134.24 Prozessbericht Karl Kraus vor Gericht

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Datum: 28. Juni 1930
Seite von 4

Strafbezirksgericht I LGR Wenger Wien, 28. Juni 1930.

Karl Kraus vor Gericht.

Karl Kraus hielt im heurigen Jahr einen Offenbach Zyklus imArchitektenvereinssaal ab bei welcher Gelegenheit er den Musikkriti-ker der Arbeiterzeitung Dr. Paul Amadeus Pisk wiederholt beleidigt habensoll. So hat er, mitten während seines Vortrages, nach Angaben des Dr. Pisk folgendes in den Saal gerufen: „Aber in einigen Tagen wird ein anderer Windaus dem Zentralorgan (Arbeiterzeitung) wehen, denn ein Vertreter des Zentral-organes, ein Schlieferl, ist hier im Saale anwesend und wird die Le-ser dahin aufklären, daß ich nicht musikalisch bin und nicht singen kann. Mitein paar Slezaks nehme ich es allerdings noch auf, aber ich singe nicht David-Bach sondern Offen-Bach.

In der Arbeiterzeitung vom 9. Juni kündigte Pisk die gerichtlicheAustragung dieser Angelegenheit an.

Gelegentlich des nächsten Vortrages vom 10. Juni ließ Karl Kraus eine größere Anzahl von Exemplaren der Arbeiterzeitung im Saale verteilenund nahm in seinem Vortrag auf den Artikel des Dr. Pisk Bezug. Er sagte u.A.:„Das Schlieferl schreibt …“ Der „Referent, der seit Jahren den Kitsch derbürgerlichen Operetten toleriert oder bejaht … der mit solcher Fachkritikeine ‚Petite‘ ja noch mehr eine ‚Correpetite‘ begangen hat. (Pisk ist auchCorrepetitor) … Schlieferl und Tinterlpraktiken … Das gegen mich propagie-rende Schlieferl, losgelassen durch den Machtwahn, den ich gereizt habe … einkümmerlicher Schönbergschüler …“

Auf Grund dieses Tatbestandes hätte sich heute Karl Kraus alsAngeklagter vor dem LGR Wenger verantworten sollen. In seiner Vertre-tung erschien Dr. Oskar Samek und gab an:

Der Sachverhalt ist in der Klage nicht richtig angegeben. KarlKraus spricht kein Wort, das nicht in seinem Manuskript steht, derWortlaut seiner Rede ist in der „FackelNo 819 Seite 83 ersicht-lich, das Manuskript kann ich vorlegen. Es wird nicht in Abrede ge-stellt, daß das Wort „Schlieferl“ gebraucht wurde, aber in anderemZusammenhang als es der Kläger darstellt. Paul Pisk war nicht ge-nannt und nicht erkennbar, daß er gemeint war. Pisk hat am 7. Juni

selbst nicht erkannt, daß er gemeint war. Für Karl Kraus ist diePerson ganz gleichgültig, er hat nur die Sache gemeint.

Richter: Es steht aber: „Das Schlieferl schreibt …

Vert: Wo steht das? In der Klage des Dr. Pisk. Dort sind aber alle Zitie-rungen falsch. Es ist auch nicht von einem kümmerlichen Schönberg-schüler sondern von einem kümmerlichen Fachwissen eines Schönberg-schülers gesprochen worden. Im Uebrigen werde ich für alles denWahrheitsbeweis erbringen. Haben Sie den Schriftsatz nicht gelesen?

Richter: Nein, Sie dürfen sich hier auchnicht darauf berufen, wir haben mündliches Verfahren.

Dr. Otto Pisk (Vertreter des Klägers) Die Fackel ist eineinhalb Monate spätererschienen und hat die Worte nicht richtig wiedergegeben. Die Zeu-gen werden bestätigen, daß die Klage richtig ist.

Vert: Und ich kann 100 Zeugen dafür bringen, daß in der „Fackel“ keinWort geändert wurde und daß Karl Kraus nichts anderes gesagt hat, alswas in der Fackel gedruckt wurde.

Fritz Löwy, gibt zu mit Pisk seit vielen Jahren bekannt zu sein, kannsich an den Wortlaut nicht mehr erinnern. Unter allgemeinerHeiterkeit bestätigt er sowohl die Darstellung des Klägers als desBeklagten, gibt aber an, daß es keinen Zweifel geben konnte, daß Pisk mit den Schmähungen gemeint war, weil mit dem Programm die Arbeiter-Zeitung verteilt wurde und darin der Artikel des Pisk, der von ihmvoll signiert war, rot angestrichen war.

Vert: Hat Kraus frei gesprochen oder er vorgelesen.

Zeuge: Der Saal war verdunkelt, ich glaube er hat nur vorgelesen.

Otto Silbermann: Ich bin mit Pisk befreundet. Kraus hielt den Zeitungsaus-schnitt der Arbeiterzeitung in der Hand und hat die Worte gebraucht,die in der Klage stehen. Ich habe mir Notizen gemacht und sie demDr. Pisk zur Verfügung gestellt.

Vert: Ich beantrage die Beeidigung dieses Zeugen. Ich werde hundertZeugen bringen, daß der Zeuge unrichtig aussagt.

(Der Zeuge wird beeidigt)

Zeuge: Ich bleibe bei meinen früheren Angaben.

Richter: Hat Kraus den Dr. Pisk persönlich genannt?

Zeuge: Ja, persönlich.

Richter: Das ist ganz neu, bis jetzt hat das nicht einmal der Privatanklägerbehauptet. Sie sagen unter Eid aus. Hat er den Herrn Pisk ausdrück-lich bei seinem Namen genannt?

Zeuge: Das wieder nicht, aber er hat gesagt: „der Musikreferent der Ar-beiterzeitung“. Er hat auch bestimmt von einem kümmerlichenSchönbergschüler gesprochen und gesagt: „Das Schlieferl schreibt.“

Richter: Sie wissen ganz genau, daß er wörtlich gesagt hat: „Das Schlie-ferl schreibt …“

Zeuge: Ja, er hat immer Wort für Wort und Satz für Satz aus dem Aufsatz der Arbeiterzeitung zerpflückt, hat aber zum Schluß, nachdem ereine Stunde lang gegen Pisk gesprochen hatte ge-sagt: „Ich meine Niemanden persönlich!“ Aber das war im Wider-spruch zu allem Vorhergesagten.

Dr. Pisk beantragt die nicht erschienen Zeugen Dr. Grop-per und seine Frau in Schladming vernehmen zu lassen, sowie Frl. AnnaSchwarz als weitere Zeugin zu laden.

Vert: Ich trete den Wahrheitsbeweis an für das, was in der Fackel reprodu-ziert wurde, werde das Manuskript vorlegen und ist auch der Ange-klagte bereit im Oktober vor Gericht zu erscheinen, um zu bestäti-gen, daß er nichts anderes gesprochen hat als was in Manuskript ge-standen ist.

Dr. Pisk: Ich bitte mir die Anträge zum Wahrheitsbeweis leihweise zurEinsicht zu überlassen.

Richter: Ich kann aus dem Akt nichts herausgeben, Sie können sich eine Ab-schrift machen lassen.

Verteidiger: Ich stelle Ihnen gerne meinen Durchschlag zur Verfügung,habe aber nur das eine Exemplar.

Richter: Die Verhandlung wird für Oktober vertagt, Karl Kraus so-fort von dem Termin verständigt, damit die Zustellung aus ge-wiesen ist.

BezirksgerichtSpezialbericht

Herr Dr. OskarSamek