99.4 Brief RA Max Hirschberg an Samek

Materialitätstyp:

  • Typoskript

Sender

Dr. MAX HIRSCHBERG
KAUFINGERSTRASSE 30
MÜNCHEN, C 7
Datum: 15. März 1928
Diktiersigle: 2/H

Empfänger

An: Herrn | Rechtsanwalt Dr. Oskar Samek
Schottenring 14
Wien I.
Seite von 6

Sehr geehrter Herr Kollege!

Herr Dramaturg Fischer vom Münchener Schauspielhaus hat mir heute die Unterlagen in der Angelegenheit desHerrn Karl Kraus vorgelegt und mir Ihren Brief vom13. März 1928 an Herrn Fischer, sowie den Entwurf einerBerichtigung nach § 11 des Preßgesetzes an den VölkischenBeobachter gezeigt. Ich gestatte mir hiezu folgendeszu bemerken:

1.) Der Artikel „Eine skandalöse Erstaufführungin München“, – „Die Verhöhnung des Soldatentodes durch denJuden Karl Kraus“, – „Wir fordern Verbot der Aufführungim Schauspielhaus, enthält zweifellos eine ganze Reihevon offensichtlichen Beleidigungen. Karl Kraus wird in diesemArtikel als Wiener Judenliterat bezeichnet. Es wird frechsteVerhöhnung aller gefallenen Frontkämpfer behauptet; unterunwahren Angaben über die Vorgänge auf der Bühne wird vonschmutzigen Zoten gesprochen, es wird behauptet, daß dieheiligsten Erinnerungen in gemeinster und brutalster Weise

in den Kot gezogen werden, das Traumstück wird als einzigefortgesetzte Verhöhnung des frontsoldatischen Geistes,als schamlose Bewitzelung, als gemeine Besudelung bezeichnet.Es wird von einer tuberkulosen Krankenschwester erzählt,die im Stück nicht vorkommt und behauptet, daß eine Hureim Stück mit Etappenschweinen und einbeinigen Soldatentanze. Auch das ist frei erfunden. Das ganze Stück wird als eine einzige Gemeinheit, eine einzige Zote,ein einziger Beweis der neudeutschen „Geistigkeit“bezeichnet.

Nach § 193 StGB. ist eine Beleidigung, derenVorliegen ja von niemand bestritten werden kann, dannnicht strafbar, wenn es sich um tadelnde Urteile überkünstlerische Leistungen oder um Äusserungen zur Wahrnehmungberechtigter eigener Interessen oder ähnliche Fälle handelt.Daß der Völkische Beobachter keine eigenen, oder ihm nahe-stehenden Interessen bei diesem Artikel wahrnimmt,liegt auf der Hand. Es könnte sich also nur darum handeln,ob ein tadelndes Urteil über eine künstlerische Leistungvorgeschützt werden kann. Die Häufung der grob beleidigendenAusdrücke, die Behauptung von frei erfundenen Vorgängenund vor allem die Unterstellung einer gemeinen Gesinnungunter absichtlicher und bewusster Verkennung der ethischenTendenz des Stückes gehen aber auch bei wohlwollendsterBeurteilung des Artikels durch einen Richter über den erlaubtenRahmen weit hinaus. Nach der Praxis der obersten Gerichte

ist insbesondere die Häufung von beleidigenden oderabfälligen Ausdrücken ein Beweis dafür, daß nicht eineliterarische Kritik oder eine Wahrnehmung berechtigterInteressen, sondern eine Beleidigung beabsichtigt ist.Trifft dies aber zu, so findet § 193 StGB. keineAnwendung. Ohne die Schwierigkeiten, die sich beiVerfolgung derartiger Beleidigungen durch bayerischeGerichte in vielen Fällen ergeben haben, hier im Geringstenzu verkennen, glauben wir daher zur Einreichung einerBeleidigungsklage gegen den Völkischen Beobachter raten zu sollen. Man kann mit derartigen Organen, die sichbewusst ausserhalb des Rahmens der journalistischenGepflogenheiten halten, nicht diskutieren, sondern mankann nur durch eine Beleidigungsklage die gerichtlicheSühne erzwingen. Würde das Gericht eine Beleidigungsklagemit irgend einer juristischen Begründung ablehnen, so wäredas gewiss in den Augen derjenigen Kreise, auf deren Urteiles ankommt, nicht eine Niederlage des Herrn Kraus, sonderneine geistige Niederlage des Gerichts.

2.) Nach sorgfältiger Prüfung raten wirdagegen von einer Berichtigung nach § 11 des Preßgesetzes ab. Es würde zwar Herrn Kraus vermutlich nicht stören, wennseine Berichtigung, wie mit Sicherheit zu erwarten ist,mit dem bei diesem Blatte selbstverständlichen Kommentarneuer Beschimpfungen versehen würde. Es ist aber, wenn

eine Beleidigungsklage gestellt werden kann, weder nötignoch üblich, vorher mit einer preßgesetzlichen Berichtigungzu arbeiten. Der Nachweis der verleumderischen Behauptungwürde sich ja im Beleidigungsprozess von selbst ergeben.Man nimmt ein derartiges Blatt u.E. zu ernst, wenn manihm überhaupt eine Berichtigung aufnötigt. Diese Erwägungensind Zweckmässigkeitserwägungen, deren Entscheidungletzten Endes ja Herrn Kraus allein zusteht. Die reinjuristische Frage, ob die entworfene Berichtigung nach § 11des Preßgesetzes juristisch in Ordnung geht, istzu bejahen. Ich bitte in diesem Falle lediglich noch zuerwägen, ob der erste Teil der Berichtigung durchgreifendist, da es sachlich vom Standpunkt der Gegenpartei aus wohl keinen grossen Unterschied machen würde, obeine Person selbst vorkommt oder ob deren angeblichesSchicksal von deren Schwester berichtet wird. Es ist zuerwarten, daß die Gegenpartei behaupten wird, man hättelediglich 2 Sätze berichtigen können, gäbe damit alsodie Richtigkeit der übrigen Behauptungen zu.

3.) Von einer Klage gegen das Präsidium derVereinigten vaterländischen Verbände auf Grund der in einerReihe reaktionärer Zeitungen veröffentlichten Einsendungenraten wir nach sorgfältiger Prüfung ab. Es würde demGericht bedeutend leichter fallen eine derartige Klageabzuweisen, da es sich hier nur um einen einzigen Halbsatzhandelt, nämlich um die unwahre Behauptung, daß in dem

Stück der tote Frontsoldat in gemeinster Weise verhöhnt wird.Diese Behauptung ist zweifellos beleidigend. Es ist aberzu berücksichtigen, daß das Gericht nach unseren langjährigenErfahrungen voraussichtlich in diesem Falle der beklagtenPartei die Wahrnehmung berechtigter Interessen zubilligenwürde, da die Vaterländischen Verbände eine ganze Reihevon Frontkämpfer-Vereinigungen umfassen. Es würde indiesem Fall der Nachweis, daß aus der Form die Absicht derBeleidigung hervorgeht, nicht zu erbringen sein. Wir gebendiesen Rat auf Grund zahlreicher uns bekannter Entscheidungendes zuständigen Gerichts und des Bayer. Obersten Landesgerichts.Würde die Klage in diesem Falle abgewiesen werden, so würdeeine Kritik dieser Entscheidung weit weniger wirksam sein,als wenn die Klage gegen eine derartige Häufung beschimpfenderAusdrücke abgewiesen wird, wie sie der Völkische Beobachter enthält.

4.) Von einer Strafanzeige wegen Nötigung istabzuraten. Diese Strafanzeige würde bestimmt mit Einstellungerledigt werden, denn nach § 240 StGB. liegt eine Nötigungnur vor, wenn jemand zu einer Handlung, Duldung oderUnterlassung durch Bedrohung mit einem Verbrechen oderVergehen genötigt wird. In dem Artikel des Völkischen Beo-bachters ist die Frage enthalten: „oder müssen andereMittel und Wege gesucht werden, um die Fortsetzung dieses

Skandals zu verhindern?“. Es wäre sehr leicht möglich,daß die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten glauben würde,daß er sich über Mittel und Wege ja noch gar nicht imKlaren gewesen sei und keinesfalls ein Verbrechen oder Vergehenhabe androhen wollen, sondern z.B. nur einen öffentlichenProtest ausserhalb des Schauspielhauses beabsichtigt habe.Derartige billige Handhaben sollte man einem Gegner wie demVölkischen Beobachter nicht geben.

5.) Herr Fischer zeigte mir einen ihm heutezugegangenen Ausschnitt aus dem Fränkischen Kurier Nürnberg,der auch in München erscheint, also auch in München verklagtwerden kann. Dieser Ausschnitt, den Herr Fischer Ihnendurch mich beilegen lässt und zurückerbittet, ist selbstver-ständlich formalbeleidigend. Schon der Ausdruck Literätchenist in der Form beleidigend, ebenso der mehr als zweideutigeHinweis auf die syphilitische Verseuchung von Vertreterndes Literaturbolschewismus.

Hochachtungsvollergebener KollegeHirschberg Rechtsanwalt.

1 Anl.

KrausVölkischer Beobachter 16. März 1928