70.15 Rechtsgutachten über das Urteil in Sachen Kerr ./. Kraus

Schreiberhände:

  • Botho Laserstein, schwarze Tinte

Materialitätstyp:

  • Typoskript mit handschriftlichen Überarbeitungen
Datum: 12. November 1928
Seite von 2

Rechtsgutachtenüber das Urteilin Sachen Kerr ./. Kraus vom 23. Okt. 1928

I.

Ich halte die Berufung für unzweckmäßig, da Herr Kraus durch das Urteil, abgesehen von der Kostenlast, nur un-wesentlich beschwert wird. Denn, wie in den Gründen aus-drücklich hervorgehoben wird, wird Herrn Kraus durch dasUrteil nur verboten, die „Gottliebgedichte“ in Deutschlandgewerbsmässig zu verbreiten; es ist ihm also unbenommen,die Gedichte in Oesterreich zu vervielfältigen und gewerbs-mäßig zu verbreiten, sowie auch sie in Deutschland unent-geltlich zu verbreiten.

II.

Ich halte jedoch die Berufung durchaus nicht etwa füraussichtslos, im Gegenteil.

1) Zwar verspricht die Berufung in materieller Beziehungnur wenig Erfolg.

a) In den Punkten a und b des Urteils ist sie aussichts-los. Die Aeusserungen auf Seite 207 der letzten „Fackel“,daß Herr Kraus über das Autorrecht des Kerr unbeschränkt verfügen werde, wirdauch in der Berufungsinstanz den Beweis vereiteln, daß dieDrohungen nicht ernst gemeint waren. Auch § 19 Lit.Ur.G. kann nicht retten helfen . Ich halte vielmehr die Ausführung desUrteils für richtig, daß die Zeitschrift des Herrn Kraus zwar eine selbstständige literarische Arbeit ist, alswissenschaftliche Arbeit jedoch nicht gewertet werdenkann.

b) Dagegen ruht Punkt c des Urteils auf schwächerenFüssen. Ich bleibe nach wie vor bei den Ausführungen meinesSchriftsatzes vom 15. Oktober d.Js. Seite 8 bis 10 und

halte sowohl die Anwendung des § 12 wie die des § 826 BGB. für ausgeschlossen. Die Entscheidungen, die das Urteil fürdie Anwendbarkeit des § 12 BGB anführt, treffen auf den vor-liegenden Fall sämtlich nicht zu.

2) Die Achillesferse des Urteils ist jedoch seine formelleSeite. Ich bleibe dabei, daß das erkennende Gericht nichtzuständig ist. Das Urteil gibt seine Ausführungen aufSeite 8 mittelbar zu, daß der erhobene Anspruch als vorbeu-gender Unterlassungsanspruch nicht im Gerichtsstand der un-erlaubten Handlung, also vor dem erkennenden Gericht hätteerhoben werden können. Es bricht jedoch den in meinem Schrift-satz gemachten Angriffen dadurch die Spitze ab, daß es denerhobenen Anspruch als repressiven Anspruch konstruiert.Die Ankündigung des Herrn Kraus, er werde die Werke des HerrnKerr veröffentlichen, um ihn lächerlich zu machen, enthältbereits eine unerlaubte Handlung im Sinne des § 826 BGB. Diese Konstruktion ist m.E. unhaltbar. Hier ist, wenn wirBerufung einlegen wollen, der Brennpunkt, auf welchem wirunsere Angriffe vereinigen müssen. Denn die Drohung einenanderen durch eine in der Zukunft liegenden Handlung lä-cherlich zu machen, kann, da sie selbst den anderen noch nicht lächerlich gemacht hat, noch keine unerlaubte Handlungnach § 826 BGB sein. Sonst gäbe es überhaupt keine vorbeugen-de Unterlassungsklage, die ja immer auf eine derartige Drohungoder Ankündigung gestützt sein muß.

Berlin, den 12. November 1928Dr. Laserstein