76.8 Brief Richard Flatter an Verlag Die Fackel

Materialitätstyp:

  • Typoskript mit handschriftlichen Überarbeitungen
  • Kopie

Schreiberhände:

  • Richard Flatter, schwarze Tinte

Sender

Richard Flatter
Mariahilferstr. 1b
Wien, | 6.
Datum: 7. November 1932

Empfänger

An: den | Verlag „Die Fackel“
Hintere Zollamtsstraße
Wien
Seite von 4

Herr Karl Kraus wünscht den Briefwechsel mit mir nichtweiter fortgesetzt; ich füge mich diesem Wunsche, wenn auch mit Be-dauern, da wir uns jetzt dem interessantesten Teil des Themas, demrein sprachlichen, erst richtig genähert haben. Jedenfalls dankeich Herrn Kraus für die Ausführlichkeit seines letzten Schreibens und die eingehende Sorgfalt, mit der er meine Übersetzungen, denEssay und meine Briefe prüfte und auf sie erwiderte. Ich muss Siejedoch bitten, ihm ausser diesem Dank noch folgendes übermittelnzu wollen:

Ich wollte, wenn ich schon überhaupt – was meiner ur-sprünglichen Absicht völlig ferne lag – in die Öffentlichkeit ge-bracht werden sollte, nicht persönlich, sondern bloss sachlich,mit meinen Übersetzungen, hinausgestellt werden; das war der Grund, wes-halb ich meine Briefe als privat gemeint bezeichnete, was sie auchtatsächlich waren, und weshalb ich ihren Abdruck vermeiden wollte.Da jedoch Herr Kraus, wie er mir mitteilte, seine Antworten auf meineBriefe zu veröffentlichen beabsichtigt, so erkläre ich mich nunmehrdamit einverstanden, dass im Zusammenhange mit seinen Antworten auchmeine Briefe veröffentlicht werden, ja, ich bitte ihn sogar darum.Audiatur et altera pars ist wohl ein Gebot der Gerechtigkeit und eserscheint mir überdies untunlich, dem Publikum einen Dialog zu bieten,von dem nur die eine Stimme hörbar wird.

Vielleicht darf ich noch einiges zu den gestern gehör-ten Nachdichtungen der Sonette sagen, soviel prima audita gesagtwerden kann:

Eine Ausnahme, die ich vorweg besprechen will, bildendie beiden Sonette über das „Will“-Wortspiel. Bei diesen muss dem

Nachdichter, weil es sich eben um ein Wortspiel handelt, die grösstmög-liche Freiheit zugebilligt werden und deshalb war ich auch von diesenbeiden Nachdichtungen, die das Wortspiel mit aller erforderten Graziewiedergeben, restlos zufriedengestellt. Von den andern Nachdichtungenkann ich nur sagen, dass sie sich auf’s erste Hören hin als ungehemmtfliessende Gedichte, voll Schwung und Pathos, darstellen, wieweit sieaber Karl Kraus und wieweit sie Shakespeare wiedergeben, das wird ersteine spätere Vergleichung ergeben können und ich fürchte, Herrn Kraus mitgrösserer Berechtigung den Vorwurf zurückgeben zu müssen, den er mirmachte, als er an meinen Übersetzungen ausstellte, es sei, was ich dar-biete, mehr Eigenes als Shakespeare.

Darauf aber würde sich ja überhaupt die Debatte zuspitzen,nämlich auf die Frage, was wichtiger sei: ein, absolut genommen, gutes,möglichst gutes Gedicht zu schaffen und sich dabei von den Fesseln derÜbersetzertätigkeit, aber schliesslich auch von Shakespeare selbst, zubefreien oder: ob die Aufgabe darin besteht, sich diesen Fesseln zu fü-gen und im eng abgesteckten Bereich dieser Unfreiheit als Übersetzer,demnach als Diener Shakespeare, das Erreichbare zu leisten. Die Fragewürde dann im besonderen so lauten, ob es erlaubt ist, Shakespeare zuverbessern, oder ob eine solche Verbesserung nicht ein ebenso grosses Un-recht darstellt wie das, ihn zu verschlechtern. Ich meine, dass es einemMaler, der z.B. ein Rembrandt-Bild kopiert, ebenso wie er sein Vorbildnicht verschlechtern darf, auch verwehrt sein muss, etwa eine Verzeich-nung im Original zu korrigieren.

Herr Kraus jedoch korrigiert. Wenn er z.B. in meiner Über-setzung des Sonetts 129 in der Zeile:Vorher – ersehntes Glück, nachher – ein Traum.das Wort „Traum“ tadelt, so ist dieser Vorwurf, vom Standpunkt einesDichters aus, vielleicht berechtigt, er richtet sich jedoch nicht gegenmich als Übersetzer, sondern gegen den Autor selbst. Bei Shakespeare lautet die Zeile:Before, a joy propos’d; behind, a dream.Wörtlich: „Vorher – (der Beistrich an dieser Stelle bedeutet im Engli-schen genau das, was im Deutschen der Gedankenstrich ist) eine vorgenom-mene Freude, nachher – ein Traum.“ Da die Begriffe „dream“ und „Traum“sich absolut decken, wäre mir, vom Standpunkt des Übersetzers aus, einVorwurf nur dann zu machen, wenn ich das Wort „Traum“ genau an dieserStelle nicht gebracht hätte. Die früheren Übersetzer brachten es nurdeshalb nicht, weil sie keinen entsprechenden Reim zur Verfügung hatten

ich fand aber das vorausgehende Reimwort und so hätte ich es, von meinemlediglich dienenden Standpunkt aus, für ein Verbrechen gehalten, die an-geführte Zeile anders als wörtlich wiederzugeben. Wenn Herr Kraus dasWort „Traum“ an dieser Stelle als zu wohltuend empfindet, so mag er sub-jektiv Recht haben, der Autor aber hat anders empfunden und anderes ge-wollt. Auch Shakespeare hätte, wenn er „Nichts“ oder „Leere“ oder dgl.hätte schreiben wollen, entsprechende Ausdrücke (nothing, naught etc.)zur Verfügung gehabt, wobei ihm der Reim gewiss keine Schwierigkeiten ver-ursacht hätte; wenn er trotzdem „dream“ schrieb, so hat, meine ich, keinMensch, solange er sich darauf beschränkt, zu übersetzen, das Recht,Shakespeare (nicht bloss formal, sondern auch inhaltlich) zu verbessern.Eine solche Verbesserung, die, wenn auch noch so gut gemeint, aus Eigenemhinzufügt, entstellt das Original genau so wie eine Verschlechterung, dievom Original abstreicht. Beide tun dem Autor Unrecht, der auf seine Vor-züge ein eben solches Anrecht besitzt wie auf seine Mängel und der sichgegen Verbesserungen vielleicht noch mehr wehren würde als gegen Ver-schlechterungen.

Herr Kraus beschränkt sich nicht darauf, zu übersetzen,er will nachdichten; er begnügt sich nicht damit, zu kopieren, er will– ähnlich wie etwa van Gogh Rubens-Bilder nicht kopiert, sondern auf eige-ne Manier nachgemalt hat – nachschaffen. Dagegen ist natürlich nichts zusagen. Warum sollte nicht ein Maler den andern, ein Dichter den andernzu einer Nachschöpfung anregen? Es ist nur das eine zu verlangen, dassdiese Tatsache nach aussen hin in die Erscheinung tritt, dass nicht alsKopie, als Übersetzung gilt, was in Wahrheit ein mehr oder weniger freieseigenes Kunstwerk darstellt. Ein solcher Nachdichter steht, ich weissnicht, ob auf einer höheren oder niedrigeren Stufe, jedenfalls aber aufeiner anderen Stufe als der Übersetzer, der sich nicht der bleigewichti-gen Fesseln des Übersetzeramtes entledigt und nach eigenen Lorbeerngreift, sondern seine Befriedigung und sein höchstes Glück darin suchtund findet, einem Genius in Treue zu dienen und dadurch am redlichstenzu dienen glaubt, dass er das ihm vorliegende Urbild zwar vom Staub derJahrhunderte reinigt, sonst aber mit möglichster Genauigkeit fein säuber-lich kopiert und nichts weglässt, noch weniger aber hinzufügt. Auf dieseehrlichen, braven Kopisten, zu denen mit Stolz auch ich mich zähle, kannman ja, wenn man durchaus will und vor allem, wenn man ein Dichter ist,nachsichtig lächelnd herabsehen, aber es ist ein Unrecht, ihr ernstesBestreben, ihre Bescheidung, vor allem ihre selbstlose Unterordnung unterden grossen Genius als Unvermögen anzusehen und lächerlich zu machen, auch

wenn dieses Bestreben, wie dies insbesondere bei George der Fall ist,auf einen Irrweg führt. Der Übersetzer will bloss das Vorhandene herüber-setzen, der Nachdichter will Eigenes schaffen; auf einen gemeinsamen Nen-ner sind sie eigentlich nicht zu bringen. Der Nachdichter wird und musssich bemühen, sich vom Original zu entfernen, und wird dies um so mehrtun, je grösser er selbst ist, je mehr er also Eigenes zu geben hat, wäh-rend der Übersetzer, je besser er sein will, sich um so mehr dem Originalnähern und sich krampfhaft bemühen wird, aus Eigenem möglichst wenig bei-zufügen. Der Nachdichter wird sich vom Original, je grösser er selbstals Dichter ist, um so leichter unabhängig machen, während sich der Über-setzer an die Vorlage gar nicht eng genug anklammern kann. Dem stehter allerdings gegenüber, dass den Nachdichter – und je freier er sich vomOriginal gemacht hat, um so leichter – jeder beurteilen darf, den Über-setzer aber nur der, der das Original in Händen hält.

Nachdichten darf der Dichter; der Übersetzer darf kein Dich-ter sein: er würde sonst zu leicht der Versuchung unterliegen, statt zuübersetzen, zu dichten. Das Handwerkzeug des Kopisten muss er allerdingsvöllig beherrschen, das darf von ihm füglich verlangt werden. Mit andernWorten: Er muss dichterische Fähigkeiten besitzen, darf aber selbst keinDichter sein. Darin lag auch die Grösse Schlegels, dass er hohe dichte-rische Fähigkeiten besass, ohne selbst Dichter zu sein, die Mängel sei-ner Mitarbeiter und gar seiner Nachfahren liegen darin, dass sie – wieetwa Bodenstedt und Heyse – zwar vielleicht als Dichter grösser waren,aber das für die Übersetzung Shakespeares nötige Handwerk nicht beherrsch-ten.

Ich bin im Zuge des Diktats weiter geraten als ich eigent-lich wollte; aber die Dinge, um die es hier geht, sind viel zu wichtig,als dass ich der Versuchung, wenigstens einen Teil von ihnen auszuspre-chen, nicht unterlegen wäre. Mit nochmaligem Dank an Herrn Kraus für seinletztes Schreiben und mit der Bitte, ihm diesen Brief übermitteln zu wol-len, zeichne ich

hochachtungsvollDr. Flatter