76.6 Brief Richard Flatter an Kraus

Materialitätstyp:

  • Typoskript mit handschriftlichen Überarbeitungen
  • Typoskript mit handschriftlichen Annotationen
  • Kopie

Schreiberhände:

  • Richard Flatter, schwarze Tinte
  • Karl Kraus, Bleistift

Sender

Richard Flatter
Mariahilferstr. 1B
Wien, | 6.
Datum: 18. Oktober 1932

Empfänger

An: Karl Kraus
Hintere Zollamtsstraße
Wien
Seite von 4

Sehr geehrter Herr Kraus!

Es ist mir – vor langer Zeit, gleichfalls in Shakespeare-Dingen – schon einmal widerfahren, dass ich auf ein an Sie gerichte-tes Schreiben vom Verlag „Die Fackel“ die Antwort erhielt. Das glei-che ist jetzt geschehen. Ich nehme das nicht als Unfreundlichkeit,zu der ich auch keinen Anlass gegeben habe. Sie werden für Ihr Ver-halten sicherlich Gründe haben und ich bin auch weder erstaunt nochgekränkt; ich bitte nur, mir zu gestatten, dass ich, gewohnt, jedemin die Augen zu schauen, dabei bleibe, Ihnen direkt zu schreiben.

Sie haben meine Absicht missverstanden. Es war mir, sosonderbar dies vielleicht auch klingen mag, wirklich nur darum zu tun,Ihnen eine Freude zu machen. Es ist wahr, Sie haben damals über michDinge geschrieben, die man kaum anders als Beschimpfungen be-zeichnen kann, haben die Gstanzeln über mich sogar bis in die letz-te Zeit öffentlich vorgetragen; aber:

Weil ihr mir Unrecht tut, sollt’ ich genau so handeln?Misshandeln könnt ihr mich, doch niemals mich verwandeln.

Ich war damals, wie es sich gehört, – und bin es auch jetzt nochzum Teil – beleidigt; aber dieses rein persönliche Gefühl konnteund kann meinen Respekt vor Ihrem Geist und Ihrer Sprachmeister-schaft nicht mindern. Warum sollte ich also einem, mit dem ich mich,über alles Persönliche hinweg, in einer Sache, in der Shakespeare-Verehrung, verbunden fühle und dem ich so viel Freude verdanke, nichtauch eine Freude machen? Es ist ja nur zu einem geringen Teil Eige-nes, was ich darbot; es ist ja Shakespeare, den ich Ihnen schickte!

Gänzlich fern lag es mir, Sie zu einer Revision IhresTadels meiner „Mass für Mass“-Übersetzung oder gar zu seiner öffent-lichen Widerrufung veranlassen zu wollen. Ich selbst verurteile heu-te meinen „Mass für Mass“-Text – aus andern Gründen allerdings alsden Ihrigen – und würde ihn keiner Bühne mehr überlassen oder garzum Druck liefern. Auch wäre es unsinnig, von Ihnen verlangen zu wol-

len, Sie sollten meine damalige Übersetzung eines Dramas nachträglichbloss deshalb für gut halten, weil ich seither ein paar Sonette vielleichtbesser übersetzt habe, als dies andern gelungen ist. Nicht Ihr Urteilüber die eine Verdeutschung von damals sollten Sie umstürzen, sondern –vielleicht! – Ihr Urteil über meine Übersetzerfähigkeiten überhaupt. DasUrteil über das Jugendwerk eines Malers, von ihm selbst mitunterschrieben,soll aufrecht bleiben; aber der Maler hat seither Anderes, vielleicht Bes-seres gemalt! Es wäre Unrecht, jenes eine Urteil unrevidiert auf das ge-samte spätere Werk des Malers auszudehnen.

Sie drei Tage blind sein und obendrein dürsten und hungernzu lassen, das habe ich Ihnen wirklich nicht zugedacht; nicht einmal fürdie Beleidigungen hätte ich Ihnen diesen Dunkelarrest zudiktiert. Nein,so bin ich wahrhaftig nicht! Mir aber ist es – nicht gerade wörtlich –so widerfahren; ich bin tatsächlich als Shakespeare-Übersetzer den Wegnach Damaskus gegangen: Von meinen nun bald 13 Übersetzungen bewerte ichselbst nur die letzten drei als gut und Shakespeare würdig; die früheren,einschliesslich „Mass für Mass“, betrachte ich heute nur noch als Vorar-beiten, die ich in ihrer jetzigen Gestalt niemals veröffentlichen oderaufführen lassen würde. Die Gründe darzulegen, würde zu weit führen undich möchte auch Ihre Zeit und Geduld nicht allzu sehr in Anspruch nehmen;aber diese Selbsteinschätzung meiner früheren Arbeiten zeigt wohl, dassmein Weg zu Shakespeare – spät, aber doch nicht zu spät – eine völligeUmkehr erfahren hat, dass ich heute ein anderer bin als ich damals war.Und sie zeigt vor allem auch, dass es mir unmöglich darum zu tun seinkonnte, Sie zu einer Änderung Ihrer von mir selbst geteilten „Mass fürMass“-Beurteilung bewegen zu wollen.

Ich konnte mir auch nicht einfallen lassen, zu glauben, Siekönnten meine Sonett-Übersetzungen veröffentlichen; weiss ich doch, dassSie schon seit vielen Jahren fremde Arbeiten in die „Fackel“ nicht mehraufnehmen. Und dass Sie die verschiedenen Verdeutschungen der Sonette zumGegenstand einer „sprachkritischen Untersuchung“ machen wollen, hätteich, in Erinnerung an das Macbeth- und Lear-Heft, vielleicht ahnen können,aber – was hilft’s? – ich ahnte es nicht. Es bleibt also, sehr geehrterHerr Kraus, keine andere Erklärung für mein sicherlich absonderlichesVorgehen, als dass ich mit meiner Zusendung Ihnen eine Freude machen woll-te. Nehmen Sie mir’s nicht übel, es war nicht bös gemeint!

Obwohl also meine Absicht durchaus privat und keinesfallsauf eine Veröffentlichung gerichtet war, so bin ich trotzdem, da ja meinShakespeare-Wirken, ob früher oder später, doch in die Öffentlichkeit

münden muss, ohne weiters damit einverstanden, dass Sie von meinen Über-tragungen den angedeuteten Gebrauch machen. Diese Zustimmung zum Abdruckbezieht sich, Ihrem Wunsch gemäss, auf die Sonette 81, 116, 129. (Nichtaber auf meine Briefe, die, wie ich wohl kaum betonen muss, jedenfalls pri-vat gemeint und nur für Sie persönlich bestimmt sind.) Ich will sogar mehrtun: Ich weiss zwar, dass ich Ihnen damit Werkzeug zu meiner eigenen Hin-richtung liefere; ich weiss aber auch, wie packend und aufwühlend Ihresprachkritische Vergleichung oder gar Ihre eigene Nachdichtung wäre – unddiese Dinge sind zweifellos wichtiger als meine Reputation. Ich mache michdaher erbötig, Ihnen alles etwa noch fehlende Material zur Verfügung zustellen, so das Original der drei Sonette samt einer möglichst wortgetreuenProsaübersetzung, weiters die Übersetzungen, die mir noch zur Verfügungstehen; es sind dies die von Bodenstedt, Gelbcke und Simrock. Sollten Sieetwas gebrauchen wollen, so bitte ich um Verständigung.

Mit vorzüglicher HochachtungDr. Flatter

Ich habe kürzlich über Aufforderung eines Freundes einen Aufsatzdarüber geschrieben, warum und zu welchem Zwecke ich es unternehme, Shake-speare neu zu übersetzen. Der erste Teil enthält meine Stellungnahme zuden Arbeiten von Schlegel, Rothe und Gundolf; ich habe ihn weggenommen, weiler Sie kaum interessieren dürfte. Dagegen erlaube ich mir, den übrigen Auf-satz zu übersenden, der vielleicht – wenn Sie die Freundlichkeit haben soll-ten, ihn durchzusehen – imstande ist, das Besondere darzulegen, das ichnunmehr bei meiner Art, Shakespeare zu übersetzen, verfolge. Diese Inten-tionen, nämlich über die philologische Wörtlichkeit hinaus trotz Einhaltungdes Rhythmus und allenfalls auch noch des Reims das wiederzugeben, was manmit einem allerdings unzulänglichen Wort als den Tonfall Shakespeares be-zeichnen kann, hatte ich bei meinen früheren Arbeiten nicht. Und das istder Grund, warum ich sie diese heute verurteile und warum ich gezwungen bin, siespäter einmal neu zu arbeiten.

Ich weiss, dass Sie die Aufgabe des Übersetzers anders auffas-sen; ich weiss dies nicht nur aus Ihrem letzten Brief, sondern auch ausdem Macbeth- und Lear-Heft der „Fackel“. Es ist wohl richtig, dass bei denSonetten und den übrigen in den Dramen verstreuten Gedichten die Aufgabevor allem darin bestehen muss, ein Gedicht zu schaffen und nicht ein müh-

selig dahinkriechendes Produkt eines anglistischen Seminars, dass daherdem Übersetzer hier mehr Freiheiten als sonst zugebilligt werden müssen; beiden Dramen meine ich aber, dass nicht nur eine möglichst getreue, wennauch nicht gequälte Wörtlichkeit wiedergegeben werden muss, sondern auchdas, was den spezifischen Tonfall der eben sprechenden Person in ebendiesem Augenblick darstellt. Aber damit bin ich bereits mitten in dem,was Sie selbst, sehr geehrter Herr Kraus, in Ihrer kritischen Abhandlunguntersuchen wollen; ich schweige daher, bin aber schon heute auf dashöchste gespannt, Ihre Arbeit kennenzulernen.

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