195.20 Übersetzung der Anklageschrift von Karl Kraus gegen Aufruf (Egon Butschowitz und verantw. Red. Friedrich Bill)

Schreiberhände:

  • Oskar Samek, Bleistift

Materialitätstyp:

  • Durchschlag mit handschriftlichen Überarbeitungen
Datum: 29. November 1934
Seite von 12

Uebersetzung

Anklageschrift.

Der Privatankläger Karl Kraus, Eigentümerund Herausgeber der Zeitschrift „Die Fackel“ in Wien klagt:1./ Ing. Egon Butschowitz, wohnhaft in Prag-Pankrac / Generalien siehe Konstitut des Angeklagten /2./JUDr. Friedrich Bill, Advokat in Prag–II, Krakovská ul. / Generalien siehe Konstitut des Angeklagten /dass diese und zwar der Angeklagte ad 1./ als Autor, derAngeklagte ad 2./ als verantwortlicher Redakteur der in Prag erscheinenden Zeitschrift „AUFRUF“ in der am 1. September1934 erschienenen Nummer 22 bis 23 dieser Zeitschrift einenDie Fackel schwelt“ betitelten mit dem Pseudonym LucienVerneau gezeichneten Artikel veröffentlicht haben, in welchemüber den Privatankläger Tatsachen behauptet werden, welchegeeignet sind, ihn in der allgemeinen Meinung verächtlichund lächerlich zu machen oder herabzusetzen, wobei klar ist,dass die über den Privatankläger mitgeteilten Tatsachen un-wahr sind, was beiden Angeklagten bei der Verfassung, resp.Veröffentlichung bekannt war und bekannt sein musste.

Es wird daher gegen den Beklagten ad 1./ die Anklage gemäss§ 1 bis 3 des Gesetzes Nr. 108 ai 1933 und gegen den Beklag-ten ad 2./ die Anklage wegen der gleichen Delikte, sowie wegenUebertretung gemäss § 4 des Gesetzes vom 30.V.1924 Nr. 124der Gesetzesammlung im Wortlaute der Kundmachung des Justiz-ministeriums vom 7.7.1933 Nr. 145 der Gesetzesammlun g erhobenund die Bestrafung beider Angeklagten gemäss den eben zi-tierten gesetzlichen Bestimmungen beantragt.

Im Sinne des § 12 des Gesetzes Nr. 108 aus demJahre 1933 möge dem Privatankläger das Recht zuerkannt werden,die verurteilende Erkenntnis mit den Urteilsgründen auf Kosten

der Verurteilten veröffentlichen zu lassen und diese sollenim Sinne des § 34 des Gesetzes Nr. 108 aus dem 1933 zum Ersatzeder Kosten des Strafverfahrens, sowie der Rechtsvertretungdes Privatanklägers schuldig erkannt werden.

Die Hauptverhandlung soll vor dem Pressesenatdes Kreis-Strafgerichtes in Prag stattfinden / Zuständigkeitnach dem Gesetze vom 28.VI.1933 Nr. 108 der Gesetzesammlung /.

Es wird der Antrag auf Verlesung der Straf-anzeige vom 22.9.1934, des inkriminierten Artikels, sowieder Konstitute der Angeklagten G.Z. Tk XIX 9179/34 gestellt.

Begründung:

In Nummer 22 bis 23 der in Prag erscheinenden Zeit-schrift „AUFRUF“, deren Herausgeber und verantwortlicher Re-dakteur der zweitbeklagte JUDr. Friedrich Bill ist, wurde einvom erstbeklagten Ing. Egon Butschowitz verfasster, mit demPseudonym Lucien Verneau gezeichneter, „Die Fackel schweltbetitelter Artikel veröffentlicht, in welchem eine ganze Reihevon schweren Beleidigungen gegen den Privatankläger enthalten ist.Wiewohl der Artikel seinem ganzen Inhalte nach als beleidigendangesehen werden muss, beschränkt sich die Anklage auf dieVerfolgung der in dieser Anklageschrift angeführten Stellenund zwar:

1./ Die Verunglimpfung wäre noch schwerer, wenn manihr nicht mildernd anrechnen könnte, sie zeige deutlich para-noische Züge. Der Autor des inkriminierten Artikels führtan, dass der gegen eine Reihe von Schriftstellern in derZeitschrift des Privatanklägers erhobene Vorwurf der Sensa-tionserwartung eine Verunglimpfung darstelle, die noch schwe-rer wäre, wenn die Ausführungen des Privatanklägers , in denendieser Vorwurf erhoben wurde, nicht deutlich paranoischeZüge aufwiesen und deshalb einer mildernden Beurteilung be-dürften.

Durch diese Behauptung soll der Privatankläger in denAugen des Lesers herabgesetzt und lächerlich gemacht werdenund es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Behauptung,die Publikationen des Privatanklägers zeigten deutlicheZüge von Paranoia, das ist Verblödung, den Privatanklä-ger in den Augen der Leser lächerlich machen kann undherabsetzen muss.

2./ Man Gewiss, man kann aber auch ein Lump sein, wenn man jeman-den in Gefahr bringt, man kann sogar ein Lump sein, wennman jemanden in eine Gefahr bringt und gleichzeitig auseiner anderen herauszieht, man kann aber auch ein Lumpsein, wenn man jemanden vor einer kleineren Gefahr be-wahrt und in einer grösseren drinlässt, bloss deshalb,weil man an der kleineren mitbeteiligt wäre, und gleich-zeitig behauptet, man täte es nur seinetwillen. Er hatzwar noch niemals gelogen und es damit bewiesen, dass erden befürchteten Vorwurf auf andere abgewälzt hat; des-wegen ist er aber noch immer nicht der einzige Menschauf der Welt, der sich vom „Verlag der Fackel“ nichtblöd machen lässt.

Diese Stelle des inkriminierten Artikels soll eineErwiderung auf einen Passus, der in der Zeitschrift desPrivatanklägers und von diesem verfassten Publikationsein, in welcher der Privatankläger auf den gegen ihnin der „antifaszistischen“ Presse erhobenen Vorwurf,er habe die Polemik gegen das Hitlerregime unterlassen,ausführt, dass er es für strafwürdig halte, im gegen-wärtigen Zeitpunkte Publikationen herauszugeben, dieüber die deutsche Grenze geschmuggelt, Proletarierlebenin Gefahr bringen können.

Der inkriminierte Artikel will nun durch den oben

angeführten Satz beim Leser den Eindruck erwecken, derPrivatankläger unterlasse die Polemik gegen das Hitler-regime nur deshalb, weil er an der Gefahr, die diesePolemik für die in Deutschland Lebenden mit sich bringt,beteiligt, durch sie also mitgefährdet wäre, sei also er behauptejedoch, die Polemik nur deshalb unterlassen zu haben undzu unterlassen, um die Gefährdung der anderen zu vermeiden . , seialso ein Lump. Denn seine Diese Behauptung sei nur eine Vorwand Ausrede . Er begegne demVorwurf der Lüge, indem er ihn auf andere abwälze undversuche in seinen Schriften alle anderen Menschen blödzu machen, was ihm allerdings beim Autor des inkrimi-nierten Artikels nicht gelungen sei.

Diese inkriminierte Stelle enthält demnach denVorwurf der heuchlerischen und feigen Gesinnung, der Lumperei, und dieBehauptung, der Privatankläger trachte, wenn auch mitnegativem Erfolge, der Welt etwas vorzutäuschen, sie blödzu machen. Wiederum eine Behauptung, die die Absicht ver-folgt, und geeignet ist, den Privatankläger lächerlich zumachen, in der allgemeinen Meinung herabzusetzen.

3./ Wie könnte sich das Phänomen, das nach 1000Jahren der einzig überlebende Eckstein der Literaturge-schichte sein wird, das auf 300 Seiten in knappster Formauszudrücken versteht, was das Geschmeiss der Literatenin ein paar Zeilen weitschweifig behandelt, / ein Pfauenrad,das nur das erstemal schön war, herablassen zu tun wasandere tun, Schulter an Schulter mit überhaupt jemandemzu stehen, wie könnte der unvergleichliche Sprachbildner/ der er ja nun wirklich ist / es mit seiner Würde vereinbarenetwas anderes zu tun, als seine Anhänger zu verblüffen, alseinen erstmaligen unerwarteten Standpunkt zu beziehen, selbstdann, wenn es kein anderer sein kann als ein falscher?Aber das mag er halten wie er will. Vom Begräbnis unserer

Hoffnungen zurückgekehrt, geht uns das wirklich einen Dreck an.

Hier wird auf die Tatsache hingewiesen, dass sichder Privatankläger mit der „antifaszistischen“ Journalistiknicht zum Kampfe gegen Hitler und Starhemberg zusammengeschlos-sen habe, wodurch der Autor des inkriminierten Artikels undseine Gesinnungsgenossen enttäuscht worden seien. Dabei wirdjedoch behauptet, der Privatkläger lehne es nur deswegen ab,den von ihm selbst als gerecht und notwendig erkannten Kampfgegen Hitler und Starhemberg zu führen, weil er in massloserSelbstüberschätzung zu eitel sei, um das zu tun, was anderetun, weil er seine Anhänger durch seinen originellen Stand-punkt verblüffen wolle selbst dann, wenn er selbst wohl wisse,dass sein Standpunkt falsch sei. Es wird ihm also lächerlicheSelbstüberschätzung und Eitelkeit, sowie Verrat an der eigenenGesinnung aus Originalitätsucht zum Vorwurfe gemacht, Eigen-schaften, die in der allgemeinen Meinung verächtlich erscheinenmüssen. Der Autor des inkriminierten Artikels musste wissenund hat auch gewusst, dass die von ihm in diesem Zusammenhängeaufgestellten Behauptungen unrichtig sind, umsomehr als imHefte Nr. 890 bis 905 der Zeitschrift „Die Fackel“ die Gründe,aus welchen die Unterlassung d er ie Polemik gegen Hitler erfolgen eine Zeit lang musste unterlassen wurde , eingehend dargestellt sind. Schon im Heft 889 Oktober 1933 hat sich der PA ausdrücklich zu dieser Unterlassung bekannt.

4./ Der Aufruf , der nur „um den Graben geht“, hatdurch „lukrative“ Umschlagtitel immer noch nicht genug verdient,um grosse Sprünge machen zu können, zum Beispiel um durch lan-ges Nichterscheinen und Akkumulierung der Spannung Aufmerksam-keit zu multiplizieren.

In dieser Stelle soll zum Ausdrucke gebrachtwerden, dass der Eigentümer und Herausgeber der ZeitschriftAUFRUF“, das ist der Beklagte, Dr. Friedrich Bill, es sichnicht leisten könne, gleich dem Privatankläger durch langesNichterscheinen und Akkumulierung der Spannung Aufmerksamkeit

zu multiplizieren und den einen materiellen Erfolg zu erzielen,weil er trotz seinen – wie er zugibt – lukrativen Umschlag-titeln, die ihm in der FACKEL zum Vorwurfe gemacht werden,immer noch nicht genug verdient hat, um grosse Sprünge machenzu können. In diesem Passus wird vom Privatankläger behauptet,dass ihm daran gelegen sei, durch längeres Nichterscheinenseiner Zeitschrift „Die Fackel“ bei seinen Lesern eineerhöhte Spannung und Neugierde hervorzurufen, wodurch dannder Absatz der Zeitschrift erhöht wird. Da der Autor indem inkriminierten Artikel wiederholt und mit Nachdruck dieNotwendigkeit des Kampfes gegen das in Deutschland und Oester-reich herrschende Regime betont und darauf hinweist, dassdie Zeitschrift des Zweitbeklagten nicht in der Lage ist,ebenso, wie es der Privatankläger tut, durch längeres Nicht-erscheinen und die dadurch bei den Lesern hervorgerufeneSpannung einen erhöhten Absatz zu erzielen, muss durch dieseinkriminierte Stelle der Eindruck hervorgerufen werden, derPrivatankläger unterlasse die Polemik aus niedrigen, das istgewinnsüchtigen Motiven und verrate um des Gewinnes wegendie eigene Gesinnung und die Sache der Menschlichkeit.Dies sind Behauptungen, deren Unwahrheit beide Angeklagtenkannten und kennen mussten und die geeignet sind, das Ansehendes Privatanklägers herabzusetzen, diesen verächtlich zumachen.

5./ … hätte er die Verbesserung der Fehler mitwenig Aufwand erreichen können. Statt dessen hat er – nachBankierart – hinter sich einen Gerichtsvollzieher und einenAdvokaten, vor sich ein auf formaljuristische Wehrfähigkeitund Bankkonto abgeschätztes Angriffsobjekt, mutwillig mitder tschechoslovakischen Exekutivgewalt gedroht …Ausserdem geniesst er den unfairen Vorteil, dass die Rezipro-zität der Rechtsbeziehungen zwischen Tschechoslovakei und

Oesterreich für uns nicht besteht, da wir es noch immer nichtvermögen, dem Amtskollegen des Standrichters, der dem verwun-deten Münichreiter an den Galgen lieferte, unsere Sachen zurEntscheidung vorzulegen, und vermöchten wirs, den Prozess wahr-scheinlich verlören, weil der Herausgeber der FACKEL ja mitt-lerweile für einen glühenden Feyanhänger gehalten wird unddamit an jener, immerhin ins Bräunliche hinüberspielenden,schwarzgelben Sicherheit partizipiert, die er, als er nochBeschützer der Bedrängten war, ausser Acht gelassen hat.

Diese Stelle hat folgenden Sinn: Im November1933 war in der Zeitschrift „AUFRUF“ ein Artikel veröf-fentlicht, dem ohne Einwilligung des Privatanklägers einin der Zeitschrift „Die Fackel“ erschienenes Gedicht voran-gesetzt war. Wegen dieses Eingriffes in die Autorrechte desPrivatanklägers und wegen der fehlerhaften Zitierung desGedichtes hat dieser in berechtigter Wahrung seiner Interes-sen durch Vermittlung seines Anwaltes eine im „AUFRUFzu veröffentlichende und später auch – allerdings nicht in der vereinbar ungs-widrig ten Weise – veröffentlichte Erklärung verlangt. Auf die dringendeBitte des Angeklagten, Dr. Bill hat der Privatankläger dannvon einer gerichtlichen Verfolgung und von der Bezahlungeines Sühnebetrages zu Gunsten der von F.X. Šalda organisiertenEmigrantenhilfe abgesehen. In diesem Zusammenhange wird demPrivatkläger zum Vorwurfe gemacht, er habe nach Bankierart,also offenbar mit den rücksichtslosen Methoden des Kapitalisten,mutwillig mit der tschechoslovakischen Exekutivgewalt gedroht, um eine Leistung zu erzielen, die sonst nicht erfolgt wäre um sein Recht durchzusetzen .Er habe dies getan in dem Bewusstein, dass sein Angriffsobjekt,das ist der AUFRUF ihn in Oesterreich nicht belangen könne,da er mittlerweile für einen glühenden Feyanhänger gehaltenwerde, wodurch er der Protektion der österreichischen Behör-den teilhaftig geworden sei und weshalb gegen ihn in Oester-reich nicht eingeschritten werden könne. In diesem Bewusstsein

habe er, hinter sich einen Gerichtsvollzieher und einenAdvokaten, mutwillig, das heisst grundlos, drohen können,weil er sich unter dem Schutze der österreichischen Behör-den sicher fühle, den er, solange er noch Beschützer derBedrängten war /heute sei er es nicht mehr/, nicht in An-spruch genommen hätte. Dies ist ein Vorwurf niedrigerGesinnung, der geeignet ist, den Privatankläger nichtnur lächerlich zu machen, sondern in der allgemeinen Mei-nung herabzusetzen, wobei der dieser inkriminierten Stellevom Autor zugrundegelegte Tatbestand wissentlich falschangeführt ist. Es ist absurd Der PA weiß ganz gut, daß von einer „gl Taya“ nicht die Rede sein kann und daß selbst eine solche ihm vor einem österr. Gang keinen Schutz gegen eine Berichtigung Gewähr bin. NBNB von uns darauf hingewiesen wurde, dass

6./ … aber für die endgültige Beibe-haltung eines Zustandes zu sein, der immer wieder nurQualen, Wildheit, Unterdrückung produzieren kann, ist kei-nem Ehrbaren gestattet.

In diesem Zusammenhange wird vom Privat-kläger ausgesagt, er tue das, was kein Ehrbarer tun dürfe,wodurch der Vorwurf ehrloser Gesinnung gegen den Privat-kläger erhoben wird.

7./ Für einen, der einen gesicherten Fenster-platz im Café Imperial zu verlieren hat, ist der Unter-schied zwischen Hitler und Starhemberg enorm. Für 30 Milli-onen Proleten in Deutschland und Oesterreich aber ist derUnterschied zwischen Konzentrationslager und ihrem Lungerer-dasein, ihrem feuchten Schlafplatz, ihrer Freiheit desVerhungerndürfens weit unbeträchtlicher. [¿¿¿¿¿] … DasHüben und Drüben ist im Jahre der Schmach 1934 unerbitt-licher als je, auch wenn er es nicht wahr haben will undwenn er, vom Glanz der siegreichen Christenkanonen mürbegemacht, glaubt, uns links liegen lassen zu können, umsich rechts in die Büsche zu schlagen, so ist dies eindoppelter Irrtum.

Diese Sätze enthalten folgende Behauptung:Der Privatankläger hat nichts zu verlieren, als fürchtet einen gesicherten Fenster-

platz im Café Imperial zu verlieren und daraus erkläre sich seine geistige Haltung. / Das Café IMPERIAL ist eines der elegantesten luxuriösen Wiener-Ringstraßen Kaffeehäuser und es soll gesagt sein,dass sich der Privatankläger in besonders günstigen Ver-hältnissen befindet, die es ihm ermöglichen, einen Fen-sterplatz im Café Imperial einzunehmen, aus welchem er den gesicherten Platz, den er dort selbst einnehme – natürlich nur ein Symbol für sein Wohlleben – zu verlieren fürchte, nämlich von vort vertrieben werden könnte [¿¿¿¿¿] – und dies ist das einzige Risiko, da er zu befürchten hätte ,vertrieben werden könnte. Deswegen. Dies die Anschauung eines Literaten, der noch heute zum Schluss des von Beleidigungen strotzenden Artikels seinen Respekt vor einer 35jährigen geistigen Tätigkeit zu bekunden sucht, womit er sich allerdings sichtlich nur einen sentimentalen Abgang verschaffen will. Aus dem imputierten erbärmlichen Beweggrund materiellster Art schein t e ihm dem P.A. der Unter-schied zwischen Hitler, unter dessen Herrschaft er fürdiesen Fensterplatz Befürchtungen hegen müsste, und Star-hemberg, durch den der gesicherte Fensterplatz nicht ge-fährdet ist sei , enorm. Der Privatkläger erkenn t e nicht, dassfür 30 Millionen Proletarier, die im grössten Elend leben,der Unterschied zwischen dem Leben in Konzentrationslagern,das ihnen durch Hitler droht, und ihrem Elendsdasein,welches sie auch unter dem gegenwärtigen österreichischenRegime zu führen verurteilt seien, weit geringer sei.Der Privatkläger beg i e b t e sich, vom Glanze der siegreichenChristenkanonen mürbe gemacht, in Sicherheit und unterden Schutz des österreichischen Regimes ohne Rücksichtdarauf, was mit den anderen geschieht, für die er, nur umseiner Sicherheit nicht verlustig zu werden, sein Wortnicht zu erheben vermag. wage.

Dies ist wohl die schwerste Beleidigung, diein dem inkriminierten Artikel erhoben wurde und durch dieder Privatankläger bezichtigt wird, aus egoistischen Motiven,aus Opportunismus und Feigheit gegen das österreichischeRegime nicht zu schreiben und dadurch die Sache der Be-drückten zu verraten und zu gefährden. Zu dieser niedrigen Auffassung passt auch die höhnische Frage, ob denn der P.A. Besser wieviel Geld die Helleropfer „von ihm bisher bekommen haben“. In Wahrheit mehr, als die Redaktion des Aufruf sich geweigert hat, als Sühne für eben diesen Zweck zu bezahlen.

Der Angeklagte, Ing. Egon Butschowitz, welcherzugesteht, den Artikel geschrieben und der Redaktion zurVeröffentlichung übergeben zu haben, verteidigt sich damit,

dass der grösste Teil der vom Privatkläger als beleidigendempfundenen Ausdrucke ein blosses Zitat der von diesemin seinen Artikeln verwendeten Ausdrücke darstellt. Erhabe die Ehre des Privatanklägers und seiner Person nichtangreifen wollen und der inkriminierte Artikel sei nureine Antwort auf gewisse Sätze aus der FACKEL, die ernäher bezeichnen werde. Der zweite Angeklagte, Dr. FriedrichBill, gibt zu seiner Verteidigung an, er habe den inkrimi-nierten Artikel weder gelesen, noch geschrieben, noch inDruck gegeben, werde aber den Wahrheitsbeweis durchführen.

Die Rechtfertigung der beiden Angeklagtenkann natürlich selbstverständlich nicht standhalten. Insofern in dem inkriminierten Ar-tikel Ausdrücke des Privatanklägers aus dessen ZeitschriftDIE FACKEL zitiert werden, sind diese natürlich nicht unter Anklagegestellt. Unter Anklage stehen die Beleidigungen, welchevom Autor des inkriminierten Artikels gegen den Privatan-kläger erhoben wurden und zwar in dem Bewusstsein, dassdie vom Privatankläger behaupteten Tatsachen unwahr sind.Diese Behauptungen begründen den strafbaren Tatbestand der§§ 1 bis 3 des Gesetzes über den Schutz der Ehre.

Die Verteidigung des Angeklagten, Dr. Bill,kann diesen gleichfalls nicht exkulpieren, da es einfach unwahr ist, dasser den Artikel vor der Veröffentlichung nicht gelesen hat,zumal er nicht nur der verantwortliche Redakteur, sondernauch der Chefredakteur und Herausgeber der ZeitschriftAUFRUF ist, wo in der gleichen Nummer auf S 583 eine, wenngleich anonyme, beleidigende Notiz unter dem Titel „Zu diesem Karl Kraus“ veröffentlicht ist, worin ihm gleichfalls die ihm eigentümliche „Oppositionssucht“ u. zwar für einen von dem berühmten Führer der Sozialdemokratie Wilhelm Liebknecht 1899 veröffentlichten Artikel zum Vorwurf gemacht wird und gleichfalls behauptet wird, daß er heute auf Seite des Fey stehe. Er ist daher nicht nur gemäss §§ 1 bis 3 desGesetzes über den Schutz der Ehre, sondern auch gemäss § 4des Gesetzes vom 30.5.1924 Nr. 1924 der Gesetzesammlung im Wortlaute der Kundmachung des Justizministeriums vom7.VII.1933 Nr. 145 der Gesetzesammlung für den inkriminier-ten Artikel voll verantwortlich, sodass die Anklage gegenbeide Angeklagten mit vollem Recht erhoben wurde.

Prag, am 29.XI.1934. Karl Kraus.

Karl Kraus ca: Ing. Egon Butschowitz Dr. Bill / AUFRUF /

Uebersetzung

der Begleiteingabe zur Anklageschrift.

In der Strafsache des Privatklägers KarlKraus, Eigentümers und Herausgebers der ZeitschriftDie Fackel“ in Wien, gegen Ing. Egon Butschowitz und Dr.Friedrich Bill wegen des Vergehens gemäss § 1 bis 3 des Ge-setzes vom 26.6.1933 Nr. 108 der Gesetzesammlung, resp. § 4der Pressgesetznovelle in der Fassung der Kundmachung desJustizministeriums vom 7.7.1933 Nr. 145 der Gesetzesammlung überreicht der Privatkläger in der ihm mit Beschluss diesesGerichtes vom 21.XI.1934 G.Z. Tk XIX 9179/34-10 auferlegtenFrist die Anklageschrift.

Bei dieser Gelegenheit gestattet sich derPrivatkläger einen Irrtum zu berichtigen, der seinem Anwalte bei der Verfassung der Strafanzeige unterlaufen ist unddurch die wirre Stilisierung des inkriminierten Artikels hervor-gerufen verschuldet wurde. Dieser Irrtum betrifft die ad 1 und 4 derStrafanzeige angeführten inkriminierten Stellen. Es wirdhiermit ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Wort Verunglimpfung weder als Beleidigung empfunden, noch unter Anklage gestelltwird, sondern dass lediglich jener Passus der ersten inkrimi-nierten Stelle unter den Tatbestand des Vergehens gegen dieEhre fällt, in welcher ausgesagt wird, die Verunglimpfung,die in dem Vorwurfe der Sensationserwartung erblickt wird, zeige deutlich paranoische Züge. Die ad 4 angeführte in-kriminierte Stelle wurde in der Strafanzeige vom Anwaltedes Privatklägers offenbar missverständlich interpretiertund soll jedenfalls folgenden Sinn haben: In dieser Stellesoll ausgesagt werden, dass die Zeitschrift „AUFRUF“ es sich

nicht leisten könne gleich dem Privatankläger durch langesNichterscheinen und Akkumulierung der Spannung Aufmerksam-keit zu multiplizieren und den materiellen Erfolg zu er-zielen, weil der „AUFRUF“ trotz seinen lukrativen Um-schlagtiteln, die vom Autor des inkriminierten Artikels zugegeben werden und derentwegen ihm in der Zeitschriftdes Privatanklägers ein Vorwurf gemacht wird, immer nochnicht genug verdient hat, um grosse Sprünge zu machen.Trotzdem bleibt diese Stelle des inkriminierten Artikels,ebenso wie die ad 1 angeführte, inkriminierbar, doch wares notwendig zwecks Klarstellung des Sachverhaltes unddes strafbaren Tatbestandes auf diese dem Anwalte desPrivatklägers bei der Verfassung der Strafanzeige unter-laufenen Irrt u ü mer ausdrücklich hinzuweisen.

Prag, am 29.XI.1934.Karl Kraus.