195.7 Strafanzeige resp. Klage von Karl Kraus gegen Aufruf (Lucien Verneau und verantw. Red. Friedrich Bill) gemäß §§ 1 bis 3 des Ges. vom 28. Juni 1933 (Kreisstrafgericht Prag)

Schreiberhände:

  • Oskar Samek, roter Stift
  • Oskar Samek, Bleistift

Materialitätstyp:

  • Typoskript mit handschriftlichen Überarbeitungen
  • Typoskript mit handschriftlichen Annotationen
Datum: 11. September 1934
Seite von 14

An dasKreisstrafgerichtPrag.

Kläger: Karl Kraus, Eigentümer und Herausgeber der „Fackelin Wien,vertreten durch:

/ Vollmacht ausgewiesen sub G.Z. Tl VII 96/34 /

Beklagte: 1./ Lucien Verneau,

2./ Dr. Friedrich Bill, als verantwortlicher Re-dakteur, beide Prag II., Krakovská 13.

Strafanzeige resp. Klage

gemäss § 1 bis 3 des Ges. vom28.VI.1933.

Dreifach, 1 Rubrik.1 Beilage.

Der Privatkläger ist Herausgeber der in Wien erscheinenden Zeitschrift „Die Fackel“. Seit Jahrzehntenhat er keine Mitarbeiter und ist allein der Autor allerin dieser Zeitschrift erschienenen und erscheinenden Bei-träge. Im vergangenen Jahre ist nur 1 Heft (Nr. 888) dieser Zeit-schrift erschienen, die auch sonst nicht in gleichenZeitabständen herausgegeben wird.

Seitdem in Deutschland die Nationalsozialistenans Ruder gelangt sind und viele Emigranten ausserhalbDeutschlands Zeitungen gegründet haben, in welchen siegegen das Hitlerregime schreiben, sind in dieser, sichals „antifascistisch“ bezeichnenden Presse wiederholt Arti-kel erschienen, in welchen das Nichterscheinen der vom Pri-vatkläger herausgegebenen Zeitschrift „Die Fackel“ fest-gestellt und in verschiedener Weise gedeutet wurde.

Auch in der in Prag vierzehntägig erschei-nenden Zeitschrift „Aufruf“, deren Herausgeber derZweitbeklagte ist, war im November 1933 ein Artikel desErstbeklagten veröffentlicht, als dessen Einleitung ein

in der letzten Fackel veröffentlichtes Gedicht des Pri-vatklägers ohne dessen Einwilligung abgedruckt war. UnterHinweis auf den Inhalt dieses Gedichtes gibt der Verfasserdieses Artikels, der beklagte Lucien Verneau der HoffnungAusdruck, dass „aus den langen Tagen des Grübelns undSchweigens die Geburt eines um die Erde gehenden Aufrufeszu erwarten sei.

Nach Herausgabe de s r nächsten Heftes der Fackel,889 u. 890–905 Ende Juli 1934, ist in der am 1.IX.1934 erschienenen Doppel-nummer der Zeitschrift „Aufruf“ ein Artikel von Lucien Verneau, de s m Zweitbe-klagten, betitelt „Die Fackel schwelt“ veröffentlichtworden. Der Inhalt dieses Artikels weist schwere Belei-digungen des Privatklägers auf.

Der Beklagte Lucien Verneau polemisiert indiesem Aufsatze mit den in der Fackel vom Juli 1934 erschie-nenen Publikationen des Privatklägers. Da es zu umständlichwäre, den ganzen Inhalt dieses Artikels zum Gegenstandedes Pressprozesses zu machen und das Gericht mit der Lektüreder 8 ½ Seiten umfassenden Ausführungen des Zweitbeklagten zu befassen, Zum Verständnis muss kurz erläutert werden, was Lucien Verneau in diesem Artikel zum Ausdrucke bringen wollte:

Es handelt sich um Er vertritt die Ansicht der„antifascistischen“ Presse, dass es Pflicht jedesEhrbaren“ sei, gegen den „Hitler- und Austro-fascismus“ zu schreiben und behauptet, dass die vom Privatkläger in dem letzten Hefte der Fackel ausführlich begründete Unterlassungder Polemik gegen Hitler zu verurteilen sei. In diesem Artikel be-müht sich der Zweitbeklagte die Notwendigkeit einer solchenPolemik zu beweisen und die Ausführungen der in der Fackel erschienen Publikationen zu widerlegen. Dabei greift erdie Ehre de n s Privatklägers in unzulässiger Weise persönlich an.

Um das Material dieses Prozesses auf das not-wendigste Mass zu beschränken, werden nur jene Sätze unterAnklage gestellt, die in diesem Schriftsatze unterstrichenund mit Zahlen bezeichnet sind.

Der Autor des inkriminierten Aufsatzes ver-wahrt sich gegen den der „antifascistischen“ Journalistikgemachten Vorwurf, dass durch die Presse die in Deutschlandlebenden Gegner des Hitlerregimes an Leben und Freiheitgefährdet würden, bezeichnet die Zurückweisung seiner Erwartung auf einen „Aufruf“ als eine Verunglimpfung, indem er und schreibt:

1/ „Die Verunglimpfung wäre noch schwerer, wenn man hiernicht mildernd anrechnen könnte, sie zeige deutlich pa-ranoische Züge.

Hier wird vom Privatkläger ausgesagt, dass seineAusführungen Züge von Paranoia / Verblödung / aufweisenund deshalb einer milderen Beurteilung bedürfen, eine Be-hauptung, durch welche der Privatkläger zweifellos in denAugen des Lesers herabgesetzt und lächerlich gemacht wer-den soll und kann.

Gegen die Feststellung des Privatklägers, essei zu verurteilen, dass durch den Kampf für eine an sichgerechte Sache unschuldige Dritte gefährdert würden, wirdim inkriminierten Artikel bei deutlicher Kennzeichnung desPrivatklägers gesagt:

2./ „ Man kann aber auch Gewiß, man ‚kann ein Lump sein‘, wenn man jemandenin eine Gefahr bringt, man kann sogar ein Lump sein, wennman jemanden in eine Gefahr bringt und gleichzeitig auseiner anderen herauszieht, man kann aber auch ein Lump sein,wenn man jemanden vor einer kleineren Gefahr bewahrt undin einer grösseren drinlässt, bloss deshalb, weil man an derkleineren mitbeteiligt wäre und gleichzeitig behauptet, mantäte es nur seinetwillen. Er hat zwar noch niemals gelogenund es damit bewiesen, dass er den befürchteten Vorwurfauf andere abgewälzt hat; deswegen ist er aber noch immer-nicht der einzige Mensch auf der Welt, der sich vom ‚Verlag

der Fackel‘ nicht blöd machen lässt.

Durch diesen Satz soll der Leser den Eindruckgewinnen, der Privatkläger unterlasse die Polemik gegen dasHitlerregime nur deshalb, weil er an der Gefahr, die diesePolemik für die in Deutschland Lebenden mit sich bringt,mitbeteiligt, durch sie also mitgefährdet wäre, doch behaupteer fälschlich, die Polemik nur deshalb unterlassen zu habenund zu unterlassen, weil er die Gefährdung der anderenvermeiden wolle. Er begegne dem Vorwurf der Lüge, indem erdiesen Vorwurf auf andere abwälze, versuche in seiner Schriftalle anderen Menschen blöd zu machen, was ihm beim Autor desinkriminierten Artikels allerdings nicht gelungen sei.

Es wird also der Vorwurf der heuchlerischenund feigen Gesinnung erhoben und behauptet, der Privat-kläger trachte, wenn auch mit negativem ohne Erfolg, der Weltetwas vorzumachen, die Menschen blöd zu machen. Wiederumeine Behauptung, die die Absicht verfolgt und geeignet ist,den Privatkläger lächerlich zu machen und in den Augen desLesers herabzusetzten.

Die Tatsache, dass sich der Privatkläger mitder „antifascistischen“ Journalistik nicht zum Kampfegegen Hitler und Starhemberg zusammengeschlossen habe, wo-

durch der Zweitbeklagte und seine Gesinnungsgenossen ent-täuscht worden sind, wird in folgender Weise besprochen:3./ „Wie könnte sich das Phänomen, das nach 1000 Jahrender einzig überlebende Eckstein der Literaturgeschichte seinwird, das auf 300 Seiten in knappster Form auszudrücken ver-steht, was das Geschmeiss der Literaten in ein Paar Zeilenweitschweifig behandelt / ein Pfauenrad, das nur das erste-mal schön war /, herablassen zu tun was andere tun,Schulter an Schulter mit überhaupt jemandem zu stehen, wiekönnte der unvergleichliche Sprachbildner / der er ja nunwirklich ist / es mit seiner Würde vereinbaren etwas andereszu tun als sein Anhänger zu verblüffen, als einen erst-maligen unerwarteten Standpunkt zu beziehen, selbst dann,wenn es kein anderer sein kann als ein falscher? Aberdas mag er halten wie er will. Vom Begräbnis unserer Hoff-nungen zurückgekehrt, geht uns das wirklich einen Dreck an.

Durch diesen Satz soll zum Ausdrucke gebrachtwerden, der Privatkläger lehne es nur deswegen ab, den vonihm selbst als gerecht und notwendig erkannten Kampf gegenHitler und Starhemberg zu führen, weil er in massloser Selbst-überschätzung zu eitel ist, um das zu tun, was andere tun,

er wolle nur seine Anhänger durch seinen originellen Standpunkt verblüffenwill, selbst dann, wenn dieser Standpunkt – wie er gut weiss –falsch ist.

Es wird ihm also lächerliche Selbstüberschätzungund Eitelkeit sowie Verrat an der eigenen Gesinnung aus Ori-ginalitätssucht zum Vorwurfe gemacht.

Ferner wird unter Hinweis auf den Privatkläger Folgendes behauptet:

4./ „Der, der nur ‚um den Graben geht‘ hat durch ‚lukrati-ve‘ Umschlagtitel immer noch nicht genug verdient, um grosseSprünge machen zu können, zum Beispiel um durch langes Nicht-erscheinen und Akkumulierung der Spannung Aufmerksamkeitzu multiplizieren.

Durch diesen Satz drückt der Autor aus, derPrivatkläger habe – und zwar nur durch die geschickten undeindrucksvollen Umschlagtitel seiner Zeitschrift – vielGeld verdient. Diese scheinen ihm aber nicht zu genügen.Nur um noch mehr zu verdienen, habe er das Erscheinen derFackel zurückgehalten und dadurch bei seinen Lesern eineSpannung hervorgerufen, die einen erhöhten Absatz der Fackel und dadurch ein erhöhtes Einkommen des Privatklägers zurFolge haben muss. Das heisst: Der Privatkläger hat die Pole-

mik gegen die „Fascismen“ nicht aus den Gründen unter-lassen, die er selbst anführt, sondern nur um mit Hilfeder geschickt hervorgerufenen Spannung und Neugierde derLeser einen erhöhten Absatz seiner Schriften herbeizuführen,also mehr Geld zu verdienen. Da der Autor in dem inkrimi-nierten Artikel wiederholt und mit Nachdruck die Notwendig-keit des Kampfes gegen das in Deutschland und Oesterreichherrschende Regime betont, muss diese Behauptung zur Folgehaben, dass der Leser die Ueberzeugung gewinnt, der Privat-kläger unterlasse die Polemik aus niedrigen, das ist gewinn-süchtigen Motiven und verrate um des Gewinnes willendie eigene Gesinnung und die Sache der Menschlichkeit.

Es wurde bereits erwähnt, dass der Zweitbeklag-te seinem im November 1933 im „Aufruf“ veröffentlichtenArtikel den Abdruck eines in der Fackel erschienen Gedichtes des Privatklägers vorangesetzt hat. Wegen dieses Eingriffesin die Autorrechte des Privatklägers und wegen der fehlerhaf-ten Zitierung des Gedichtes hat dieser in berechtigter Wah-rung seiner Interessen durch Vermittlung seines Anwaltes eine im „Aufruf“ zu veröffentlichende und Erklärung verlangt, die später auch– allerdings vereinbarungswidrig – veröffentlicht e Erklä-rung verlangt wurde . Auf die dringende Bitte des Erstbeklagten hat der Privatkläger dann von einer gerichtlichen Verfol-

gung abgesehen. Auf diesen Umstand wird in dem inkriminiertenArtikel folgendermassen reagiert:

5./ „… hätte er die Verbesserung der Fehler mit wenigAufwand erreichen können. Stattdessen hat er – nach Ban-kierart – hinter sich einen Gerichtsvollzieher und einen Advo-katen, vor sich ein auf formaljuristische Wehrfähigkeitund Bankkonto abgeschätzes Angriffsobjekt, mutwillig mitder tschechoslowakischen Exekutivgewalt gedroht. – – – Ausserdem geniesst er den unfairen Vorteil, dass die Rezi-prozität der Rechtsbeziehungen zwischen Tschechoslovakeiund Oesterreich für uns nicht besteht, da wir es noch immernicht vermögen, dem Amtskollegen des Standrichters, derden verwundeten Mühnichreiter an den Galgen lieferte, unse-re Sachen zur Entscheidung vorzulegen, und vermöchten wir’s,den Prozess wahrscheinlich verlören, weil der Herausgeberder Fackel ja mittlerweile für einen glühenden Feyanhängergehalten wird und damit an jener, immerhin in’s Bräunlichehinüberspielenden, schwarzgelben Sicherheit partizipiert,die er, als er noch Beschützer der Bedrängten war, ausserAcht gelassen hat.

Hier wird dem Privatkläger zum Vorwurfe gemacht,er habe nach Bankierart, also offenbar mit den rücksichtslo-sen Methoden des Kapitalisten, mutwillig mit der tschechoslova-kischen Exekutivgewalt gedroht, um eine Leistung zu erzielen,die sonst nicht erfolgt wäre. Er habe dies getan, in dem Bewusst-sein, dass sein Angriffsobjekt, das ist der „Aufruf“,ihn in Oesterreich nicht belangen könne, da er mittlerweilefür einen glühenden Feyanhänger gehalten werde, wodurch erder Protektion der österreichischen Behörden teilhaftig geworden sei.In diesem Bewusstsein habe er, hinter sich einenGerichtsvollzieher und einen Advokaten, mutwillig, das heisstgrundlos, drohen können, weil er sich unter dem Schutz derösterreichischen Behörden sicher fühlt, den er, so lange er noch Beschützerder Bedrängten war, / heute sei er es nicht mehr / nicht inAnspruch genommen hätte. Dieser Vorwurf niedriger Gesinnung,der geeignet ist, den Privatkläger nicht nur lächerlich zumachen, sondern in der allgemeinen Meinung herabzusetzen, wur-de vom Autor des inkriminierten Artikels erhoben, trotzdemdieser wusste und wissen musste, dass die in diesem Passusbehaupteten Tatsachen unwahr sind.

Ferner ist in dem Artikel folgender Satzerhalten:

6./ „… aber für die endgültige Beibehaltung einesZustandes zu sein, der immerwieder nur Qualen, Wildheit,Unterdrückung produzieren kann, ist keinem Ehrbaren gestattet.

Vom Privatbeklagten wird daher ausgesagt, er tuedas, was kein Ehrbarer tun dürfe, wodurch der Vorwurf ehrloserGesinnung gegen den Privatkläger erhoben wird.

Unter Verwendung eines im letzten Hefte derFackel vom Privatkläger gebrauchten Ausdruckes und mit Hin-weis auf die betreffende Stelle in dem Beitrage der Fackel wird gesagt:

7./ „Für einen, der einen gesicherten Fensterplatz imCafé Imperial zu verlieren hat, ist der Unterschied zwi-schen Hitler und Starhemberg enorm. Für dreissig MillionenProleten in Deutschland und Oesterreich aber ist der Unter-schied zwischen Konzentrationslager und ihrem Lungererdasein,ihrem feuchten Schlafplatz, ihrer Freiheit des Verhungern-dürfens weit unbeträchtlicher … Das Hüben und Drübenist im Jahre der Schmach 1934 unerbittlicher als je, auchwenn er es nicht wahr haben will und wenn er vom Glanz dersiegreichen Christenkanonen mürbe gemacht, glaubt, uns linksliegen lassen zu können, um sich rechts in die Büsche zu schla-gen, so ist das ein doppelter Irrtum.

In diesen Sätzen ist vom Privatkläger Folgendesbehauptet: Er hat nichts zu verlieren, als einen gesicherten Fenster-platz im Café Imperial zu verlieren (das Café Imperial ist eines der elegantesten Kaffehäuser Wiens und damit soll gesagt sein, daß der Privatkläger in besonders guter Situation sei, die er verlieren könne) , deswegen schein t e ihm der Unterschiedzwischen Hitler, unter dessen Herrschaft er ihn verlierenkönnte, und Starhemberg, durch den der gesicherte Fenster-platz nicht gefährdet ist, enorm. Der Privatkläger erkenntnicht, dass für 30 Millionen Proletarier, die in grösstenElend leben, der Unterschied zwischen dem Leben inKonzentrationslagern, das ihnen durch Hitler droht, und ihremElendsdasein, welches sie auch unter dem gegenwärtigen öster-reichischen Regime zu führen verurteilt sind, weit geringer ist.Der Privatkläger ist vom Glanz der siegreichen Christenka-nonen mürbe gemacht worden und begibt sich in Sicherheit und unterdem Schutz des österreichischen Regimes, ohne Rücksicht darauf,was mit den anderen geschieht, für die er seinWort nicht zu erheben wagt, um seiner Sicherheit nicht verlustigzu werden.

Dies ist vielleicht der schwerste Vorwurf, derin diesem Artikel gegen den Privatkläger erhoben und durchwelchen dieser bezichtigt wird, aus egoistischen Motiven,Opportunismus und Feigheit gegen das österreichische Regimenicht zu schreiben und dadurch die Sache der Bedrückten zuverraten und zu gefährden.

Es ist somit der Tatbestand des § 1 bis 3gegeben, weswegen die Anzeige sowohl gegen den Autor desinkriminierten Artikels Lucien Verneau, als auch gegen denverantwortlichen Redakteur der Zeitschrift „Aufruf“, Dr. Fried-rich Bill, überreicht und gegen diese die Klage gemäss § 1 bis3 des Ges. zum Schutze der Ehre, sowie wegen Vernachlässigungder pflichtgemässen Sorgfalt mit dem Antrage erhoben wird,die Beklagten mögen nach dem Gesetze bestraft werden.

Die Stellung der übrigen Anträge wird der Anklage-schrift vorbehalten.

Prag, am 11.IX.1934.Karl Kraus.