134.23 Protokoll der öffentlichen Hauptverhandlung (Strafbezirksgericht I in Wien, G.Z. 4 U 114/30, Landesgerichtsrat Leopold Wenger)

Materialitätstyp:

  • Typoskript
Datum: 26. Juni 1930
Seite von 4

2 S Stempel Differenz irrtümlichauf Akt 4 U 840/30

Geschäftszahl 4 U 114/30

Öffentliche Hauptverhandlung.

StrafBezirksgericht 26. Juni 1930 Beginn 12 Uhr. 40Gegenwärtig:Richter: LGR. Dr. Wenger Schriftführer: Dr. Potschta staatsanw. Funktionär:Privatankläger: Paul Amadeus Pisk sein Vertreter: Dr. Otto Pisk Privatbeteiligter: sein Vertreter:Angeklagter (der Name folgt unten*) Verteidiger: Dr. Oskar Samek Karl Kraus n.e.Z.a. (hinterlegt)

Die Anklage wird vorgetragen. Der Angeklagte gibt überseine persönlichen Verhältnisseund die Anklage an:

Verteidiger gibt die Erklärung ab, dass Besch. vom Termin verständigtworden ist, dass er zur Zeit der Ladung in Wien war und Gelegenheit ge-habt hätte, auf eine Verständigung seitens der Post die Ladung zu behe-ben. Auf einen eventuellen Einspruch seitens des Besch. wird verzich-tet.

Vert. gibt die Generalien des Beschuldigten bekannt:

Karl Kraus geb. 28.4.74, zu Dzidzin, CSR, zust. Wien, kfl. 1. Wien III.Hintere Zollamtsstrasse 3, Eltern: Jakob und Ernestine, beide tot, vor-bestraft wegen Pressdelikte und vor 32 Jahren wegen Ehrenbeleidigung, –

Pav bringt vor, dass Besch. voriges Jahr in Berlin wegen Ehrenbeleidi-gung bestraft wurde.

Vert. gibt dies nicht zu.

Vert. führt aus, dass der Sachverhalt, wie in der Klage ausgeführt,nicht stimmt. Beantragt Verlesung der Seite 83 des Heftes 811–819 derFackel Bl. A. dort sei genau ausgeführt, was Besch. gesagt habe. DasWort „Schlieferl“ bezieht sich nicht auf einen am 7.6.29 anwesenden,sondern auf einen früher anwesend gewesenen und auf einen, der an einerZusatzstrophe, die nicht am 7.6.29 sondern früher gesungen worden sei,Anstoss nahm. – Das war nicht der PA. Der PA war nicht erkennbar, derP.A. habe, als er damals anwesend war, geschlossen, die Aeusserung be-ziehe sich auf ihn. – Es war aber für Niemand erkennbar, dass PA gemeint

war. Damals sagte der Besch., „einer aus der Arbeiter-Zeitung usw …“Wissen konnte nur derjenige, dass damit PA gemeint war, welcherwusste, dass PA in der früheren Vorlesung anwesend und an einerZusatzstrophe Anstoss genommen hatte. Daher konnte kein Mensch imSaale wissen, dass es sich um den PA handelte. Dem Besch. ist diePerson des PA auch ganz gleichgültig. Die Aeusserung „das Schlie-ferl schreibt“ wird bestritten. Beide Vorträge sind gedruckt u.z. inder Fackel Nr. 8–819 auf Seite 75–84. – Der Ausdruck „kümmerlicherSchönbergschüler“ ist nicht gefallen. Die richtige Aeusserung stehtauf Seite 79 des erwähnten Heftes der Fackel. Vert. beantragt Verle-sung des Vorfalles aus dem Heft der Fackel.

Beschlussfassung hierüber vorbehalten.

Pav führt aus, dass B. den PA nicht gemeint habe, könne nicht be-hauptet werden. Das betreffende Heft der Fackel kam erst einen Monatnach dem Vortrag heraus, was darinnen festgestellt sei, sei nichtidentisch mit dem Tatsächlichen.

Zeuge Fritz Löwy unbef. (mit dem PA sehr gut bekannt) 28 J., Wien, kfl.1. Privatbeamter, XVI. Hasnerstr. 40, gibt nach WE an:

Es war nicht die Blaubart Vorlesung, sondern die nächste. Eswurden 2 Einakter von Offenbach und vorher ein Aufsatz gelesen. Daswar am 10./6. – Besch. nannte den Namen des PA nicht, machte aberdie Aeusserung, „Schlieferl“, an den Wortlaut kann ich mich nichtgenau erinnern. Dann sagte er „Petite“ im Zusammenhang mit Korrepeti-tor. Es wurde nämlich Bezug genommen auf eine Kritik in der AZ übereinen früheren Vortrag des B. – Mit dieser Kritik setzte sich der B.auseinander und hat dabei den Artikelschreiber Schlieferl genannt.An den Wortlaut kann ich mich nicht mehr erinnern, ob er sagte „dasSchlieferl schreibt“ – „Es macht Petite aus seiner Fachkritik“ soähnlich hat es gelautet. Dem Zeugen werden die inkr. Stellen aus derKlage Bl. Z. 3 vorgelesen, worauf dieser erklärt, ja das ist vorge-kommen. – An den Unterschied zwischen den in der Klage inkr. Stellenund wie es die Fackel vom August 29 bringt, kann ich mich nicht mehrerinnern. – „Diese armen Teufel nennen sich Fachmänner“ – „mit ihremarmseligen Fachwissen“ – „Schlieferl und Tinterltum“ das kam alles vor. –Ob die Aeusserung „Das gegen mich wirkende Schlieferl und Tinterl-tum“ in dieser Fassung gefallen ist, weiss ich nicht mehr. – Der Aus-druck „Schönbergschüler“ fiel auch. Ich glaube, der PA wurde dem Sin-ne nach als solcher bezeichnet. Der soeben erwähnten Aeusserung kannder Besch. ein Attribut vorgesetzt haben. Erst über Vorhalten derStelle auf BL. Z. 3 vo gibt Zeuge an, ja, es hat so geheissen, „kümmer-licher Schönberg Schüler“. – Dies alles wurde gesagt im Verlaufe derKritik des Artikels der AZ. – Aus diesem Grunde war es ersichtlich,dass der PA damit gemeint war. – Das Ganze war eine Auseinandersetzungdes Besch. mit dem Artikel der ZA und mit dem Artikelschreiber. –

Ueber Frage des PA: Der Artikel der AZ wurde damals an das Publikumverteilt. Auch daraus war die Auseindersetzung des B. mit diesem Arti-kel ersichtlich. Dieser Artikel war glaublich mit dem vollen Namendes PA gefertigt.

PAV legt vor den Artikel der A-Z Seite 13, gezeichnet mit dem vollenNamen des PA Dr. Paul Pisk.

Zeuge gibt an, dass auf den verteilten Exemplaren der Artikel rotangestrichen war. Der Besch. hatte, als er sich mit dem Artikel be-fasste, das Blatt in der Hand. – Ich habe die seitens des B. gefallenenAeusserungen, die sich auf den PA bezogen, einige Tage später schrift-lich niedergelegt und die Aufzeichnungen dem PA über sein Ersuchengegeben. Vom B. war ich damals ca 10 m entfernt. Zeuge stellt dannüber Vorhalten des Vert. richtig, dass die Entfernung dreimal so grosswar als die Grösse des Gerichtssaales (Saal 16) beträgt. Er habealles genau gehört und verstanden. – – – Ueber Frage des PAV: Es istmöglich, dass B. Teile des Artikels vorgelesen hat. – – – Ueber Frage desVert.: Besch. hat aus einem Manuskript vorgelesen. – Ueber Frage des PAV:Der Saal war verdunkelt. Ueber Frage des PAV: Das Podium war be-leuchtet, so dass, man sehen konnte, dass Besch. eine Zeitung in derHand hatte.

Zeuge Otto Silbermann, unbef. (befreundet mit dem PA) 28. J. Wien, m.l.Privatangestellter, II., Krummbaumgasse 10 gibt nach WE an:

Ich war beim 2. Vortrag am 10.6. anwesend. Am 7.6. war ich nicht dabeiB. befasste sich am 10.6. mit einer Kritik des PA über den ersten Vor-trag. Und zwar in der ersten Stunde fortwährend mit diesem. B. hatöfters den Artikelschreiber „Schlieferl“ genannt. Z.B. „das Schlie-ferl schreibt“

Vert. beantragt die Beeidigung des Zeugen – Beschluss a/Zulassung.Zeuge fährt nach vorschriftsmässiger Beeidigung fort: B. hat denPA beim Namen genannt. Er sagte nämlich, der Musikreferent der A.Z. und nannte ihn Schlieferl. B. sagte „das Schlieferl schreibt“ undzitierte einige Stellen aus dem Artikel. B. hat auch von einem„kümmerlichen Schönbergschüler“ gesprochen und hinzugefügt „bessereSchönbergschüler haben anders gesprochen“. – Dann sagte B,„Petite, ja noch mehr Korrepetite“ – Das sagte er im Zusammenhang mitdem plötzlichen Meinungsumschwung der A–Z bezgl. Offenbach. B. sagte„Korrepetite“ in Hinblick darauf, dass der PA Korrepetitor ist. –Besch. sagte weiter in Hinblick auf den Zeitungsartikel „Schlieferlund Tinterl Praktiken“ – B. sagte „das Schlieferl schreibt“ undfügte, glaube ich, so ziemlich den ganzen Artikel hinzu in der Artnämlich, dass er ihn wort- und satzweise zerpflückte. –

Allerdings fügte er hinzu, „ich habe Niemand persönlich gemeint mitSchlieferl, ich meine das allgemein[“], aber der Zwiespalt war dochein in die Augen springender, man konnte deutlich entnehmen, dassdas Wort doch nicht zurückgenommen werden wollte. An die AeusserungDiese armen Teufel nennen sich Fachmänner“ kann ich mich nicht er-innern. Aber der Ausdruck „Schlieferl“ wurde wiederholt gebraucht.

Ueber Frage des PAV: Es wurde damals der Artikel der AZ an dasPublikum verteilt. B. hat während des Vortrages diesen in der Handgehalten. Er machte hie und da auch freie Einschaltungen, hat abervornehmlich aus dem Manuskript vorgelesen. Das ist auch er-sichtlich aus dem nachträglich im Druck erschienenen Vortrag, der –wie ich konstatiert habe – nicht mit dem ursprünglichen

Vortrag übereinstimmt. Ich kann das behaupten, weil ich mir damalsNotizen gemacht habe – Diese habe ich am 12.6. reingeschrieben unddem PAV in seine Kanzlei gebracht.

PAV beantragt Vernehmung der Johanna Schwarz Wien VI. LinkeWienzeile Nr. 62 als Tatzeugin und besonders darüber, dass wahrschein-lich einem grossen Teil des Publikums damals bekannt war, wen B.mit seinen Aeusserungen gemeint hat. Vert. bringt vor, dass B. inden nächsten Tagen auf Urlaub geht und bittet um Anberaumung derVerhandlung für Oktober 1930, weil Verteidiger bis September aufUrlaub ist und die Zeugen Gropper derzeit in Schladming sind.

Beschluss auf Zulassung des Antrages und Vertagung derVerhandlung zur Ladung der Zeugin

1.) Johanna Schwarz, VI. Linke Wienzeile 62 2.) Vernehmung des Dr. Angelo Gropper) beide durch das BG Schladmig 3.) der Hertha Gropper)sämtliche über den obj. Tatbestand4.) Ladung des Beschuldigten durch Unterbeamten 5.) Beischaffung der Strafkarte und Leumundsnote des Besch.auf den Oktober 1930.