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Zum Forschungsstand
Hinsichtlich der Genese und der Überlieferung des Textes sei auf die nach wie vor maßgebende Darstellung in der von Christian Wagenknecht im Suhrkamp-Verlag besorgten Ausgabe verwiesen (Wagenknecht 1989/2016). Davor hatte schon Jochen Stremmel in seiner Monographie minutiös die damals bekannten Fakten in vor allem textkritischer Hinsicht analysiert (Stremmel 1982). Seither konnte der Kenntnisstand vor allem aufgrund zweier Faktoren erweitert werden: Isabel Langkabel entnahm dem Briefwechsel zwischen Helene Kann und Leopold Liegler, der sich im Nachlass Edwin Hartls in der Wienbibliothek im Rathaus befindet, Hinweise zu Existenz und Verbleib des Manuskripts. Darüber hinaus erwarb die Wienbibliothek mit dem Ankauf der Sammlung Karl Kraus – Marcel Faust einen weiteren Textträger der Dritten Walpurgisnacht, ein Konvolut von Typoskriptblättern, das Einblick sowohl in die Entstehung des Textes als auch in seine weitere Verarbeitung im Zuge der Herstellung der Fackel Nr. 890–905 gibt.
Textgenese und Überlieferung
Beginn und Abbruch der Arbeit. Die handschriftliche Ergänzung auf der ersten Seite des ‚Jerusalemer Konvoluts‘ gibt als Beginn der Entstehung „Anfang Mai 1933“ an; die Fackel Nr. 890–905, in die Teile der Schrift aufgenommen wurden, korrigiert dies am Textanfang auf „Anfang Mai bis September 1933“ (S. 153). Fest steht, dass frühe zitierte Zeitungsmeldungen vom März 1933 stammen. Die ersten nachweisbaren wörtlichen Zeitungszitate gehen auf Februar 1933 zurück, könnten jedoch theoretisch auch einer Stilblütensammlung späteren Datums entnommen worden sein. Leicht vorstellbar ist, dass die Zeitungsausschnitte nicht von vornherein in Hinsicht auf das Projekt der Dritten Walpurgisnacht gesammelt wurden. Eckart Früh vermutet zudem als Kraus’ „unmittelbaren Anlaß […], über das Dritte Reich im Namen Goethes zu urteilen“, einen Bericht über eine Walpurgisnacht-Feier der Hitlerjugend auf dem Brocken im Neuigkeits-Welt-Blatt vom 8. 4. 1933, und nennt in diesem Zusammenhang auch eine ältere Glosse der Arbeiter-Zeitung vom 15. 10. 1931, in der bereits das Treffen der rechtsradikalen ‚Harzburger Front‘ (ein Bündnis von NSDAP, DNVP, Stahlhelm u. a.) vor der Folie der Goethe’schen Walpurgisnacht gelesen wird (vgl. Früh 1983, S. [o. A.]–1).
Abgebrochen wurde die Arbeit an der Dritten Walpurgisnacht wahrscheinlich im September des Jahres 1933, wobei der Zeitrahmen nicht genauer eingrenzbar ist – oder Kraus die Entscheidung nicht sofort endgültig getroffen hat: Das Gedicht Man frage nicht, das schließlich anstelle des Textes erscheinen sollte, war am 13. September entstanden; zudem vermutet Jochen Stremmel, dass die Ermordung Theodor Lessings Ende August ein Grund, wenn nicht gar ausschlaggebend war für Kraus’ Entscheidung, die Dritte Walpurgisnacht unpubliziert zu lassen (vgl. Stremmel 1982, S. 71). Der letzte im Text nachweislich zitierte Zeitungsartikel stammt jedoch vom 29. September.
Textgenetisch relevantes Material. Das für die Textgenese der Dritten Walpurgisnacht im ‚Jerusalemer Konvolut‘ relevante Material besteht in einer großen Zahl an meist kleinformatigen Notizzetteln, einem Blatt, das als handschriftlicher Entwurf einer Passage des Texts gelten kann, einem Fragment, das den letzten Absatz umfasst; für die dem Text vorangestellten Motti liegen Handschrift und Korrekturfahnen vor. Anders als bei anderen Werken von Karl Kraus sind genetisch relevante Dokumente damit nur in beschränktem Maß erhalten. Zugleich muss festgestellt werden, dass angesichts der historischen Umstände die Tatsache, dass der Text überhaupt überliefert wurde, einen Glücksfall darstellt. Annähernd vollständig liegt der Text im ‚Jerusalemer Konvolut‘ vor sowie in Form des durch Kraus selbst veranlassten Duplikats (Nachlass Sidonie Nádherný, Brenner-Archiv), als Negativkopie (DLA Marbach) sowie Kopie der Negativkopie (Brennerarchiv) des ‚Jerusalemer Konvoluts‘, zudem als Durchschlag der von Samek hergestellten typographischen Abschrift (Nachlass Albert Bloch, Brenner-Archiv). Für eine umfangreiche Aufstellung siehe unten.
Einen interessanten Aspekt des Entstehungsprozesses zeigt das in jüngerer Zeit durch die Wienbibliothek erstandenen Typoskript in der Sammlung Marcel Faust, das den letzten, 64. Absatz der Dritten Walpurgisnacht enthält und dem ‚Jerusalemer Konvolut‘ vorausging. Darauf lassen zahlreiche handschriftliche Korrekturen schließen, die im entsprechenden Abschnitt des ‚Jerusalemern Konvoluts‘ berücksichtigt wurden. Andere handschriftliche Überarbeitungen indes sind erst in der Fackel Nr. 890-905 umgesetzt; dieser Abschnitt in der Fackel wurde also ebenfalls auf Grundlage der früheren Textstufe, des Typoskripts aus der Sammlung Marcel Faust gesetzt.
Mit der Arbeit an der Fackel Nr. 890-905 im Jahr 1934 setzt bekanntlich die Epigenese (vgl. van Hulle 2022, S. 14–16) der Dritten Walpurgisnacht ein, in der große Teile des Textes zitiert wurden und mit der Kraus sein Eintreten für das austrofaschistische Regime publik machte – und damit für Irritation, ja Entsetzen unter seinen Anhängern sorgte. Für den Druck dieses Fackel-Hefts jedenfalls griff Kraus auf den Stehsatz der Dritten Walpurgisnacht zurück, die entsprechende Markierungen aufweist. Im Fall des letzten Absatzes, der auch im ‚Jerusalemer Konvolut‘ noch nicht gesetzt war, sondern nur als Typoskript vorlag, griff er auf das Typoskript aus der Sammlung Faust zurück, das somit gleichermaßen Vorstufe des ‚Jerusalemer Konvoluts‘ wie der Fackel 890-905 ist.
Rückschlüsse auf verlorene Materialien. Aus dem vorhandenen Material lassen sich mit einiger Vorsicht Rückschlüsse auf das Verlorene ziehen: Möglich bis wahrscheinlich ist, dass die überlieferten Notizzettel nicht vollständig sind; auch kann davon ausgegangen werden, dass der genannte Entwurf nur der einzig bekannte bzw. erhaltene aus einer größeren Zahl solcher Entwürfe darstellt. Von zentraler Bedeutung ist das Manuskript: Dass, wie Martin Jahoda vermutet (vgl. Scheichl 1980), niemals ein Manuskript existiert habe und Kraus die Dritte Walpurgisnacht der Zeitersparnis wegen direkt ins Diktaphon gesprochen habe, ist mittlerweile nicht mehr nur unwahrscheinlich, sondern durch die erwähnten Briefe Helene Kanns widerlegt (vgl. Kann 1946-1948, 1. 8. 1946). Diesen lässt sich zudem ein möglicher Aufbewahrungsort des Manuskripts entnehmen, das Archiv der Familie Lobkovicz. Der mit Kraus befreundete Diplomat Max Lobkowicz hatte das Manuskript von Sidonie Nádherný übernommen, die es von Kann erhalten hatte. Ziel war es, es in London zu verwahren und damit seine Existenz zu sichern, stattdessen wurde es, so Kann, irrtümlich nach Roudnice verbracht und dort ins – leider nicht zugängliche – Familienarchiv aufgenommen. Hinsichtlich der weiteren Entwicklung des Texts bleibt offen, wie viele Korrekturfahnen bzw. Textstufen in den einzelnen Abschnitten des Textes zwischen dem Manuskript und der im ‚Jerusalemer Konvolut‘ vorliegenden Textstufe liegen. Möglich ist, dass im Sinne der Zeitersparnis den ersten Druckfahnen jeweils Typoskripte vorangingen. Darauf deuten die vorhandenen Textträger hin – die Tatsache, dass Einschübe und der letzte Absatz als Typoskriptblätter vorliegen. Die Überlieferungssituation des letzten Absatzes macht es zudem wahrscheinlich, dass zumindest zeitweise mehr als ein Korrekturzyklus auf Grundlage von Typoskripten stattfand: Absatz 64 etwa liegt in zwei Typoskripten vor, einmal als Teil der Jerusalemer Konvoluts, einmal in Form des erwähnten Konvoluts an Typoskriptblättern aus der Sammlung Marcel Faust.
Unklar ist, ob und wann in dieser Abfolge von Dokumententypen die Diktaphonaufnahmen eine Rolle spielten. Die Abwesenheit von Fehlern, die typischerweise auf Verhören zurückzuführen wären, ist nicht aussagekräftig, da unbekannt ist, wie viele Korrekturzyklen ihnen jeweils vorangingen. Widerlegbar ist die Existenz solcher Tonaufnahmen nicht. Eindeutiger stellt sich die Sache nur hinsichtlich der eingeschobenen Typoskriptblätter dar: Für diese kurzen Ergänzungen wäre eine Übermittlung als Tonaufnahme kaum praktikabel gewesen, zudem: Ihre Paginierung erfolgt unter Angabe der Seite, auf der der Einschub erfolgen soll, mit lateinischen Kleinbuchstaben – in die Fahne mit pag. 59 soll etwa das Typoskriptblatt mit pag. 59a eingeschoben werden. Während diese Typoskripte zwar theoretisch auf Tonaufnahmen beruhen könnten, tragen jedoch einige Typoskriptblätter mehr als einen Buchstaben (etwa 195 b, c, oder 195 f, g). Das deutet darauf hin, dass handschriftliche Ergänzungen auf mehreren Blättern hier zu einem Typoskriptblatt zusammengefasst werden konnten (vgl. Stremmel 1982, S. 78), dem Typoskript also unmittelbar eine Handschrift voranging.
Textträger der Dritten Walpurgisnacht
(Die Siglierung im Folgenden lehnt sich an die Stremmels und Wagenknechts an, soweit im Sinne der Einheitlichkeit möglich, und erweitert sie, wo nötig.)
Zu Kraus’ Lebzeiten entstandene Textträger:
N1 – Notizen. Konvolut 1. 146 Blätter eines kleinformatigen Ringbuchblocks mit handschriftlichen Notizen, entstanden vermutlich zwischen April und August 1933, mit ca. 100-120 in die Dritte Walpurgisnacht aufgenommenen Stellen. Teilnachlass Karl Kraus, Wienbibliothek im Rathaus. Signatur: H.I.N.–176.044.
N2 – Notizen. Konvolut 2. 207 Blätter unterschiedlichen Formats, entstanden 1925 und 1935, aufbewahrt in einer A4-Mappe, mit ca. 50-60 in die Dritte Walpurgisnacht aufgenommenen Stellen. Teilnachlass Karl Kraus, Wienbibliothek im Rathaus. Signatur: H.I.N.–176.098.
N3 – Notiz, Einzelblatt. Einseitig beschriebenes Blatt im Oktavformat, enthält vier Notizen, darunter das Stampfer Zitat in Df(eH) S. 217 (fol. [226]) und die auf S. 231 (fol. [241]) angespielte Starhemberg-Strophe (vgl. Stremmel 1982, S. 76). Teilnachlass Karl Kraus, Wienbibliothek im Rathaus. Signatur: H.I.N.–175.364.
HFragment 1 – Entwurf „Und dabei kommen“. Handschriftlicher Entwurf, ein Blatt, entspr. fol. 91 / S. 90 des ‚Jerusalemer Konvoluts‘ (vgl. Langkabel 2024, S. 166f.). Sammlung Anita Kössler, Wienbibliothek im Rathaus. Signatur: ZPH 985/145.
HMotti – Handschrift der Motti. 7 Blatt. Teilnachlass Karl Kraus, Wienbibliothek im Rathaus. Signatur: H.I.N.-175455, fol. 1–7.
DfMotti – Druckfahnen der Motti. 2 Blatt. Teilnachlass Karl Kraus, Wienbibliothek im Rathaus. Signatur: H.I.N.-175455, fol. 8, 9.
TParalipomenon – Typoskript „[Was die allgemeinen] Erwartungen betrifft“. 5 Blatt. Nicht in die spätere Textstufe des ‚Jerusalemer Konvoluts‘ übernommene Passage. Teilnachlass Karl Kraus, Wienbibliothek im Rathaus. Signatur: H.I.N. 177195, Aufstellungsnummer Jc 163.795, f. 119–123 (pag. 34-38). [Als fol. 117f. sind annotierte Ausschnitte aus Verlagskatalogen eingeklebt, die direkte Vorlagen von TParalipomenon darstellen.]
TFragment 2 – Typoskript „Wenn ich mich nun frage“. 16 Blatt. Enthält den letzten Absatz der Dritten Walpurgisnacht in einer der ‚Jerusalemer Konvolut‘ vorangegangenen Textstufe, sowie Korrekturen, die erst in die Fackel Nr. 890-905 einflossen. Sammlung Karl Kraus – Marcel Faust, Wienbibliothek im Rathaus. Signatur: ZPH-2007, Nr. 1.1.6.
Df(eH) – ‚Jerusalemer Konvolut‘. Konvolut aus 293 Blatt, davon 268 Fahnenabzüge, 14 ergänzende Typoskriptblätter, 11 Typoskriptblätter mit dem letzten Absatz des Texts; es fehlt das Ergänzungsblatt 266a, die Motti sind separat aufbewahrt (s. o.). Abraham Schwadron Collection, National Library of Israel. Signatur: Schwad 01 19 290.1.
Df(fH) – Duplikat des ‚Jerusalemer Konvoluts‘. Kraus’ handschriftliche Ergänzungen wurden von Frieda Wacha in das Duplikat übertragen; enthält das in Df(eH) fehlende Blat 266a. Nachlass Albert Bloch, Brenner-Archiv. Nachlass-Nummer 45, Kassette 189, M20.
DfFragment 3 – Fragment „Hat man doch gesehen“. Wahrscheinlich für die Fackel Nr. 890-905 hergestellter, jedoch letztlich nicht verwendeter teilweiser Abzug vom Druckstock der S. 4 des ‚Jerusalemer Konvoluts‘ (entsprechend der in Df(eH) mit Blei- und Rotstift angebrachten Anweisung). 1 Blatt. Signatur: H.I.N. 177195, Aufstellungsnummer Jc 163.795, fol. 126r.
DfFragment 4 – Fragment „[Zer]mürbung, Versklavung, vielleicht auch Entzweiung“. Wahrscheinlich für die Fackel Nr. 890-905 hergestellter, jedoch letztlich nicht verwendeter teilweiser Abzug vom Druckstock der S. 6 des ‚Jerusalemer Konvoluts‘ (entsprechend der in Df(eH) mit Bleistift angebrachten Anweisung). 1 Blatt. Signatur: H.I.N. 177195, Aufstellungsnummer Jc 163.795, fol. 127r.
DfFragment 5 – Fragment „Bis er aber vorüber ist“. Wahrscheinlich für die Fackel Nr. 890-905 hergestellter teilweiser Abzug vom Druckstock der S. 13 des ‚Jerusalemer Konvoluts‘ (entsprechend der in Df(eH) mit Rotstift angebrachten Anweisung), hs. paginiert als „13a“. Teilnachlass Karl Kraus, Wienbibliothek im Rathaus. Signatur: H.I.N. 177195, Aufstellungsnummer Jc 163.795, fol. 124r.
Karl Kraus: Warum die Fackel nicht erscheint. Die Fackel Nr. 890-905. Ende Juli 1934. Enthält umfangreiche Zitate aus dem nicht erschienenen Text des Jahres 1933, großteils – aber nicht vollständig – bezogen vom Stehsatz der Dritten Walpurgisnacht.
Nach Kraus’ Tod entstandene Textträger (ohne Berücksichtigung von Buch- und Onlineausgaben):
T1’ – Einer von vermutlich ursprünglich drei Typoskriptdurchschlägen einer Abschrift des ‚Jerusalemer Konvoluts‘ (T1). 254 Blatt. Hergestellt durch Oskar Samek 1939 (vgl. Samek/Bloch 1939–1955, 28. 12. 1939). Nachlass Albert Bloch, Brenner-Archiv. Nachlass-Nummer 45, Kassette 188, M11.
Df(eH)’ – Negativkopie des ‚Jerusalemer Konvoluts‘, wahrsch. 1950 veranlasst von Oskar Samek (vgl. Samek/Bloch 1939–1955, 8. 8. 1950). DLA Marbach, Signatur: D:Kraus,Karl/Jahoda, Zugangsnummer: D87.2.4.
Df(eH)’’ – Kopie der Negativkopie des ‚Jerusalemer Konvoluts‘ Df(eH)’. Nachlass Albert Bloch, Brenner-Archiv. Nachlass-Nummer 45, Kassette 190c, M16 (vgl. Stremmel 1982, S. 73).