134.22 Schriftsatz zur Vorbereitung der Hauptverhandlung (Samek an das Strafbezirksgericht I Wien, G.Z. 4 U 1095/29)

Schreiberhände:

  • Oskar Samek, Bleistift

Materialitätstyp:

  • Durchschlag mit handschriftlichen Annotationen
Datum: 24. Juni 1930
Seite von 14

24. Juni 1930.Dr.S/Fa.

G.Z. 4 U 1095/29

An dasStrafbezirksgericht IWien.

Privatankläger: Dr. Paul Amadeus Pisk, Musiker undMusikschriftsteller, Wien IV., Schleif-mühlgasse Nr. 19,

durch:Dr. Otto Pisk,Rechtsanwalt

als Verteidiger desBeschuldigten: Karl Kraus, Schriftsteller in WienIII., Hintere Zollamtsstrasse Nr. 3,

wegen Ehrenbeleidigung.

1 fach 1 Vollmacht7 Beilagen.

Schriftsatz zur Vorbereitung der Hauptverhandlung.

Den Wortlaut der vom Privatankläger unterAnklage gestellten Beleidigungen durch Zeugen festzustellen, istüberflüssig. Die Zusatzstrophe zum Höflings-Lied und die Vorbe-merkung dazu, die Herr Karl Kraus am 7. Juni 1929 vortrug, sindauf Seite 83 der August-Nummer 1929 der Fackel, die Ausführungen,die er am 10. Juni 1929 machte, in der gleichen Nummer SeiteA/75 bis 84 (811 bis 819 des 31. Jahrganges der Fackel) abgedruckt.

Da Herr Karl Kraus niemals frei spricht son-dern immer vorliest, ist der Abdruck die einzige verlässlicheWiedergabe dessen, was bei dem Vortrag vorgefallen ist. Ueber diewörtliche Kongruenz des tatsächlich Gesprochenen und des späterGedruckten gibt es keinen Zweifel. Jeder Zeuge, der etwas anderesbekundet als was im Druck als gesprochener Text wiedergegeben ist,würde die Unwahrheit sagen, und hunderte Gegenzeugen würden ihmwidersprechen. Diese können geführt werden und überdies dieManuskripte, aus denen gesprochen wurde und die mit dem Druck über-einstimmen, vorgewiesen werden, wenn der leiseste Zweifel möglichwäre, ob der mit dem Datum des Vortrags versehene Druck mit demWortlaut der Rede übereinstimmt. Es ergibt sich daraus, dass derAusdruck Schlieferl am 7. Juni 1929 vom Vortragenden nicht „wie-derholt“ wurde, sondern dass er nur einmal gebraucht wurde, dassnicht davon die Rede war, ein Schlieferl sei im Saale anwesend,sondern dass von einem Schlieferl gesprochen wurde, das sich inden Vortragssaal „verirrt hat und an einer Zusatzstrophe Aergernisnahm.“ Aus dieser Zeitform geht schlüssig hervor, dass die An-klage auf der willkürlichen Konstruktion eines nicht vorhandenenSachverhaltes beruht: auf der falschen Beziehung einer Rede durchdas Missverstehen der in ihr enthaltenen Zeitangabe. Doch schonaus der Tatsache allein, dass der Vortragende Vorbemerkung und

Zusatzstrophe von einem Zettel ablas, geht schlüssig hervor, dasssich die Satire gegen eine Person richten musste, die sich ineine frühere Vorlesung verirrt und an einer Zusatzstrophe Aerger-nis genommen hatte. Dass der Privatankläger sich auch in dieBlaubart-Vorlesung verirrte und [Steno] an einer Zusatzstrophe Aergernisgenommen hatte, ist ein Sachverhalt, der dem Wissen des Vortra-genden nicht erschlossen war. Ausser dem Privatankläger selbsthat niemand gewusst, dass er sich auch früher in diesen Saal ver-irrt und an einer Zusatzstrophe Aergernis genommen hatte. Dassder Privatankläger dies getan hat, dass er weiters gesagt hat,Herr Karl Kraus sei kein Sänger, wurde diesem von befreundeterSeite zur Kenntnis gebracht, daraus konnte er schliessen undschloss er, dass dies die Taktik sein werde, mit der sich die Ar-beiter-Zeitung aus ihrer Blamage mit Offenbach herauszudrehen ver-suchen werde. Ob dies in Form der Kritik eines der Fachreferentenoder in anderer Form etwa gelegentlich einer späteren Polemik ge-schehen werde, ging daraus selbstverständlich nicht hervor. Die An-wesenheit des Fachreferenten am 7. Juni, also an dem Abend, an demder Vortragende die künftige Haltung der Arbeiter-Zeitung prophe-zeite und von einem Schlieferl sprach, war dem Vortragenden absolutunbekannt, und erfuhr sie erst aus der Behauptung des Referats. Kei-nesfalls wäre die Anwesenheit des Privatanklägers oder seine An-stossnahme an einer Zusatzstrophe „vielleicht aus einer abwehren-den Bewegung, die er möglicherweise gemacht hat, ohne sich dessenbewusst zu sein“, für Herrn Karl Kraus bemerkbar gewesen, da dieVorträge bei total verdunkeltem Saal stattfinden, und dem Vor-tragenden das Publikum unkenntlich bleibt. Aber selbst bei voll-beleuchtetem Saal, und auch wenn ihm der Vortrag die Möglichkeitzu Beobachtungen im Saalraum liesse, hätte der Vortragende dieihm völlig entrückte Physiognomie des Herrn Pisk und seine „mög-licherweise“ gemachte Abwehrbewegung nicht wahrgenommen. Die Be-hauptung, dass der Beschuldigte den Klägerseit mehreren Jahren,besonders seit dem Jahre 1924 kennt“ ist nur insofern richtig,als er ihn eben damals flüchtig gesehen hat, als er an der Musikzum „Traumstück“ mitwirkte. (Darüber berichtet wurde in derFackel mit keinem Worte.) Er würde ihn bestimmt auf der Strassenicht widererkennen. Die Vorstellung, dass er ihn nach fünf Jahren

im stockdunklen Saal agnoszieren musste, zeigt von nicht geringemSelbstbewusstsein, wie nicht minder die Idee, dass Herr Karl Kraus,wenn er wüsste, dass Herr Pisk vor ihm sitzt, ihn apostrophierenwürde. Es heisst, das Wesen der Podiumswirkung geistig und nerven-mässig verkennen, wenn man dergleichen auch nur für möglich hielte.Der Privatankläger kann darüber vollkommen beruhigt sein, dassweder der ahnungslose Vortragende noch irgendein Hörer – es wäredenn ein persönlich bekannter – eine Anwesenheit im Saale bemerktund konstatiert hat. Kein Zuhörer würde den Bewegungen eines ande-ren Hörers – und wäre es selbst der Referent der Arbeiter-Zeitungwährend des Vortrags seine Aufmerksamkeit schenken. Aber sogarwenn Herr Karl Kraus gewusst hätte, dass der Privatankläger im Saalanwesend war, und auch wenn ein Grossteil des Publikums ihn erkannthätte – was zu vermuten ja absurd ist –, war die Beziehung auf denPrivatankläger schon deshalb nicht herzustellen, weil damals HerrnKarl Kraus lediglich bekannt war, dass „ein Schlieferl“ an einerZusatzstrophe Anstoss genommen habe, als welches ihm überhauptkeine konkrete Person, sondern nur der Vertreter des journalisti-schen Typus gegenwärtig war. Nichts liegt dem Beschuldigten fernerals die bekannte Methode einer Verteidigung, man habe den Kläger „nicht gemeint“. Gemeint ist jeder, der zum Typus gehört und sichals Vertreter vorstellig aber nicht jeder ist das polemische Objekt,dessen Erkennbarkeit auch die juristische Voraussetzung herstellt.

Erkennbar und beleidigt war der Privatankläger erst durch seine eigene Kritik vom 9. Juni 1929, zumal da er indieser Kritik, sowie vorausgesagt wurde, pünktlich bekannte, dassOffenbach nicht „verklungen und vertan“ ist, dass an dem Uebel-stand lediglich schuld sei, dass Herr Karl Kraus nicht singen könne.Für diese nachträgliche Erkennbarkeit ist aber Herr Karl Kraus

nicht verantwortlich. Es könnten auch vom Beschuldigten einegrössere Anzahl von Zeugen geführt werden, die die Stelle desVortrages auf Herrn David Bach gemünzt haben, den Kunstchefder Arbeiter-Zeitung, weil dieser ja sowohl in der Vorbemerkungals auch in der Zusatzstrophe tatsächlich mit Namen genannt wird.Aber auch diese Deutung wäre also gewesen, da es Herrn KarlKraus überhaupt nicht darauf ankam, gegen eine bestimmte unge-wichtige Person Satire zu üben, sondern lediglich gegen das Zen-tralorgan der Sozialdemokratie, dessen zufälliger Vertreter javollständig gleichgiltig war, dessen „Schlieferl- und Tinterltumer aber nachweislich seit Jahren als jene wirkende Kraft kenn-zeichnet, deren Walten allen früheren enthusiastischen Bekenntnis-sen zu Karl Kraus Hohn spricht.

In gleicher Weise ist die Polemik vom 10.Juni 1929 nicht den Privatankläger als Person sondern gegendas Zentralorgan der Sozialdemokratie gerichtet und sie befasstsich mit dem Privatankläger nur insoweit, als sein Aufsatz dieGrundlage dieser Polemik bildete. Die Behauptungen der Klage, HerrKarl Kraus habe den Artikel zur Hand genommen und versucht, ihnSatz für Satz zu zerpflücken, indem er jedesmal einleitend sagte:das Schlieferl schreibt“ oder „das Schlieferl schreibt weiter“,sind zur Gänze unwahr. Bis auf den letzten Satz der Ausführungenist zwar vom „Schlieferl- und Tinterltum“, von „Schlieferl-Praktiken“ gesprochen worden, niemals aber von einem Schlieferl. Es ist überflüssig an jeder einzelnen Stelle zu sagen, dass dieBehauptungen der Klage unrichtig sind. Gleichwohl darf die Ver-zerrung eines geistigen und moralischen Sachverhalts in dem Satz:der Beschuldigte fühlt sich seit einiger Zeit dadurch zurückge-

setzt, dass seine Bedeutung in der Presse Wiens nicht nach Ge-bühr gewürdigt wird“ nicht ungewürdigt bleiben. Es ist eineallgemein bekannte Tatsache, dass sich die bürgerliche PresseWiens für den dreissigjährigen Kampf der Fackel durch Totschwei-gen gerächt hat, neu, aber gewiss nicht unberechtigt ist derStolz, mit der sich die sozialdemokratische Presse ihr anschliesst,seitdem die Fackel ihre Laster mit denen der bürgerlichen Presseidentifiziert. Immerhin ist das Zugeständnis beruhigend, dass die-se schon eher kulturgeschichtliche Wirksamkeit nicht in das„Ressort“ des Privatanklägers fällt. Warum sollte man also geradediesem das Totschweigen nachtragen? Die Behauptungen, dass derBeschuldigte gesagt habe, ein Schlieferl sei „hier im Saal anwesend;mit ein paar Slezaks nehme er es noch auf; er wisse, er werde ver-urteilt werden; der Privatankläger sei ein kümmerlicher Schönberg-schüler“; und andere widersprechen dem gedruckten Wortlaut derReden. Unwahr ist, dass der Wortwitz „Korrepetite“ sich auf diebekannte Tätigkeit“ des Privatanklägers bezog; er bezog sich aufdie Anmassung, Herrn Karl Kraus Rythmus lehren zu wollen. DieTätigkeit des Privatanklägers als Korrepetitor war ihm so wenigbekannt, wie er „wusste und sah, dass Herr Pisk am 7. Juni im Saalanwesend war“. Dies als „zweifellos“ hinzustellen, ist einiger-massen übertrieben. Auch in dem letzten Satz der Ansprache vom10. Juni wurde der Privatankläger nicht als „Schlieferl“ apo-strophiert, sondern gesagt, dass der Vortragende, „sollte derMusikfachmann, der behauptet hat, dass ihm die Bezeichnung‚Schlieferl‘ gelte, wieder anwesend sein, ihm noch bessere Nervenwünsche als sich selbst, denn er beneide ihn nicht um die geradezuelementare Wirkung die er auf sein Publikum als Schriftstellerdurch Polemik und Satire erziele.“ (Eine der Kritik des Privat-anklägers entnommene Wendung.)

Da jedoch der Privatankläger die Exekutiveder an Herrn Karl Kraus geübten Schlieferl-Praktiken und des gegenihn wirkenden Schlieferl- und Tinterltums tatsächlich übernommenhat, so könnte das Gericht vielleicht den Standpunkt einnehmen, dassHerr Karl Kraus, um freigesprochen zu werden, einen Wahrheitsbeweisführen müsse, und diesen Wahrheitsbeweis trete ich nunmehr als Ver-teidiger des Herrn Karl Kraus an.

Zuerst möge eine Begriffsfeststellung vorge-nommen werden. Nach Sanders bedeutet: schliefen = kriechen sieheschlüpfen; schlüpfen = gleitend oder wie gleitend, schnell, behend,unvermerkt und durch eine enge Oeffnung, einen eng umschlossenenoder so gedachten Raum sich bewegen, gw. mit Absicht (vereinzeltauch ohne Absicht), eig. und übertr. Davon der Schliefer, z.B.Dachs-Schliefer. Schliffel = Schlingel. Nach Adelung bedeutet:schliefen = sich schleifend oder kriechend in einem engen Raume be-wegen. kriechen. Z.B.: Durch einen Zaun schliefen. Vor Angst in einMausloch schliefen wollen. Die Dachshunde schliefen in die Dachs-löcher. Das Intensivum ist schlüpfen, das eine engere Oeffnung,mehr windende Bemühung und eine grössere Glätte oder Biegsamkeitdes Leibes voraussetzt: sich mit einem glatten oder biegsamen Körperdurch eine enge Oeffnung winden, da es denn auch oft in weiterer Be-deutung für schnell kriechen oder schnell schleichen überhaupt ge-braucht wird. Der Schliefer = Ein Ding, welches schliefet.

Nach Hügel, Wiener Dialektwörterbuch (Lexikon der Wiener Volks-sprache, Idiotocon Viennense) Hartleben 1873, bedeutet: schliarf’n= sich kriechend in einen engen Raum begeben; sich um die Gunst vonJemand bewerben. Z.B. Der N. möchd’ unsern Herrn ordentli’ inHintern schliarf’n (d.h. sich bei ihm einschmeicheln). Und nachJakob, Wörterbuch des Wiener Dialektes, Gerlach und Wiedling 1929:

Schliaferl = widerlicher Schmeichler, Liebediener. Es ist also derBeweis möglich, dass die sich den Anschein der Sachlichkeit gebendeKritik des Privatanklägers nur zu Gefallen der redaktionellen undparteimässigen Auftraggeber und im Anschluss an die zwischen HerrnKarl Kraus und der Arbeiter-Zeitung bestehenden Polemik geschriebenworden ist.

Zur Erläuterung muss etwas weiter ausgeholtwerden. Herr Karl Kraus, der dem Sozialismus gefühlsmäßig nahe-steht, hat bald nach der Zeit des Krieges, in der eine mannhaftereHaltung der sozialdemokratischen Partei zu verzeichnen war, beob-achten und aussprechen müssen, dass sie genau so wie die bürgerli-chen Parteien Opportunitätspolitik betreibe und ihre Einstellungzu Leben und Kunst ganz der Schablone des von ihr weiterhin, alsopharisäisch bekämpften Bürgertums angenommen habe. Da die Sozial-demokratie diese Unmutsäusserungen des Herrn Karl Kraus als partei-disziplinwidrig empfand, einer sachlichen Polemik aber nicht ge-wachsen war und zu einer Aenderung ihrer Haltung nicht die Kraftaufbrachte, begnügte sie sich mit einer Aenderung ihrer Haltunggegenüber dem bis dahin panegyrisch gefeierten Herrn Karl Kraus, denaber kein Lob zur Unterdrückung der erkannten Wahrheit bestimmenkonnte. Zuerst durch Totschweigen, dann durch kleinliche Schikanen.Herr Karl Kraus hat dies in seinem Vortrag vom 22. September 1928,veröffentlicht in den Nummern 795 bis 799 des 30. Jahres der Fackel,B/Rechenschaftsbericht“ ausführlich dargestellt. Die Arbeiter-Zeitung entgegnete in zwei umfänglichen Artikeln vom 23. und 25. Dezember1928 „Auseinandersetzung mit Karl Kraus“, die aber ein einzigerGallimathias waren. Interessant für diesen Prozess ist lediglichdas, was dort über die Offenbach-Vorlesungen gesagt wird. DieArbeiter-Zeitung, der das Totschweigen der Offenbach-Erneuerung vor-

geworfen war, meinte, dass sie die Offenbach-Vorlesungen deshalbnicht beachtet habe, weil sie „über die Möglichkeit und Notwendig-keit einer Wiederbelebung der Offenbach-Operetten anders denke“.Sie sagte, dass sie der Meinung sei, „diese Kunst aus dem Geistedes dritten Kaiserreiches sei verklungen und vertan.“ Die Arbeiter-Zeitung musste selbst bald zu der Erkenntnis kommen, dass dieseEinstellung zu Offenbach grotesk und beschämend sei, zumal, da HerrKarl Kraus diese Ansicht zu wiederholten Malen, unter frenetischerZustimmung auch sozialistischer Hörer, dem öffentlichen Spotte aus-gesetzt hat. Um diese tiefgefühlte Blamage auszumerzen, wurde nunder Privatankläger als „Fachmann“ entsendet, und dass dies zu demZwecke geschah, nicht ein Referat zu erstatten, sondern über dieBlamage hinwegzukommen, geht aus dem Referat selbst deutlich her-vor, worin der Schein eines unerheblichen Fachwissens verwendetwurde, um eine künstlerische Leistung herabzudrucken, vor derenganz anders geartetem Wesen sein Masstab jedenfalls unzuständig war.

Der Privatankläger sagt einleitend: „Wennsich der Vortragende auf musikalisches Gebiet begibt, hat er dasRecht darauf, dass sein künstlerisches Vorhaben vor allem vommusikalischen Standpunkt aus betrachtet werde.“ Er spricht davon,dass der Musiker schon nach wenigen Takten höre, dass dem Vortra-genden die Fähigkeit fehle, Melos und Rythmus durch seinen Gesangauszudrücken. Er eröffnet den Lesern die Erkenntnis, dass Offen-bach für Orchester schreibe, für verschiedene Singstimmen, Chorund Ensemble, und meint schliesslich, dass die musikalische Vor-tragsleistung etwa der Vorlesung eines Bühnendramas durch einePerson vergleichbar wäre. Mit diesem mehr komischen Hinweis aufeben das, was Herr Karl Kraus unternehmen will und seit Jahrzehnten

unternimmt, begibt sich aber der Privatankläger bewusst von denkünstlerischen Intentionen des Herrn Karl Kraus weg, die erwohl erkennt, von denen er aber abzulenken versucht, um einescheinbare Rechtfertigung einer Unaufrichtigkeit, einer redaktionel-len Taktik zu demonstrieren. Es ist also der Beweis erbracht, dassdie Antriebe für den Privatankläger zum Referat in Liebedienereifür die Redaktion und für die Partei bestehen. Dass gerade dieVorlesungen des Herrn Karl Kraus als die geistigsten Interpreta-tionen Offenbachs kritisiert werden, geht nicht nur aus einer Zu-schrift des Musikers Eduard Steuermann, die er unter anderen auchim Namen Alban Bergs an Karl Kraus richtete, hervor, sondern be-C/sonders fasslich aus einer Kritik der „Wiener Neuesten Nachrichtenüber die Blaubart-Aufführung des Berliner Metropol-Theaters imTheater an der Wien, in welcher der doch so entgegengesetzt poli-tisch gerichtete Kritiker die Aufführung mit Orchester und En-semble weit hinter die Vorlesung des Herrn Karl Kraus stellt, vonihm behauptet, dass er als Erster die innere Aktualität desOffenbach’schen Werkes erkannt hat, als Einziger Geist und Kraftbesitzt, Offenbach’sche Welten lebendig und erneuert, ganz inihrem eigensten Wesen erfasst vor uns hinstellen zu können. DerKritiker, der gewiss zu erkennen vermöchte, dass Herr Karl Kraus nicht die Absicht hat, es auch nur mit einem einzigen Tenor auf-zunehmen, meint, „was Karl Kraus gelingt ist wirkliche Offenbach-Renaissance; in seinen Vorlesungen erstehen Libretti und Musikin ihrer ganzen geistigen Schärfe, in ihrem tranzendenten Sar-kasmus, …“ während der Privatankläger seinen Lesern einredenmöchte, das Verdienst des Vortragenden sei auf eine ErneuerungMeilhacs zu reduzieren. Auch der Komponist Ernst Křenek hat ingleicher Weise über die Offenbach-Vorlesungen des Herrn Karl Kraus

geschrieben („AnbruchXI. Heft 3, März 1929, Universal Edition,abgedruckt auf Seite 62f. der Fackel vom Anfang Mai 1929,D/806 bis 809 des 31. Jahres). Ferner verweise ich darauf, dass derBerliner Rundfunk den gesamten Offenbach-Zyklus von Karl Krausin dessen Bearbeitung und stilistischer Gestaltung von März 1930bis in den kommenden Winter aufführt und Herrn Karl Kraus zurLeitung des Studiums mit den Sängern nach Berlin geladen hat, zueiner Wirksamkeit, die eben verursacht hat, dass der Prozess desPrivatanklägers erst jetzt zur Durchführung gelangen kann.

Sollte das Gericht an diesen Belegen nichtgenug haben, so beantrage ich die Einholung eines Sachverständi-gengutachtens.

Es darf aber nicht unerwähnt bleiben, dassdie beleidigenden Behauptungen gegen den Privatankläger als Ver-treter des Schlieferl- und Tinterltums auch noch aus einem anderenGrund gerechtfertigt sind. Hier wird der Beweis wie folgt ange-treten: Der Privatankläger ist organisierter Sozialdemokrat,Musikreferent des Parteiorgans der Sozialdemokratie, und findet esnichtsdestoweniger mit seiner Stellung nicht unvereinbar, alsWiener Korrespondent der Berliner Börsenzeitung tätig zu sein.Die Berliner Börsenzeitung ist ein Unternehmerblatt, schwanktparteipolitisch zwischen der Deutschen Volkspartei und denDeutschnationalen. Diese Zeitung bekämpft nicht nur aufs Heftig-ste die Arbeiterschaft, sondern ist selbstverständlich auch inallen künstlerischen Fragen reaktionär eingestellt. Das hindertaber den Privatankläger nicht, an diesem Blatte mitzuarbeiten.Er lässt sich für seine Dienste von der Wiener Arbeiterschaftund gleichzeitig von den Feinden der Arbeiterschaft bezahlen under gibt seine Mitarbeiterschaft auch dann nicht auf, wenn er ge-

zwungen ist, über eine Aufführung revolutionärer Musikwerke zuschweigen oder vielleicht sogar sich diese Teile seines Referatesvon der Redaktion streichen zu lassen. Ich lege ein Referat desE/Privatanklägers in der Arbeiter-Zeitung vom 12. November 1929 überein von Anton Webern geleitetes Jubiläumskonzert anlässlich der25 Jahr-Feier der Arbeiter-Symphoniekonzerte vor und ein Referat über die gleiche Aufführung in der Berliner Börsen-Zeitung vomF/15. November 1929.

In diesem Zusammenhang soll eine weitereTatsache nicht unerwähnt bleiben, die notorische Parteitreuedes Privatanklägers, die ihn an der Mitarbeit für ein bürgerlich-nationales Blatt nicht hindert, ist so stark, dass sie ihn sogardazu vermocht hat, eine Wohnbau-Kantate zu komponieren, deren TextG/dem Gericht als Stütze des Beweises vorgelegt wird, dass es sichhier geradezu um ein Schulbeispiel jener Gesinnungs-Erbötigkeithandelt, die in dem Ausdruck Schlieferl getroffen ist. Das ethischeBild, zu dem sie beiträgt, wird aber keineswegs beeinträchtigtdurch den Umstand, dass der Privatankläger sich auch bemüht hat,das klar zu Tage liegende Faktum der Komposition dieser Wohnbau-Kantate einfach in Abrede zu stellen. (Fackel vom Ende Oktober1929, Nr. 820 bis 826, XXXI. Jahr. Seite 57 bis 64.)

Der Beschuldigte ist – jenseits der Frage, obhier überhaupt das Kriterium der Beleidigung des Privatanklägers vorliegt – der Meinung, dass kein formales Hindernis gegeben seinkönnte, ein Wort anzuwenden, das einen umrissenen und nachweisbarenmoralischen Sachverhalt bezeichnet, den zu beweisen er in der Lageist. Er hält ihn von allem anderen abgesehen, schon durch dieKritik selbst, mit der sich der Privatankläger der ihm gestelltenAufgabe unterzogen hat, für gegeben; nicht zuletzt aber auch durch

Beflissenheit, mit der er seine Identifizierung mit demCharakteristikum, das dem Typus gilt, durch die Klage betreibt.

als Verteidiger des Herrn Karl Kraus.

[Steno]82 [¿¿¿] [¿¿¿][Steno] [¿¿¿¿] [¿¿] Dav. Otto K.

KrausDr. Pisk