68.2 Brief Justizrat Viktor Fraenkl an Samek
Materialitätstyp:
- Typoskript mit handschriftlichen Überarbeitungen
Schreiberhände:
- Viktor Fraenkl, schwarze Tinte
Sender
Justizrat | Victor FraenklPotsdamer Strasse 86 b
Berlin W.57
Empfänger
An: Herrn Rechtsanwalt Dr. O. SamekSchottenring
Wien
Sehr geehrter Herr College,
in der Angelegenheit des Herrn Karl Kraus gegen Alfred Kerr er-widere ich ergeben Folgendes:
I) In den von Reichsgerichtsräten und Ebermayer herausgegebenenKommentar ist der gesetzgeberische Gedanke, der dem § 198 StGB. zu Grunde liege, dahin formuliert: Wer beleidigt wurde und dieBeleidigung zunächst hingenommen hat, ohne den Beleidiger straf-rechtlich zu verfolgen, soll, wenn er selbst nachher den anderenbeleidigt und von diesem deshalb zur Rechenschaft gezogen wird,berechtigt sein, die ihm zugefügte Beleidigung noch nachträglichzu verfolgen.
In dem selben Kommentar wird die von der Praxis meist gebilligteAuffassung vertreten, dass diese „wechselseitigen“ Beleidigungennicht in einem ursächlichen oder tatsächlichen Zusammenhang zustehen brauchen. –
II) Ueber Klage und Widerklage ist gleichzeitig zu erkennen.Eine Ladung könnte Herrn Kraus wohl auf diplomatischem Wege zuge-stellt werden, soweit er als Kläger in Frage kommt, ganz abgesehendavon, dass er vom persönlichen Erscheinen entbunden werden kann.
III) Mir erscheint es aber vor allem sehr zweifelhaft, ob Kerr vor dem Berliner Gericht eine „Widerklage“ wegen angeblicherBeleidigungen in der „Fackel“ erheben könnte. Da Herr Kraus kein Reichsdeutscher ist, könnte er nur im Sinne des § 4 Nr. 1 StGB. hier verfolgt werden – ein Fall Tatbestand , der ja aber nicht in Fragesteht. Ebensowenig ist § 8 Abs. 2 Satz 2 StPO heranzuziehen, da es sichja um eine nicht im Inlande erschienene Druckschrift handelt.
Mit kollegialem Gruss!
Victor Fraenkl
Kraus – Kerr 8. Jan 1927