2.9 Berufungsausführung des Privatanklägers

Schreiberhände:

  • Oskar Samek, roter Stift
  • Frieda Wacha, schwarze Tinte
  • Bleistift

Materialitätstyp:

  • Durchschlag mit handschriftlichen Überarbeitungen
  • Durchschlag mit handschriftlichen Annotationen
Datum: 2. Februar 1923
Seite von 11

U.I. 3/23

An dasStrafbezirksgericht IWien

Privatankläger: Karl Kraus, Schriftsteller in Wien,III. Hintere Zollamtsstrasse 3

Beschuldigter: Karl Schiffleitner, verantwort-licher Redakteur der „Reichspost“ in Wien VIII.Strozzigasse 8

wegen Verweigerung einer Berichtigung

einfach

Berufungsausführung des Privat-anklägers.

Der Unterfertigte legt gegen das Urteil des Strafbezirks-gerichtes I in Wien als Pressgericht Geschäftszahl UI 3/23/4 Berufung ein und begründet diese wie folgt:

Das Strafbezirksgericht I hat den verantwortlichen Redak-teur der „Reichspost“ von der Verpflichtung freigesprochen, denPunkt 7 der Berichtigung zu veröffentlichen, mit der Begründung, dass dieser keine Berichtigung mitgeteilter Tatsachen sei, „da der Um-stand, dass eifrige Anlehnungen etwas zur Wahrscheinlichkeitmachen‚ eine Meinung und keine Tatsache ist, selbst wenn es richtig sein mag, dass dieser Mei-nung Tatsachen zugrunde liegen.“ Durchdiese Einschränkung hat das Gericht zu erkennen gegeben, dasses sich der Argumentation der Klage, so wenig es sonst auf sie ein-geht, nicht verschlossen hat. Indem es aber solches tut und alsoanerkennt, dass einer Meinung eine Tatsache zugrundeliegen kann,so hat es auch anerkannt, dass diese Meinung nur scheinbar,nur für den oberflächlichen Blick eine Meinung ist. Denn jederMeinung liegt ja eine Tatsache „zugrunde“, indem doch eine Meinungnur über eine Tatsache gebildet werden kann. Um eine derartige Tat-sache aber handelt es sich hier keineswegs, sondern vielmehr umeine solche, die in der Meinung enthalten, die mit ihr ge-radezu kongruent ist. Wenn das Urteil einräumt, dass essich hier um eine solche Tatsache handelt – und um eine anderekann es sich ja nicht handeln, auf die andere müsste ja gar nichterst hingewiesen werden –, so kann es nicht mehr an dem Meinungs-wesen jener Worte festhalten, sondern müsste vielmehr zugeben,dass der Meinungsstoff, die Meinungsfarbe der Worte un-möglich über ihren tatsächlichen Charakter hinwegtäuschen können.Es ist gewiss bezeichnend, dass das Urteil hier zu der Formulierunggreift: „der Umstand, dass eifrige Anlehnungen etwas zurWahrscheinlichkeit machen.“ Diesen „Umstand“ nennt das Urteil eineMeinung“, was er nach der Natur des Wortes nie sein kann. „Umstand“

bedeutet nach jedem deutschen Wörterbuch nichts anderes als „dieVerhältnisse, unter denen etwas geschieht“. Damit alleinist schon der volle tatsächliche Charakter des Prozesses, durchden die Anlehnungen etwas zur Wahrscheinlichkeit machen, also derBehauptung jenes berichtigten Artikels, dokumentiert. Selbst wennman nicht an und für sich eine „eifrige Anlehnung“ und nicht anund für sich eine „Wahrscheinlichkeit“ berichtigen könnte, so wä-re doch der Umstand, dass eine eifrige Anlehnung eine Wahr-scheinlichkeit ergibt, also die Tatsache, dass dies derFall ist, berichtigungsfähig. Aber auch an und für sich liegen hierBehauptungen vor, die dem § 23 P.G. zugänglich sind. Das Urteilverwechselt durchaus den äussern Wortcharakter der Bestandteileder Behauptung mit dem Wesen der Behauptung. Wenn das Gesetz wirk-lich nur beabsichtigt hätte, die handgreiflichste und konkretesteTatsächlichkeit berichtigungsfähig erscheinen zu lassen, dann könntesich die Presse mit leichter Verklausulierung die handgreiflichstenund konkretesten Unwahrheiten leisten, ohne je eine Berichtigunggewärtigen zu müssen, und gerade der tückischesten Methode, derendrastisches Beispiel eben jener Punkt 7 des berichtigten Artikelsder „Reichspost“ ist, wäre Vorschub geleistet. Wie der § 26 desP.G., so würde auch der § 23 durch eine solche Auffassung illuso-risch gemacht werden. Eine Zeitung, der es der § 23 zweifellos er-schwert, zu behaupten, dass X, der neben Y einherging, ihn bestoh-len hat, brauchte dann bloss zu schreiben, die verdächtige Nähe, inder sich X neben Y aufhielt, mache es wahrscheinlich, dass er ihnbestohlen hat, und das Strabezirksgericht I würde erkennen, derUmstand, dass eine verdächtige Nähe den Diebstahl wahrscheinlichmacht, sei eine Meinung und keine Tatsache.

Es ist aber von allergrösster prinzipieller Wichtigkeit,dass eine solche Entscheidung überprüft werde, damit die Hoffnungnoch Aussicht habe, dass die gefährlichste Form einer Tatsachenbehauptung, die durch die indirekte Methode nicht das geringstevon ihrer wahren Beschaffenheit einbüsst, fassbar sei. Es sei hier

auf den Kommentar von Lisst hingewiesen, der ganz ausdrücklicheine solche Art von Tatsachen unter jene einbezieht, die dem Be-richtigungsgesetz erreichbar sind. Auch mag das Beispiel, das derVertreter des Klägers in der Verhandlung beigebracht hat, dieAnschauung des Wesens einer unterstellten Tatsache fördern: dieReichspost“ hätte gewiss etwa den Umstand, dass der Kläger imisraelitischen Tempel gesehen worden ist, zur Erhärtung der vonihr aufgestellten „Wahrscheinlichkeit“ herangezogen, dass er zurjüdischen Konfession zurückkehren werde. Sollte es ihm da verwehrtsein‚ im Wege eines Gesetzes, das dem Schutz der Wahrheit dient,festzustellen, dass er im Tempel nur erschienen ist, um einerTrauung beizuwohnen? Es müsste wohl schlechthin unmöglich sein,an der Argumentation der Klage, die dem Gericht erster Instanzvorgelegen ist, vorbeizukommen, und da auch das Gericht es nichtkonnte, so entzog es sich ihr mit dem Satze: „selbst wenn es rich-tig ist, dass dieser Meinung Tatsachen zugrundeliegen“. Aber wenndies richtig ist, dann ist auch die Argumentation richtig und dasUrteil unrichtig, und wenn „dieser Meinung“ eine falsche Tatsache zugrundeliegt‚ so muss es dem Berichtigungswerber erlaubtsein, die richtige zu reklamieren. Der Zeitung bleibt es ja dannnoch immer unbenommen, auf Grund der richtigen Tatsache ihreMeinung aufzustellen, und dann könnte diese allerdings nichtberichtigt werden, aber zuerst muss sie, ehe sie eine unwiderleg-bare Meinung aufstellen will, die richtige Tatsache setzen.Dies hat das Urteil erster Instanz offenbar verwechselt. Nicht dieMeinung soll berichtigt werden, die die Zeitung auf Grund einerrichtigen Tatsache ausspricht – das wäre natürlich un-statthaft –‚ sondern der falschen Tatsache, auf Grund deren sieihre Meinung produziert, die richtige entgegengestellt werden. Derfalschen Tatsache, die sie durch die angebliche „Meinung“ vor-spiegeln will. Denn man kann eigentlich nicht davon reden, dass

hier etwas „zugrundeliegt“, sondern nur davon, dass hier etwaszugrundegelegt, unterschoben wird. Wie vollkommen diese Methodein dem Artikel der „Reichspost“ praktiziert wird‚ geht insbesondereauch aus dern Schlussatz hervor: „Ein Kreislauf ist be-endet“. Kann nach diesem Satze (auf dessen apodiktische Fassungein Leser des Artikels den Berichtigungswerber mit Recht aufmerk-sam macht) für einen solchen Leser noch ein Zweifel bestehen, dassdie „Reichspost“ eine Tatsache setzen will? Wird hiernicht die von ihr eben noch produzierte „Wahrscheinlichkeit“, diedas Gericht unter dem Eindruck des äusseren Wortcharakters füreine „Meinung“ hält, geradezu aufgehoben? von der Zeitung selbstaufgehoben, die knapp zuvor noch von „Wahrscheinlichkeit“ gespro-chen hat? Was will die „Reichspost“ anderes, als dem Leser einenpositiven falschen Sachverhalt suggerieren, wenn sie ihre Betrach-tung mit der Behauptung schliesst, dass ein Kreislauf, jener, derin die jüdische Konfession zurückführt, beendet ist?

Aber es bedarf für die überprüfende Instanz gewiss nichterst all der Hinweise auf den Zusammenhang von Tatsächlichkeit,den die einzelnen Wortelemente jenes Satzes zwingend herstellen.Diese selbst sind so gesetzt, dass ihr tatsächlicher Charakter un-möglich bestritten werden kann. Die an und für sich unanfechtbareRechtsanschauung, dass nach dem § 23 nur eine Tatsache und keineMeinung berichtigt werden kann, hat da geradezu ein Schulbeispieldes verbreiteten Irrtums gezeitigt, der den Meinung s-stoff mit dem Meinungswesen verwec h-selt. „Wahrscheinlichkeit“ ist aus dem zufälligen Meinungsstoffverfertigt und das Gericht erster Instanz nimmt deshalb an, dasshier eine „Meinung“ vorliege. Wenn das Gesetz die Berichtigung vonMeinungen ausschliesst, so will es die Freiheit des Urteils inSphären, die in sich der tatsächlichen Natur ermangeln, und überQualitäten, die die subjektive Urteilsbildungansprechen, sichern.

Keineswegs aber will es die freie Urteilsbildung auch gegenüber denerweislichen Sachverhalten sichern. Dass etwas gut oder schlecht sei,ist eine Meinung, die nach dem Gesetz nicht berichtigungsfähig ist.Dass etwas vorhanden oder nicht vorhanden, geschehen oder nicht ge-schehen ist, ist selbst dann keine Meinung, sondern eine reine Tat-sache, wenn es dem subjektiven Ermessen anheimgestellt bleibt, dasVorhandensein, das Geschehensein wahrzunehmen. Die „Mei-nung“ ist in der Sphäre, die wesentlich zu ihr spricht, ver-ankert, nicht in der Optik des Betrachters. Ihr Element beruht im We-sen der Materie, die der Betrachtung ausgesetzt ist, und kann darumimmer nur auf die dem Urteil zugängliche Qualität, nie aberauf die dem Beweis, der Feststellung unterworfene Quantität bezogen sein, mag auch deren Wahrnehmbarkeit noch dersubjektiven Optik einen Spielraum lassen. Der eine wird einen Sach-verhalt mit grösserer Deutlichkeit wahrnehmen als der andere: einSachverhalt bleibt es darum doch, und was in dessen Betrachtung nochSpielraum hat, ist nicht die „Meinung“, sondern das Bewusstsein, die Ausbildung Fähigkeit der Sinne, die Wahrhaftigkeit. Die „Meinung“, die das Gesetz meint, ist nichtdie subjektive Einstellung des Betrachters zu den Objekten der Tat-sachenwelt, sondern ausschliesslich die subjektive Bemessung jenerW o e rte, die wesentlich der Beweisführung entrückt und nurder Beurteilung ausgesetzt sind. Eine „Meinung“, wie sie das Gesetzmeint, liegt vor, wenn die Zeitung sagt, ein Schauspieler habe denDon Carlos schlecht gespielt. Denn hier ist das Wesen der Be-hauptung die Meinung. Wenn aber die Zeitung sagt, der Schau-spieler habe „wahrscheinlich den Don Carlos zum erstenmal gespielt“,so hat die Behauptung zwar den Meinungsstoff, ist aber die Be-hauptung einer Tatsache, wenngleich eine eingeschränkte Behauptung.(Wenn sie „jedenfalls“ sagte, wäre es darum scheinbar nicht wenigereine „Meinung“ – wiewohl das Pressgericht hier am Ende wankend würde –aber wenn sie nur „wahrscheinlich“ sagt, so ist es darum doch eine

tatsächliche Behauptung.) Unmöglich kann das Gesetz dem Schauspie-ler die Möglichkeit verwehren, einer solchen wenngleich einge-schränkten Behauptung die Wahrheit entgegenzustellen, dass er denDon Carlos schon ein Dutzendmal gespielt habe. Umsoweniger, wenndie Zeitung noch durch Erdichtung anderer Umstände einen Zusammen-hang herstellt, der dem Leser jene falsche Tatsache umso sicherersuggeriert, an deren Widerlegung der Schauspieler aus irgendeinemGrunde ein Interesse hat. Schlösse das Gesetz eine solche Möglich-keit aus, so wäre der Presse mit Wendungen wie „Aller Wahrschein-lichkeit nach hat …“ oder „Gerüchtweise verlautet‚ dass …“ „Nachunserer Meinung wird …“ (in welchem Fall nach Ansicht des Press-gerichts die „Meinung“ ja auf der Hand liegt) für jede Lüge einFreibrief ausgestellt. Und hier, an dem Fall einer durch subjek-tive Färbung unberührbaren Tatsächlichkeit, wird völlig fassbar,worin der Unterschied zwischen Meinung und Tatsache und worin dieVerwechslung beruht, welche die eigentliche Grundlage des Aus-spruchs der ersten Instanz bildet. Was berichtigt wurde und wasauch in dem Fall des Schauspielers, der „wahrscheinlich den DonCarlos zum erstenmal gespielt hat“, berichtigt wird, ist keines-wegs die Wahrscheinlichkeit als solche – in dem strittigen Fallalso keineswegs der Umstand als solcher, dass eifrige Anlehnungenetwas wahrscheinlich machen. Gewiss wäre hier, von dem Punkte der„Wahrscheinlichkeit“ gesehen, bloss eine Folgerung gezogen, diedem Ermessen anheimgestellt bleibt, also eine Meinung ausgespro-chen. Gewiss kann der Schauspieler nicht berichtigen: Es ist unwahr-,scheinlich dass es wahrscheinlich ist, dass ich zum erstenmalu.s.w. Und an und für sich könnte auch nicht berichtigt werden:Es ist unwahr, dass Anlehnungen wahrscheinlich machen; denn sie machen ja faktisch nur dem etwas wahrscheinlich,der die Behauptung ausspricht. Aber wird denn der Nachdruck aufdiese einzuräumende Möglichkeit gelegt? Was wird in Wahrheit

berichtigt? „Eifrige Anlehnungen in einem anderen Aufsatz der‚Fackel‘ an Theodor Herzls Tagebuch machen den Fall 3 zur Wahr-scheinlichkeit.“ Das bedeutet nun durchaus nicht, dass dem Schrei-ber das Recht bestritten wird, etwas, was ihm wahrscheinlich ist,mutmassend vorzubringen. Vielmehr wird hier der ganz konkreten,aus dem Zusammenhang deutlich vertretenden Behauptung widersprochen:Die Anlehnungen sind derartige‚ dass der Fall 3 zurWahrscheinlichkeit wird.Nicht die Wahrschein-lichkeit, sondern der durch eben sie be-dingte Charakter der Anlehnung wird be-stritten. Nicht die Wahrscheinlichkeit ist die Konklusion aus derAnlehnung, sondern die Art der Anlehnung istdie sich ergebende Konklusion ausder gesetzten Wahrscheinlichkeit. Obdie Anlehnungen, wenn sie bereits determiniert wären,etwas wahrscheinlich machen, wäre natürlich reine Ermessenssache.Wenn – wahrheitswidrig – bereits ausgesprochen wäre,dass es Anlehnungen mit jüdisch-nationaler Tendenz sind, so dürfteder Schreiber jede ihm beliebige Wahrscheinlichkeit folgern, ohnedass man ihm mit dem § 23 widersprechen könnte. Dann hätte er ganzgewiss das Recht, welche Vermutung er will, daran zu knüpfen, undes wäre nur die Berichtigung ermöglicht, dass es keine Anlehnungenmit jüdisch-nationaler Tendenz sind. Dies ist jedoch indirekt gesagt in derForm: dass es solche Anlehnungen sind, die den Fall 3 zurWahrscheinlichkeit machen. Da es nun aber in Wahrheit, solche Anlehnungen sind, die den Fall 3 unter gar keinen Umständen zurWahrscheinlichkeit machen können, weil es eben nicht Anlehnun-gen mit jüdisch-nationaler Tendenz sind, sondern Zitate über einenFall von Korruption, also über etwas tatsächlich Verschiedenes,so muss die Möglichkeit gegeben sein, diese Tatsache der Behauptungentgegenzusetzen. Die behaupteten Anlehnungen sind solche, die erst durch die Angabe,dass sie den Fall 3 zur Wahrscheinlich-

keit machen, charakterisiert, förmlich definiert werden. Ihre Eigenschaft wirddamit bezeichnet und es ist ganz so, wie wenn die ih-nen angedichtete Wahrscheinlichkeit in einem Relativsatz ausgedrückt wäre. Und dass es „solche, welche“ sind, wirdberichtigt. Die zwingend herbeigeführte Vorstellung, dass es sol-che sind, ist die berichtigte Tatsache. Nicht die Vermu-tung, die an sie geknüpft wird: dass sie etwas wahrscheinlichmachen, wird berichtigt. Sondern ihre Determinierung durch ebendiese Vermutung: die Aussage, dass es derartige Anlehnungensind, die den Fall 3 zur Wahrscheinlichkeit machen. Nicht dieWahrscheinlichkeit“, zu der die Anlehnungen et-was machen, sondern die durch sie bezeichneten „Anleh-nungen“. Es kann doch keinem Zweifel unterliegen, dass auchdurch die abstraktesten Termini, die der Meinungssphäre entnommensind, eine ganz konkrete Tatsache determiniert sein kann. Nichtauf jene kommt es an – und nicht sie werden berichtigt –, sondernauf die Tatsache, zu deren Bezeichnung sie verwendet sind. Hättedie ‚Reichspost‘ wahrheitsgernäss geschrieben, es seien in jenemAufsatz Anlehnungen enthalten, in denen von der Gewinnsucht derNeuen Freien Presse die Rede ist, und daran die Konklusiongeknüpft, dass der Verfasser wahrscheinlich zum Judentum zurück-kehren werde, so wäre es eine Mutmassung, eine Meinung, zu der sie,wie immer sie deren Absurdität verantworten wolle, vollkommen berech-tigt wäre. Aber gerade das Verschweigen, welcherlei Anlehnungen essind, lässt ihre Vermutung ganz und gar nicht absurd erscheinen, son-dern stellt zwingend die Tatsache her und will sie herstellen, dasses eben solche Anlehnungen sind, wie sie es tatsächlich nicht sind.Indem nun der Kläger den Fall setzt, dass die ‚Reichspost‘ ganzdieselbe Wahrscheinlichkeit an die von ihr dadurch definierten und auf dievöllig verschiedene Sphäre des Inseratenwesens fixierten Anlehnungengeknüpft hätte‚ und zugibt, dass hier (und nur hier) das reine

Wesen der Meinung zum Ausdruck käme, glaubt er hinlänglich klar ge-macht zu haben, dass sich die Berichtigung nicht gegen das offen-bare Recht, eine Wahrscheinlichkeit aufzustellen, gegen das Rechtder Meinung richtet, sondern gegen etwas ganz anderes, nämlichgegen das Unternehmen, durch eine solche Mei-nung erst eine Tatsache zu konstruie-ren; gegen die fälschliche Charakterisierung jener Anlehnungendurch die Wahrscheinlichkeit, die sich aus ihnen ergeben soll;also gegen die tatsächliche Unwahrheit, dass es ein Artikel mitjüdisch-nationaler Tendenz sei und nicht vielmehr einer über dieGewinnsucht der Neuen Freien Presse. Was die ‚Reichspost‘ zwar nichtwörtlich, aber tatsächlich geschrieben hat, ist: In einem anderenAufsatz der Fackel sind derartige Anlehnungen enthalten,die den Fall 3 zur Wahrscheinlichkeit machen, Anlehnungen an HerzlsTagebuch – was ohne nähere Angabe ausschliesslich nur die Assoziation der zionistischen Ten-denz ergeben kann. Das ist berichtigungsfähig. Und hier wirdevident, wie dieselben Worte im Nu die Meinungsfarbe zugunstenihres tatsächlichen Wesens verlieren. Wenngleich jedoch die Wort-fassade den judizierenden Betrachter vom Wesen der Behauptung abge-lenkt hat, so sollte er doch nicht übersehen, dass gerade auf denLeser, der bloss den Eindruck des Satzes übernimmt, ohne diesen mit einem Gesetz zu konfrontieren, mit dervorgespiegelten Tatsache eingewirkt wird, nicht mit der Meinung,die im Wort enthalten ist, und dass der berichtigte Artikel keineandere Absicht als eben diese verfolgt hat. Es macht eben den Cha-rakter und die Gefahr einer solchen Diktion aus, dass mittels des-selben Trugschlusses, den die Zeitung bezweckt, dem naiven Leserdurch eine Meinung eine Tatsache und dem judizierenden mit einerTatsache eine Meinung vorgespiegelt wird. Wenn das Gesetz der Pressenur das Hindernis bereiten wollte, dass sie die gröbsten und di-rektesten unwahren Tatsachen vermeiden muss, dann brauchte sie

überhaupt keine § 23-Berichtigung zu fürchten. Da eine solche Unter-stützung unmöglich die Absicht des Gesetzes sein kann – weil es sonstein völlig unzulängliches, schlechtes, der technischen Entwicklungder Zeitungslüge kaum je gewachsenes und fast nie anwendbares Ge-setz wäre –‚ so hofft der Berichtigungswerber, dass das Berufungs-gericht das Urteil erster Instanz aufheben und der Klage gegen denverantwortlichen Redakteur der ‚Reichspost‘ in ihrem vollen Umfangstattgeben werde.