70.5 Klage von Alfred Kerr gegen Karl Kraus (Landgericht I Berlin, G.Z. Q 164/28)

Materialitätstyp:

  • Durchschlag
Datum: 21. September 1928
Seite von 8

Abschrift.

Berlin, am 21. September 1928.

Klage

des Schriftstellers Dr. Alfred Kerr in Berlin-Grunewald, Höhmannstrasse 6,vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Wenzel Goldbaum,in Berlin W., Wilhelmstrasse 52,

gegen

den Schriftsteller und Verleger Karl Kraus in Wien, Hintere Zollamtsstrasse 3.

1. Es wird nur verhandelt werden,wenn bis zum Termin Zahlungdes Vorschusses mit 180.08 RMnachgewiesen ist.Streitwert vorläufig 20 000 RM.

2. Verhandlung vor dem E.R. nichterforderlich.

3. Einlassungsfrist wird auf3 Wochen bestimmt.

4. Verhandlungsterminden 2ten November 1928 vormittags 10 UhrNeues GerichtsgebäudeGrunerstrasse I. StockwerkZimmer Nr. 31a

Berlin, den 27ten September 1928Landgericht I Zivilkammer 21 Der Vorsitzendegez. Weigert.

An dasLandgericht IBerlin 21. Zivilkammer fürUrheberrecht.38. 0. 400/28.

Im Jahre 1924 las der Beklagte in Berlin öffentlich verschiedene seiner Auf-sätze und Verse vor. Der Kläger be-sprach diese Vorlesung im „BerlinerTageblatt“. Diese Besprechung missfieldem Beklagten und er wandte sich in dervon ihm verlegten Zeitschrift „DieFackel“ gegen diese Kritik und gegenden Kritiker selbst. Von diesem Zeit-punkt an beschäftigte sich der Beklagte mit der Persönlichkeit des Klägers ausführlicher, insbesondere warf erihm wiederholt vor, dass der Kläger während des Krieges Kriegslyrik ver-öffentlicht hätte.

Beweis: Im Streitfall vorbe-halten.

Der Kläger hat während des Krieges einegrosse Zahl von Kriegsgedichten ver-

fasst; diese Kriegsgedichte erschienen zum Teil unterPseudonymen. Eines dieser Pseudonymen war „Gottlieb“. DiesesPseudonym war erfunden von Herrn Prof. Dr. Franz Oppenheimer,Frankfurt a. Main. Unter diesem Pseudonym veröffentlichte nichtnur der Kläger Kriegslyrik, sondern auch zahlreich andereSchriftsteller. Die Veröffentlichungen erfolgten im „Tag“,dessen Redakteur diese Gedichte unter dem Sammelnamen „Gottlieb“an die Öffentlichkeit brachte.

Beweis: Zeugnis des Prof. Dr. Oppenheimer,Frankfurt a. Main.

Ein anderes Pseudonym war „Peter“; diese Gedichte erschienenebenfalls im „Tag“. Nicht nur im „Tag“, sondern auch in derFrankfurter Zeitung“ und in der „Neuen Deutschen Rundschauveröffentlichte der Kläger seine im Krieg entstandenen Gedichte.Im Folgenden werden einige dieser Gedichte wiedergegeben undzwar gerade die, die der Beklagte in der „Fackel“ (No. 787–794)zusammen mit einem Schriftsatz des Klägers rechtswidrig abge-druckt hat.

Begegnung.

I.

Und als es vier Wochen gedauert hat,Waren sie krank und hundematt.Deutsche, Franzosen – im HöhlenhausFrierend. Manchmal brachen sie aus,Zerfleischten einander … mit schwankendem GlückDann schleppten sie sich in die Gräben zurück.

Und als fünf Wochen gedauert hat,Waren sie still und hundematt.

II.

Zwischen den Linien lagen die Leichen.Ein Holste hob die Schaufel, zum Zeichen;Von drüben kam einer stumm auf ihn los.Man grüsste sich herzlich. Da hat der FranzosIhm leis einen Bruderkuss aufgedrückt.Der Holste fand: das ist „verrückt“;Es kam „ein Bisschen“ unvermittelt;

Hat ihm doch stumm die Hände geschüttelt.Sie schwiegen. Und sannen im Leichengraus.Dachten an Weib und Kinder zu Haus.

III.

Die Schützen haben still verharrt;Die Toten wurden eingescharrt.Jeder ging zu seinen Genossen.In der Nacht ward weiter geschossen.

(16. Dezember 1914)Der Tag.“

Mobilmachung.

(Erschien am 2. August 1914.)

Wir wollen in den TagenDer steilsten LebensfahrtNicht säumen – und nicht fragen,Wie alles ward.

Wenn auf des Hauses PfostenDie Sonne morgens scheint,Schaut sie in West und OstenDen Feind.

Sie spürt ein WipfelbebenUnd hört ein Flügelwehn.Deutschland kämpft um sein LebenEs wird nicht untergehn.

Es geht eine Schlacht ….

(erschien am 12. Sept. 1914)

Es geht eine Schlacht … mit schwerem Gang.Am Weichselfluss? Am Wasgenjoch?Die Stille redet. Tagelang.Wir wissens nicht. Und wissens doch.

Es rinnt ein Ruf. Durch Frühlichtgraun.Durch alle Nächte. Heimwärts.Es schwillt ein flüsterndes GeraunVon Eurem Blut in unser Herz.

Es schallt ein Schrei. Es hallt ein Schuss,Er trifft uns in die eigne Stirn.Es zieht ein heimlich steter FlussVon Eurem Hirn in unser Hirn.

Es weht der Allerseelenwind.Wir schreiten alle einen Schritt.Und die wir fern vom Felde sind,Wir kämpfen mit, wir sterben mit.

Er schleppte sich ….

(erschien am 23. Oktober 1914)

Er schleppte sich an ein Gehölz.Nachts wars, und ferne Stimmen schrien.Zwölf Stunden streuten die Schrappnells.Erst nach zwei Tagen fand man ihn.

Er isst und trinkt im LazarettGesund ist das durchschossne BeinNur sitzt er nachts auf seinem BettUnd glaubt in einer Schlacht zu sein.

Die Wärter kommen leis daher ….Dann schläft er bis zum Tageslicht,Erwacht in Frieden still und schwer –Und weiss es nicht. Und weiss es nicht.

Im frischgerollten LinnenhemdLiegt er, das Aug ins Licht gewandt.Der Blick ist froh – nur etwas fremd.Die Mutter hält des Jungen Hand.

Oft schläft er ein. Er schläft sich satt.Sie hört ein Lallen schlummerfern.Und was er je gelitten hatErscheint in ihrem Augenstern.

1918.

Die Wende hat begonnen.Deutschland in Not und Drang?Es leuchten tausend SonnenAuf deinen letzten Gang.

Nicht Feindesmacht verderblich.Nicht Hasseskraft bezwingt,Was durch die Welt unsterblichIn Ewigkeiten klingt.

Das letzte lasst uns geben!Ein Wunder muss geschehn!Deutschland ringt um sein LebenEs … Darf … Nicht … Untergehn.

Beweis: No. 787–794 der „Fackel“.

Der Kläger tritt heute zwar nicht für jedes einzelne Gedichtaus den vielen Gedichten ein, die er in bewegter Zeit in denTumult eines bedrohten Landes rief; er tritt aber durchausdafür ein, dass er es damals getan hat. Selbstverständlichhaben sich die Anschauungen des Klägers nach Abschluss des

Krieges in manchen Punkten geändert. Aber gerade daraus willder Beklagte dem Kläger einen Strick drehen.

Zusammengefasst hat der Beklagte dem Kläger nicht vorge-worfen, er habe kriegshetzerische Gedichte gemacht, sondern,dass er zum Siege Deutschlands gehetzt habe. Auch darin siehtder Beklagte eine kriegshetzerische Tätigkeit.

In einem Vortrage, den der Beklagte in Berlin hielt, er-klärte er, er werde den Kläger aus Berlin vertreiben.

Beweis: Nr. 787–94 der „Fackel“ S. 10, 11, 20, 36.

Sodann hat der Beklagte im September 1928 ein umfangreichesHeft der „Fackel“ – es umfasst 208 Seiten – herausgegeben,das er mit der Überschrift versehen hat „Der Grösste Schuftim ganzen Land … (die Akten zum Fall Kerr).Dieses Heft wurde mit besonderem Nachdruck in Berlin ver-trieben; an den Anschlagsäulen erschienen Plakate mit dieserÜberschrift; von Zeitungshändlern wurden diese Plakate an be-lebten Orten gezeigt, ihr Inhalt ausgeschrieen.

Beweis: die anliegenden Plakate.

Das Septemberheft beschäftigt sich in seinen 208 Seiten ledig-lich mit der Person des Klägers; der Beklagte belegt den Kläger mit den gröblichsten Beschimpfungen.

Beweis: Das Titelblatt, Seite 1, 208 usw., usw.

Auf Seite 123 schreibt der Beklagte: „Noch einmal den Mund zurBeschwerde aufgetan und ich lasse die ganze Kollektion unterdem Namen Kerr als Buch erscheinen!“ Unter der ganzen Kollektionversteht der Beklagte die von ihm sogenannte Gottliebproduktion.

Beweis: Seite 123.

Am Ende des Heftes Seite 191 schreibt der Beklagte: „Also herausmit der Kriegslyrik! Er gebe sie heraus! Tut er es nicht, sobin ich nicht mehr gesonnen, mich von Fall zu Fall auf meinStilgefühl und auf seine Dementi zu verlassen, sondern drucke

einfach sämtliche Gottliebs (und Peters) unter dem NamenKerr – was ich ohne weiteres damit rechtfertigen kann, dasser für alle die moralische Verantwortung trägt –, und setzte(übertriebenerweise) auf das Titelblatt ‚Das Nichtgewünschtebitte zu durchstreichen‘. Die zweite Auflage erschiene dannetwas verkürzt, aber ein stattliches Bändchen wärs noch immer.

Beweis: Seite 191.

Hier kündigt der Beklagte also die Herausgabe eines Bandes vonGedichten unter dem Namen des Klägers an und zwar von solchenGedichten, die von dem Kläger wirklich verfasst worden sind undweiterhin von solchen Gedichten, deren Verfasser Andere sind.Mit dieser Ankündigung ist es dem Beklagten durchaus ernst.In dem obengenannten Vortrag hat er wörtlich erklärt: „Es wirdaber auch keinen Todfeind geben, der meinen sollte, dass icheine angekündigte Aktion nicht exakt, zur allseitigen Befriedi-gung und so, dass auch Herr Kerr eine ästhetische Freudehat, durchführen werde …

Beweis: Juni-Nummer der „Fackel“ Seite 20.

Der Beklagte vermerkt in Klammern hinter dieser StelleStürmischer Beifall“, den dieses in der Öffentlichkeit gegebeneVersprechen in der Versammlung auslöste.

Beweis: Juni-Heft der „Fackel“ S. 20.

Die Veröffentlichung der obengenannten Ankündigung bildeteinen Bestandteil der Aktion des Beklagten gegen den Kläger,und es kann nach dem Umfange und nach den Mitteln, mit denendie ganze Aktion bisher durchgeführt ist, kein Zweifel daransein, dass die Drohungen, einen derartigen Gedichtband zuveröffentlichen, von dem Beklagten durchaus ernst gemeint sind.Eine derartige Veröffentlichung verstösst gegen das Gesetz undverletzt die §§ 1, 36 des Lit.Urh.Ges. und § 1004 BGB.Es ist nach dem Gesetz auch nicht erlaubt, Gedichte, die jemand

unter einem Pseudonym veröffentlicht hat, unter dem bürger-lichen Namen des Betreffenden zu veröffentlichen und es istebenso rechtswidrig, Gedichte unter dem Namen eines Schrift-stellers zu veröffentlichen, die dieser gar nicht verfasst hat(§ 7 Lit.Urh.Ges. §§ 12, 826 BGB.).

Die „Fackel“ wird im Bezirk des Landgerichts I Berlin,vertrieben, sie wird auf den Strassen dieses Bezirks verkauft,so Unter den Linden, in der Passage, ferner in den zahlreichenSortimentsbuchhandlungen.

Die Drohungen sind also im Bezirke des angerufenen Gerichts erhoben. Es besteht kein Zweifel daran, dass dieses Gedichtbuch– das der Beklagte voraussichtlich als Sondernummer der „Fackelherausgeben wird, auch im Bezirke des angerufenen Gerichtsdem verkehrsreichsten Berlins – vertrieben werden wird.

Das angerufene Gericht ist aber auch zuständig als Ge-richtsstand des Vermögens. Die „Fackel“ wird an die Buch-handlungen des angerufenen Gerichts geliefert und aus diesenLieferungen hat der Beklagte, der der Verleger der „Fackelist (nicht nur Herausgeber und Redakteur), Ansprüche aufZahlung der Beträge aus den effektiv abgesetzten Exemplaren.

Beweis: Auskunft der Buchhandlung Gsellius, Berlin W.8, Mohrenstr. 52.

Ich lade den Beklagten zur mündlichen Verhandlung des vor-stehenden Rechtsstreits vor das Landgericht I Berlin, 21.Zivilkammer, zu dem von dem angerufenen Gericht anzuberaumendenTermine mit der Aufforderung, einen bei diesem Gericht zuge-lassenen Anwalt mit seiner Vertretung zu betrauen und durchdiesen seine Einwendungen und Beweismittel sofort schriftsätz-lich niederlegen zu lassen.

Ich werde beantragen:

Den Beklagten zu verurteilen, bei Meidung einer vom Gericht festzusetzenden Haftstrafe, es zu unterlassen,

1) Gedichte des Klägers zu vervielfältigen und die einzelnenExemplare der Vervielfältigung gewerbsmässig zu vertreiben,

2) es zu unterlassen, unter dem Namen des Klägers Gedichte,welche der Kläger unter den Pseudonymen „Gottlieb“ oder„Peter“ veröffentlicht hat, zu vervielfältigen und die einzel-nen Exemplare gewerbsmässig zu vertreiben,

3) es zu unterlassen, Gedichte, deren Verfasser der Kläger nicht ist unter dem Namen des Klägers zu vervielfältigenund die einzelnen Exemplare gewerbsmässig zu vertreiben,

4) dem Beklagten die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen,

5) das Urteil – evtl. gegen Sicherheitsleistung vorläufigvollstreckbar zu erklären.

Der Rechtsanwaltgez. Dr. Goldbaum.

KrausKerr II.8./10.28.