschnittangeführten Abweichungen im Verfahren über eine Privatanklagewegen Uebertretung der Vernachlässigung der pflichtgemässen Sorg-falt bei der Herausgabe einer Druckschrift, durch deren Inhaltein Vergehen nach diesem Gesetz begangen wurde, zur Anwendungkommen sollen. Der § 18 gehört nicht zu den allgemeinen Bestim-mungen dieses Abschnittes, nicht zu den Verfahrensbestimmungen,

sondern ist eine materiellrechtliche Bestimmung, ist also aufden verantwortlichen Redakteur nicht anwendbar. Die Berufung aufdie Bestimmung des § 6, Absatz 5 ist abwegig. Der Richter selbstgibt zu, dass es sich nicht um einen eigentlichen Strafausschlies-sungsgrund handelt. Er nimmt aber an, dass das Erlöschen des Ver-folgungsrechtes gegenüber dem Täter durch die Unterlassung desVorbehalts „a contrario“(?) die Verfolgung des angeklagten verant-wortlichen Redakteurs unzulässig mache, was als Strafausschliessungs-grund angesehen werden müsse. Diese Argumentation könnte jedochnur dann stattfinden, wenn der Täter mitgeklagt wäre und schon nach-gewiesen wäre, dass beide Artikel von demselben Täter herrühren.(Wie denn, wenn zwei verschiedene Täter vorhanden wären?) Hier aber,wo dies nicht feststeht, musste der Strafausschliessungsgrundrespektive der Hemmungsgrund für die Weiterverfolgung dem verant-wortlichen Redakteur originär und nicht erst abgeleitet zustehen,was eben, wie oben dargestellt wurde, nicht der Fall ist.

Nicht nur die Ueberschrift zum § 18 „Gegen-seitige Klagen“ lässt darauf schliessen, dass der Gesetzgeber die-sen Paragraphen nur bei gegenseitigen Beleidigungen Anwendung fin-den lassen wollte, sondern auch die Textierung. Die Worte „… sokann die eine Partei die andere Partei wegen einer anderen der-artigen strafbaren Handlung …“ setzen doch offenbar, dem Titelgemäss, Gegenseitigkeit voraus und sind unverständlich, wenn sieauf den Fall angewendet werden, dass dieselbe Partei dieselbe ande-re Partei wegen einer anderen derartigen strafbaren Handlung ver-folgen will, denn für diesen Fall ist schon die Bestimmung des § 57St.P.O. vorhanden, wo der Angeklagte die Aeusserung verlangen muss.Vorgesorgt soll offenbar für den Fall werden, dass der Beschuldigtesich bereitwillig in einen Vergleich einlässt, mit der Mentalre-

servation, vom Privatkläger Verzeihung zu erlangen und ihn dannwegen einer ihm bekannten Beleidigung bestrafen zu lassen. (Siehedas Wort „Entweichen“ im Motivenbericht!) Als Ueberraschungsmomentwäre zu verwenden, dass sogar die Definition des Erstrichters selbst über den Begriff des Vergleiches im Ehrenbeleidigungspro-zess, so abwegig sie an und für sich ist und so sehr sie sich be-müht, das Gegenteil zu beweisen, geradezu beweist, dass es sich umgegenseitige Beleidigungen handeln muss. Denn der Vergleich beieinseitiger Beleidigung, bei welcher der Privatkläger auf die Be-strafung des Angeklagten durch das Gericht verzichtet, sondern sieim eigenen Wirkungskreis in Form einer Busse, einer Ehrenerklärungund Kostenzahlung auferlegt, bedeutet nicht „ein gegenseitigesNachgeben, eine gegenseitige Ausgleichung des gestörten Gleichge-wichtes zwischen den Parteien, eine Erneuerung des gegenseitigenruhigen gesellschaftlichen Zusammenlebens, der gegenseitigen Wert-schätzung und Achtung“. (Die ganze komische Sentimentalität, be-sonders die Stelle mit dem „Schatten zwischen den Parteien“ müssteerörtert werden.) Hauptsächlich hat sich der Richter durch dieAnwendung des Plurals gefangen. Denn dies ist nur bei gegenseiti-gen Beleidigungen der Fall oder denkbar, bei welchen sich beideBeleidigten und Beleidiger ausgleichen. Bei Fällen, wie in demvorliegenden, tritt an Stelle der Strafe die Busse, die Ehrener-klärung, aber von einer Erneuerung eines gegenseitigen ruhigengesellschaftlichen Zusammenlebens, der gegenseitigen Wertschätzungund Achtung kann natürlich (bei publizistisch-politischen Fällen)keine Rede sein. Der beste Beweis dafür ist der Bericht des‚Sozialdemokrat‘ über den Verlauf der Verhandlung, der vielleichtam besten dem Oberstgerichte vorgelegt wird, und aus dem zur Ge-

nüge bewiesen wird, wie wenig Eindruck die sentimentale Erklärungdes Gerichtes erster Instanz auf den Angeklagten gemacht hat. Dieganze Begründung ist ein Residuum aus dem Gedankengang, den einexrichtige Interpretation des Gesetzes, die auf Gegenseitigkeit,mit sich bringt. Denn nur aus der richtigen Interpretation desGesetzes heraus kann ein Richter sagen, dass bloss über den aus-drücklichen Wunsch der Parteien, durch den Vorbehalt eine Ausnahmeerfolgen könnte, oder dass die einzige Ausnahme, welche das Ge-setz für Fälle statuiert, in welchen einer der Streitparteien diestrafbare Handlung oder die Person des Schuldigen noch nicht be-kannt ist, auf andere Fälle nicht ausgedehnt werden könne. Woanders als bei gegenseitigen Beleidigungen könnte der Fall eintre-ten, dass unabhängig von der Beklagten- oder Klägerrolle, also vonder Parteienrolle, den Parteien ein Vorbehalt zustünde. Wie solltedenn dem einseitig Beklagten ein Einfluss auf den Vorbehalt zu-stehen? Für die gegenteilige Auffassung: dass es sich um zweiKlagen desselben Klägers handelt, ist diese Interpretation absurd,ja unmöglich, wie überhaupt die ganze Begründung. Nur zwei, dieeinander geklagt haben, können so erfüllt von der Moral der richter-lichen Begründung und so versöhnt auseinandergehen (und vielleichtauch streitende Nachbarsleute). Man müsste vielleicht auch daraufhinweisen, dass die trockene Ehrenerklärung des Blattes, mit derman sich begnügt hat und die vorgelegt werden kann, nicht dieSprache von Sentimentalität enthält, wie sie in der moralischenAuseinandersetzung des Erstrichters zum Vorschein kommt. Bei einersolchen moralischen Auffassung dürfte es überhaupt keinen „Vorbe-halt“ geben. Dass es einen solchen Vorbehalt geben kann, zeigt, dasses sich bei einem Vergleich in Ehrenbeleidigungsprozessen nicht umein Sentiment, sondern um eine rein praktische Austragung handelt.

Es sollte vielleicht auch darauf hingewiesen werden, dass inder Erklärung, die der ‚Sozialdemokrat‘ am 27. Januar 1936 abge-xgeben hat, er nur die in der ausdrücklich bezeichneten Nummer 279der Zeitung vom 30. November 1935 aufgestellten beleidigendenBehauptungen über Karl Kraus zurückzieht. Es ist implicite daringelegen, dass die anderen beleidigenden Behauptungen in denfrüheren inkriminierten Artikel vom 10. August 1934 nicht zurück-gezogen, nicht in den Vergleich einbezogen wurden und daher Ge-genstand weiterer Verfolgung sein können und sollen. Das warwohl auch die Ansicht des Angeklagten, der sich nach Abschlussdas Vergleiches durch Mittelspersonen um einen Vergleich auchin dieser Sache beworben hat und der auf die gerichtliche Ge-legenheit verwiesen wurde, dort diesen Vergleich zu erlangen.Die Definition des Vergleiches als ein gegenseitiges Nachgeben,als eine gegenseitige Ausgleichung des gestörten Gleichgewichteszwischen den Parteien, eine Erneuerung des gegenseitigen ruhigengesellschaftlichen Zusammenlebens, der gegenseitigen Wertschätzungund Achtung hat Herrn K. geradezu bestürzt, da sie ihn sozusagenseelisch verpflichten sollte, mit dem ‚Sozialdemokrat‘ in diesegemeinsame Stimmung zu kommen, die auf keiner Seite vorliegt.Höchstens könnte von einem Nachgeben, von nichts anderem Psychi-schen, insoferne die Rede sein, als eine Strafe mit Busse undsachlichem Widerruf vertauscht wird. Sie werden sich vielleichtauch noch erinnern können, dass bei der letzten Verhandlung, aufdie Frage des Richters, ob eine Ehrenerklärung von seiten desSozialdemokrat‘ abgegeben werden könnte, diese abgelehnt wurde,mit der Begründung, die frühere Ehrenerklärung sei abgedruckt undbei dieser Gelegenheit verspottet worden; der Oberste Gerichtshof habe dies für unfair erklärt. Darauf hat der Verhandlungsleiter

gesagt, dies sei nicht richtig, der Oberste Gerichtshof habe blossgesagt, dass, wenn vereinbart werde, eine Ehrenerklärung in einembestimmten Blatt abzudrucken, es unfair sei, diese Erklärung auchin anderen Blättern abzudrucken. Der Richter selbst hat gar nichtsdaran gefunden, dass eine Ehrenerklärung vom Empfänger derselbenbesprochen und das Verhalten der Gegenseite einer abfälligen Kritikunterzogen werde. Er musste aber bei seinen Begriffen von einemxVergleich ein derartiges Verhalten ablehnen, das ja wirklich beieiner Versöhnungsaktion (nach gegenseitiger Beleidigung) unstatt-haft wäre.

Ich hoffe, dass Sie noch rechtzeitig in denBesitz des Briefes gelangen und manches aus ihm verwenden können.

Bei dieser Gelegenheit übersende ich Ihnenauch den Durchschlag des vorbereitenden Schriftsatzes, den Herr K. und ich in dem Prozess gegen die Brünner Arbeiterzeitung verfassthaben und der Sie sicherlich sehr interessieren wird.

Ich möchte Ihnen noch mitteilen, dass SieHerr K. gestern abend telephonisch angerufen hat, wovon Sie wahr-scheinlich unterrichtet sind, lediglich um Ihnen mitzuteilen, dasser am 29. und 30. April 1936 in Brünn sein wird, wo Sie eventuellGelegenheit hätten, mit ihm persönlich zu sprechen. Ich glaube aber,dass dies nicht notwendig sein wird.

Indem ich Sie herzlichst grüsse und auch diebesten Grüsse des Herrn K. übermittle, zeichne ich mit vorzüglicherkollegialer Hochachtung

Ihr ergebener

4 Beilagen.Express. Rekommandiert.