27.21 Bitte um Einleitung einer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes (an die Generalprokuratur Wien)

Materialitätstyp:

  • Typoskript
Datum: 4. Juli 1927
Seite von 8

GeneralprokuraturWien.

als Anwalt des Privatanklägers Karl Kraus,Schriftsteller inWien III., Hintere Zollamtsstrasse 3.

1 fach

Bittet um Einleitung einer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrungdes Gesetzes.

Ich habe den Schriftsteller Karl Kraus in folgenden Angelegenheiten vertreten:

In der Nr. 827 des 3. Jahrganges der „Stunde“ vom 10.September 1925, Seite 5 und 6 erschien ein Artikel unterdem Titel „Dem Kiebitz ist nichts zu teuer oderKarl Kraus denunziert schon wieder die Sozialdemokraten“.In diesem Artikel war ein Brief des Karl Kraus vom10. Juni 1900 an Herrn Wilhelm Liebknecht vollinhaltlichabgedruckt. Hiedurch war die Uebertretung des § 45 Abs. 4des Urh.Ges. begangen worden. Ich habe deshalb in rechts-freundlicher Vertretung des Herrn Karl Kraus am 19.Jänner 1926 um Einleitung von Vorerhebungen gegen Dr.Max Siegelberg, dem verantwortlichen Redakteur derStunde“ und weitere unbekannte Täter gebeten. Dr. MaxSiegelberg wurde wegen dieser Uebertretung verurteilt.Später kam meinem Klienten zur Kenntnis, dass der Artikel mit dem veröffentlichten Briefe von Herrn Ernst Ely,Redakteur der „Stunde“ herrühre. Ich habe deshalb imAuftrage des Herrn Karl Kraus am 16. November 1926 diePrivatanklage innerhalb der subjektiven Verjährungs-frist angebracht. Die Vorerhebungen und das Verfahrengegen Dr. Max Siegelberg wurde zur G.Z. U XII 71/26,dass Verfahren gegen Ernst Ely zur G.Z. U XII 1761/26beim Strafbezirksgerichte I durchgeführt. In dem letze-ren Verfahren fand eine Hauptverhandlung statt, diezur Durchführung von Zeugenbeweisen vertagt werden musste.Vor Anberaumung der nächsten Hauptverhandlung fasstedas Strafbezirksgericht I in Wien am 4. Juli 1927 den Be-schluss, dass das Verfahren gegen Ernst Ely gemäss §46 St.P.O. (§ 531 St.G.) eingestellt werde, mit derBegründung, dass der Strafantrag am 16. November 1926 gestellt wurde und die erste Verfolgungshandlung gegen

den Beschuldigten am 4. Dezember 1926 geschah. Durchdie Strafgesetznovelle 1926 B.G.Bl. 192 betrage seitInkrafttreten der Novelle die Verjährungsfrist nichtmehr, wie zur Zeit der Tat, ein Jahr, sondern nur mehrsechs Monate, es sei daher Verjährung der bezüglichenStraftat eingetreten.

Die entscheidende Rechtsfrage ist, ob dieBestimmungen der oben erwähnten Strafgesetznovelle ausdem Jahre 1926 auch hinsichtlich der Verjährungsfristauf vor dem 1./9.1926, dem Tage an dem die Strafgesetz-novelle 1926 in Kraft trat, begangenen Handlungen zurück-wirkt. Das Gericht erster Instanz bejahte dies aus fol-genden Erwägungen:

Wenngleich im Art. IX der zitierten Straf-gesetznovelle nur den im Art. I enthaltenen Bestimmungenausdrücklich rückwirkende Kraft zugesprochen wird, sokann doch nicht etwa arg. a contr. die rückwirkendeBestimmung der Novelle dann verneint werden, wenn dieseRückwirkung sich aus anderen Gesetzesbestimmungen ergibt.Dies trifft aber hier zu. Gemäss Art. IX Kundmachungspatentzum St.G. ist eine allgemeine Rückwirkung strafgesetz-licher Bestimmungen auf vorher begangene Handlungendann ausser Frage, wenn die neuen Bestimmungen den Tätergünstiger stellen.

Der gegen diesen Beschluss eingebrachten Beschwerde wurde vom Straflandesgerichte I mit Beschluss vom 31./8.1927 G.Z. Bl XV 495/27 keine Folge gegeben und zwar imWesentlichen aus folgenden Gründen:

Strafgesetze wirken grundsätzlich zurück.Nur, wenn das neue Strafgesetz strenger wäre als dasjeni-ge, welches zur Zeit der Tat in Geltung stand, oder,wenn der Gesetzgeber ausdrücklich eine Ausnahme fest-

stellt, findet eine Rückwirkung nicht statt. Die Regel,dass das nicht strengere neue Strafgesetz zurück wirkt,gilt auch für den Bereich der Strafgesetznovelle vomJahre 1926, soweit sie nicht in Art. IX eine Ausnahmefestsetzt. Diese Ausnahme bezieht sich aber nur aufdie Wertgrenzen bei solchen strafbaren Handlungen, dienicht eine Summe Geldes ö.W. zum Gegenstande hatten.Es ist also nicht richtig, dass Art. IX St.G.N. 1926 die Rückwirkung nur auf Art. I der Strafgesetznovelle anordnet, im Gegenteile, Art. IX behandle jene Fälle,in denen die Rückwirkung des Art. I nicht Platz greift,auch wenn das neue Gesetz milder wäre. Daraus kann abernicht der Schluss abgeleitet werden, dass im übrigendie Regel des Art. IX des KMP. zum StG. nicht Platz zugreifen hätte. Wenn daher die Strafgesetznovelle tat-sächlich eine mildere Behandlung des Angeklagten, alsder frühere Rechtszustand zur Folge hat, dann ist diemildere Strafgesetznovelle anzuwenden. Es ist richtig,dass die auf die Uebertretung des § 45 Z. 4 des Urh.Ges. angedrohte Strafe nach neuem Rechte höher ist, als dienach früherem Rechte bestimmte Strafe. Allein Art. IXKMP. zum Str.G. spricht nicht von der strengeren Bestrafung,sondern von der strengeren Behandlung. Es muss also alsdas mildere Gesetz dasjenige angesehen werden, nach wel-chem der Täter im Einzelfalle eine günstigere Behandlungerfährt, die Auswirkung auf den konkreten Fall ist zuprüfen. Wenn jemand nach dem älteren Gesetze auch nurzu höchstens 300 S verurteilt werden kann, nach neuemGesetz aber, mag dieses auch eine Höchststrafe von2.500 S aussprechen, freigesprochen werden muss, so istzweifellos die Behandlung nach neuem Gesetze milderund es muss daher dieses angewendet werden.“ Ferner:

Im Strafrechte ist das neue Gesetz der Ausfluss einergeläuterten Rechtsanschauung und es wäre eine ungerecht-fertigte Härte, den Beschuldigten zu bestrafen, obwohles dem im neuen Gesetze zu Tage tretenden Rechtsempfin-den nicht mehr entspricht.

Die Entscheidung erster Instanz sagt also,dass Art. IX KMP. zum Strafgesetze eine allgemeine Rück-wirkung strafgesetzlicher Bestimmungen auf vorher be-gangene Handlungen ausser Frage ist, wenn die neuenBestimmungen den Täter günstiger stellen. Die Entschei-dung zweiter Instanz geht sogar so weit, zu behaupten,dass Strafgesetze grundsätzlich zurückwirken. Wenn diesder Fall wäre, dann wären Uebergangs- und Rückwirkungs-bestimmungen überhaupt überflüssig, es sei denn, dasseine Ausnahme von der Regel festgestellt wird. Dasdem aber nicht so ist, geht aus folgenden Gesetzesstellenhervor:

Art. II des Gesetzes vom 9. April 1910 Nr. 73 R.G.Bl. nimmt die Rückwirkungsbestimmungen auf und zwar inder Form, dass das Gesetz auf strafbare Handlungen, dievor dem Beginn seiner Wirksamkeit begangen wurden, inso-weit Anwendung findet, als der Schuldige nach den früherbestandenen Gesetzesbestimmungen einer strengeren Be-handlung unterliegen würde. Ebenso Art. III des Gesetzesvom 5. Dezember 1918 St.G.Bl. Nr. 92 (St.G.N. vom Jahre 1918) ;ebenso Art. V des B.G. vom 15. Dezember 1920 B.G.Bl. 5 vomJahre 1921 (III. St.G.N. vom Jahre 1920) ; ebenso Art. Vdes B.G. vom 20. Dezember 1921 B.G.Bl. 745 (St.G.N. vomJahre 1921). Besonders interessant und für die Beurtei-lung der Rechtsfrage wichtig sind:

Das B.G. vom 6. Dezember 1922 B.G.Bl. 881

(II. St.G.N. vom Jahre 1922) und das B.G. vom 17. Juli 1923B.G.Bl. 418, womit die II. St.G.N. vom Jahre 1922 ergänztwird. Die II. St.G.N. hatte keine Uebergangsbestimmungund sah die Rückwirkung der Novelle auf frühere straf-bare Handlungen nicht ausdrücklich vor. Dagegen im Wider-spruch damit eine Bestimmung, dass, wenn der Verurteilteim wieder aufgenommenen Verfahren bloss deshalb zueiner geringeren Strafe verurteilt werde, weil an Stelledes im ersten Urteile angewendeten Strafgesetzes einemildere Bestimmung dieses Gesetzes getreten ist, derVerurteilte auf Entschädigung keinen Anspruch habe,weil die Rückwirkungsbestimmung fehlte, sah sich dieGesetzgebung veranlasst, als zweiten Absatz desArtikels VI der II. St.G.N. vom Jahre 1922 die Rückwirkungs-bestimmung ausdrücklich aufzunehmen und ein Ergänzungs-gesetz zu erlassen. Der § 48 des B.G. vom 7. April 1922B.G.Bl. 218 über die Presse bestimmt, dass auf strafbareHandlungen die vor seinem Geltungsbeginn begangen wordensind, dieses Gesetz nur dann anzuwenden ist, wenn dasfrühere Recht für den Beschuldigten nicht günstiger ist.§ 6 des Gesetzes vom 25. Mai 1883 R.G.Bl. 78 über straf-rechtliche Bestimmungen gegen Vereitelungen von Zwangs-vollstreckungen bestimmt, dass sie auf solche Handlungen,welche vor der Wirksamkeit dieses Gesetzes vorgenommenwurden nur insoweit Anwendung finden, als dieselben nachden bisherigen Gesetzen einer strengeren Bestrafung un-terliegen würden. Der § 28 des B.G. vom 9. März 1921B.G.Bl. 253 über die Bestrafung der Preistreiberei, desSchleichhandels und anderer ausbeuterischer oder dieVersorgung der Bevölkerung gefährdender Handlungen(Preistreibereigesetz bestimmt, dass die §§ 1 bis 22 aufvorher begangene strafbare Handlungen nur insoweit An-wendung finden, als der Betroffene darnach keiner strenge-ren Behandlung unterliegt, als nach den bisher geltendenBestimmungen.)

§ 18 Abs. 2 des Gesetzes vom 25. Oktober 1901 R.G.Bl.Nr. 26 ex 1902 betreffend den Verkehr mit Butter, Käse,Butterschmalz, Schweineschmalz und deren Ersatzmittelbestimmt, dass die Strafbestimmungen der §§ 9, 10 und 11des G. vom 16. Jänner 1896 R.G.Bl. Nr. 89 ex 1897 betreffendden Verkehr mit Lebensmittel und einigen Gebrauchsgegen-ständen auf Handlungen, die unter die Strafbestimmungender §§ 15 bis 17 des Margarinegesetzes fallen, nur dannanzuwenden sind, wenn diese Handlungen vor der Wirksam-keit des gegenwärtigen Gesetzes begangen wurden.

Andere Rückwirkungsbestimmungen sind in denStrafgesetzen nicht enthalten. Man sieht daraus, dassder Gesetzgeber es trotz Art. IX KMP, zum St.G. für not-wendig befunden hat, in den meisten Fällen gleichwärtigeRückwirkungsbestimmungen zu treffen, die er gewiss nichtgetroffen hätte, wenn er der Ansicht gewesen wäre, dassStrafgesetze grundsätzlich zurückwirken oder auch nur,dass die Rückwirkung dann ausser Frage stehe, wenn dieneuen Bestimmungen den Täter günstiger stellen. Dievon mir absichtlich zitierte Bestimmung des Margarine-gesetzes, die scheinbar eine andere Ansicht voraussetzt,regelt in Wirklichkeit nur die Abgrenzung zwischen Lebens-mittelgesetz und Margarinegesetz für zukünftige Fälle,denn es ist selbstverständlich, dass die strengeren Be-stimmungen des Margarinegesetzes nicht auf strafbareHandlungen Anwendung finden können, die zur Zeit derBegehung unter die milderen Bestimmungen des Lebensmit-telgesetzes gefallen sind und es soll mit diesen Be-stimmungen nur ausgedrückt werden, dass das Lebensmittel-gesetz auf diejenigen Gegenstände nicht angewendet wer-den könne, die durch das Sondergesetz über Margarinegeregelt wurden, woferne nicht eine Regelung im Margarine-gesetz unterblieben ist, worauf dann subsidiär wiederdas Lebensmittelgesetz anzuwenden wäre. Man muss also

aus allen strafgesetzlichen Bestimmungen zu dem Schlussekommen, dass Strafgesetze auch dann nicht zurückwirken,wenn sie den Täter günstiger stellen, woferne der Ge-setzgeber dies nicht ausdrücklich sagt.

Kraus – „Stunde