68.85 Brief Justizrat Viktor Fraenkl an Samek

Materialitätstyp:

  • Typoskript mit handschriftlichen Überarbeitungen

Schreiberhände:

  • Viktor Fraenkl, schwarze Tinte
  • Oskar Samek, blauer Stift

Sender

Justizrat | Victor Fraenkl
Potsdamer Str. 86b
Berlin W. 57
Datum: 19. Februar 1928

Empfänger

An: Herrn Rechtsanwalt Dr. Samek
Schottenring
Wien
Datum: 20. Feb. 1928
Seite von 3

Sehr geehrter Herr College,

in der Privatklagesache Kraus gegen Kerr ist Ihr Einschreibebrief vom 17. am gestrigen Sonnabend-Abend 7 Uhr bei mir eingetroffen.Ich beeile mich, am heutigen Sonntag Folgendes zu antworten:

1) In Ihrem Schreiben vom 7. November 1927 haben Sie zum ersten Mal– ohne meine vorherige Anregung – von einem etwaigen Vergleich ge-sprochen. Ich habe am 10. November geantwortet, dass für einen solchendie Erhebung der Widerklage durch Kerr zu beachten sei. Am 19. Novem-ber haben Sie mich gefragt, wie ich die Aussicht der Widerklage beur-teile und wie ich mir einen Vergleich, den die Gegenseite anregenmüsste, dächte. Am 15. Dezember habe ich erwidert, dass ich die Zuläs-sigkeit der Widerklage natürlich bestreiten würde, eine Bestrafungdes Herrn Kraus wegen formaler Beleidigung jedoch für möglich hiel-te. Am 23. Dezember haben Sie mich von neuem ersucht, Ihnen mitzutei-len, wie ich mir einen Vergleich vorstelle. In meinem Brief vom 30.Dezember habe ich daraufhin erklärt, ich könne mir einen Vergleichvorläufig nur so denken, dass bei Kostenteilung Klage und Widerklage ohne Publikations-verpflichtungen zurückgenommen würden. Eine gegenteilige Aeusserunghierauf habe ich von Ihnen nicht bekommen!!

2) Im Termin am 2. Februar hat Rechtsanwalt Heine die vom Richter aus-gegangene Vergleichsanregung aufgegriffen. Ich habe, um keinen Zweifelan einer lediglich processualen Beendigung der Angelegenheit entste-hen zu lassen, betont, dass gegenseitige Erklärungen und Versprechungen unter-bleiben müssten!! Dieses Moment der nur die gerichtliche Austragungangehenden Erledigung kann – unbeschadet des Eintritts der Rechtswirksamkeit des Vergleiches – natürlich noch einmal in einem besonderenBrief an den gegnerischen Anwalt zum Ausdruck gebracht werden; eineAbschrift hiervon könnte zu den Gerichtsakten eingereicht werden.

3) Ich habe mich hinsichtlich keiner „Auffassung“ vorher mit Rechts-anwalt Heineverständigt“. Es trifft auch nicht zu, dass er sich da-hin im Termin ausgelassen habe. Er hat nur erwähnt, dass wir gelegent-lich über einen etwaigen Vergleich gesprochen und in der Beurteilungder Zweckmässigkeit einer solchen Erledigung wohl übereingestimmt

haben. Das war der Sinn seiner Ausführungen.

Was ein Bericht im „Vorwärts“ sagt oder nicht sagt, müsste dochHerrn Kraus als durchaus belanglos gelten. Er kennt doch die poli-tische Tagespresse zur Genüge!!!!!

4) Von wem die Unterstreichungen auf dem letzten Schriftsatz desGegners herrühren, weiss ich nicht.

5) Schliesslich: Weshalb mir gerade der Process Kraus gegen Kerr über die Nerven“ und „über die Zeitmöglichkeiten“ „hinauswachsensollte, vermag ich nicht einzusehen. Ich habe schon andere Processegeführt und führe solche, die schwieriger sind und mehr Anforderungenan die Nervenkraft stellen, als die Privatklagesache Kraus gegen Kerr,ohne dass ich in irgend einer Hinsicht erlahme oder an Eifer nach-lasse!!!! Andererseits ist es selbstverständlich, dass ich mich nie-mandem, wer immer es auch sei, als Rechtsbeistand aufdränge!!! Wennalso Herr Kraus glaubt, dass ich seine Sache nicht so geführt habe,wie es seine Interessen erheischen, und dass ein anderer Anwalt alsein besserer mich in der Fortsetzung des Verfahrens ersetzen müsse,so mag er das mit Ruhe und Offenheit sagen!!!

6) Jedenfalls wiederhole ich, dass die Widerrufsfrist am 23. d.M. ab-läuft. Eventuell also müsste Herr Kraus selbst in einem eingeschrie-benen Eilbrief an das Gericht anzeigen, dass er den unter Vorbehaltabgeschlossenen Vergleich widerrufe. Am 23. müsste diese Anzeige andas Amtsgericht Charlottenburg unter dem Aktenzeichen 44.B.222.27gelangt sein. (Charlottenburg Kantstrasse 79).

Mit HochachtungVictor Fraenkl

KrausKerr20. Feb. 1928