68.62 Schriftsatz in Sachen Kraus ./. Kerr (Kraus an das Amtsgericht Charlottenburg, G.Z. B.2 27)

Schreiberhände:

  • Bleistift
  • Oskar Samek, roter Stift

Materialitätstyp:

  • Durchschlag mit handschriftlichen Überarbeitungen
  • Durchschlag mit handschriftlichen Annotationen
Datum: 29. Oktober 1927
Seite von 78

zuschneiden, einen so wiedergegebenen Text des Kerns zu entklei-den und zu entstellen … indes er ein Gewirr von verstümmeltenZitaten, Irreführungen, Wortklaubereien tätigt, bis ein verleum-derisches Bild entsteht“. Es sei fern von mir, analog dem Beklag-ten zu behaupten, dass solches gemeinhin seine literarische Metho-de sei; aber dass es seine Methode im vorliegenden Schriftsatz mit seinen 11 Punkten ist, soll Punkt für Punkt bewiesen werden.Nach meiner festen Ueberzeugung“, führt der Beklagte aus,ist Herr Kraus ein Verleumder. Ich habe nicht sowohl den juri-stischen Begriff der Verleumdung im Auge; sondern vornehmlich denLaienbegriff: dass ein Verleumder ist, wer Unwahres gewissenloszum Zwecke der Herabsetzung verbreitet. Aber auch der streng ju-ristische Begriff der Verleumdung (die wider besseres Wissen ver-breitete herabsetzende Unwahrheit) ist in dem Tun des HerrnKraus erfüllt“. Vielleicht hat ein Beklagter das Recht, zu sei-ner Verteidigung eine solche Sprache zu führen und gestützt aufseinen ziemlich laienhaften Begriff von Verleumdung im juristi-schen wie im vulgären Sinn neue Schmähungen vorzubringen. Ob siefür seinen Beweis förderlich sind, mag auch bei einem Verfahren,dass durch solche Schriftsätze und ihre notwendige Beantwortunglangwierig wird, zweifelhaft sein. Rascher dürfte es gelingen,an den Ausführungen des Beklagten nachzuweisen, dass der von ihmgekennzeichnete Modus eben der seine ist. Ein Verleumder wärealso nach dem Laienbegriff des Beklagten, wer Unwahres gewissen-los zum Zweck der Herabsetzung verbreitet, und seinem juristi-schen, wer es wider besseres Wissen tut. Dass ich derlei inseinem oder in irgend einem der von ihm erwähnten Fälle getanhabe, wird er zu beweisen haben, während mir wieder der Beweisobliegt, dass die Aufstellungen seines Schriftsatzes beiden

Kategorien der Unwahrhaftigkeit zugehören. Ausnahmen möchteich vorweg die Berufung auf das Zeugnis eines Züricher Blat-tes, wonach „von tausend Menschen an der Spree“ kaum einerdie Fackel kenne und das der Beklagte entdeckt hat, indem eres nirgendwo anders gelesen hat als in der Fackel, die nachdiesem Zeugnis in Berlin so wenig bekannt ist. Sie hat es in1.) Nr. 649 bis 656 Anfang Juni 1934, S. 38 abgedruckt, in einer Zu-sammenstellung von Presseurteilen über die Berliner Aufführungmeiner Stücke „Traumstück“ und „Traumtheater“. Diese Kritik,in der der Korrespondent des Züricher Blattes, ein Herr M.M.,immerhin feststellt, dass „die Mehrzahl der Hörer dem Zeitsa-tiriker zum Schluss ihre Huldigung darbrachte“, konnte dem Be-klagten wenigstens in dem von ihm zitierten Satze unmöglichentgehen, weil er in der Fackel in Sperrdruck gesetzt war. DerBeklagte verdankt also die Kenntnis dieser Kritik, deren Datumin der Fackel nicht angegeben war und die er darum auch nur un-gefähr vom „März“ datieren kann, der Fackel, zu deren wenigenLesern an der Spree unstreitig er gehört. Aber in der Absicht,die Fackel durch eine Presstimme, die die Fackel selbst nach-gedruckt hat, herabzusetzen, hat er übersehen, dass sie ehereine übertreibende Aussage Ton der Verbreitung dieser Zeit-schrift in Berlin bedeutet, der ja doch die Möglichkeit einge-räumt wird, dort von zwei- bis dreitausend Menschen gekanntzu sein. Das ist mit nichten der Fall: der Verlag der Fackel,der stets auch das erlaubteste Mittel der Propaganda ver-schmäht, ja sogar die Bewerbungen des Berliner Tageblatts umAnnoncen zurückgewiesen hat, kann sich einer solchen Verbrei-tung in keiner Stadt ausserhalb Oesterreichs rühmen; aber si-cher ist, dass unter der Gruppe treuer Leser, die die Fackel in Berlin und aus sich selbst erworben hat, sich auch Herr

Alfred Kerr befindet und dass es keineswegs „ein reiner Zufallist, der ihm das „im Selbstverlag des Herrn Kraus erscheinendeBlättchen“ und zwar „sehr verspätet“ im besonderen Fall zu Ge-sicht brachte. Die Fackel wird, wiewohl sie nicht im VerlagMosse, sondern – und ohne Annoncen aufzugeben oder solche zubringen – nur im Selbstverlag und sogar „unregelmässig“ erscheint,in Berliner literarischen und journalistischen Kreisen mit re-ger Aufmerksamkeit verfolgt, welche sich je nach den Interessendieser Kreise in höchster Würdigung oder eben im AusdruckBlättchen“ kundgibt. Dass nun dem Beklagten, der einem Heft ausdem Jahre 1924 die Kenntnis verdankt, dass die Fackel in Berlin nicht gelesen wird, und der in sämtlichen Punkten seines Schrift-satzes ein Studium der Fackel und selbst ihrer ältesten Jahr-gänge verrät – dass ihm nun jene eine Nummer, die sich gerademit ihm und so ausführlich befasste, nur durch einen reinen Zu-fall und sehr verspätet vor Augen gelangt sei, ist äusserst un-glaubhaft. Eher glaube ich annehmen zu dürfen, dass dem Schrift-steller, dessen Wirksamkeit seit so vielen Jahren in der Fackel betrachtet wird, bei aller Unregelmässigkeit einer sonstigenFackellektüre gerade das Heft mit dem Aufsatz, der seine aktuellePariser Friedensmission und seine Vergangenheit als Kriegsdich-ter kontrastiert, ziemlich bald nach dem Einlangen in Berlin vorAugen kam, zumal da eben dieses Heft, wie vom Verlag der Fackel nachgewiesen werden kann, stärkerem Interesse in Berlin begegnetist, wenngleich natürlich noch immer keinem solchen, wie es ihmdas Züricher Blatt nachrühmt. Es unterliegt für mich gar keinenZweifel, dass, selbst wenn Herr Kerr nicht aus eigenem nach die-sem Heft Ausschau gehalten hätte – dessen Replik er ja wegen desPariser Zwischenfalls, bei dem die Fackel eine Rolle gespielt

hat und nach dem ersten, von ihm beantworteten Artikel „Kerr in Paris“ erwarten konnte – dass es ihm alsovon einer freundlichen oder feindlichen Seite rechtzeitigzur Kenntnis gebracht wurde und dass dann etwa auch irgend-eine Mahnung ihn dazu vermocht hat, doch endlich zu der An-gelegenheit einen Ton zu äussern. Er hatte ja auch in jener2.) Antwort auf den Artikel „Kerr in Paris“ (siehe Nr. 735/742,S. 78) geradezu angekündigt: „Man muss ihn wiedermal vornehmen.“ Wie sollte er da nicht auf das Heft mit demArtikel „Ein Friedmensch“ (wo seine Antwort zitiert ist)gewartet haben oder nicht darauf hingewiesen worden sein?Die „Vornahme“ war dann eben der inkriminierte Satz. Ich be-haupte also, dass der Angeklagte die vermeintliche Beleidi-gung oder Verleumdung durch den Artikel „Ein Friedmenschkeineswegs „auf der Stelle“ erwidert hat – eine gesetzlicheBedingung der Straflosigkeit, zu der doch auch die notwen-dige Beziehung auf das Faktum der Beleidigung wieauf deren Materie fehlt –; sondern dass er nach längst er-worbener Kenntnis, erst nach etlichen Monaten, eine Gelegen-heit wahrgenommen hat, um den von der Sache völlig losgelöstenSchimpf in einem Feuilleton zu ganz anderem Thema anzubringen.Dass er dabei an die ihm angeblich zugefügte Beleidigung wieauch an alles Vorhergegangen „gedacht“ hat, ist ohneweiterszuzugeben, aber keiner der Leser des Berliner Tageblatts, vondenen er doch selbst sagt, dass sie die Fackel nicht kennen,hat die Beziehung herausriechen können und selbst der infor-mierte hätte sie nach drei Monaten vergessen gehabt und ehermit Recht vermutet, dass sich die Wendung auf inzwi-schen erschienene Glossen (Nr. 743–750, S. 46, S. 48–52,3S. 96/97: „Kerr in Wien“, S. 98/99, 103/104) beziehe, enthal-

ten im Heft Dezember 1926, das kurz vor Erscheinen der Notiz desBeklagten in Berlin eingelangt war. Ich behaupte, dass er nur dieMethode angewandt hat, sich gelegentlich zu revanchieren und inirgendeiner Theaterkritik, deren Gegenstand mit der Existenz derFackel und mit dem Inhalt des unverschmerzten Angriffs nicht dasGeringste zu schaffen hatte, sein aufgewärmtes Mütchen zu kühlen.So hat er zum Beispiel, nachdem ich in Berlin mit dem Vortragseines berühmten Rumänenlieds die stärkste Wirkung erzielt undwiewohl er von diesem gewiss unmittelbar gehört hatte, viel spä-ter in einer Theaterkritik die Bemerkung untergebracht, er denkeda gerade „an Karlchen Kraus, welcher die verbitterte Lustigkeiteines Dorfkrüppels irrig als Rechtsgefühl ausbietet“, und ichsprach damals in der Fackel davon, dass es ein Fall sei, der michdie strafrechtliche Verfolgung erwägen liess, „weil dieses Hinein-spritzen einer Privatwut nicht das Geringste mit der Theaterkritikzu tun hat … und die Absicht der Beschimpfung sich aufdrängt“.Ganz im Sinne meiner Praxis, den „literarischen Weg“, von demder Beklagte mich abirren sieht, bewusst zu verlassen, um denMissbrauch der Presse an dem persönlichen Fall strafrechtlichdarzustellen.

I.

Zur Sache. Der Beklagte behauptet, dass in meinem Tunbeiderlei Begriff der Verleumdung erfüllt sei. Um dies zu bewei-sen, sieht er sich genötigt, mein „Treiben“ einer „kritischenPrüfung“ zu unterziehen. Er entwickelt nun in den noch folgendenzehn Punkten, auf deren Weg wieder „ich ihm folgen muss“, eineKenntnis dieses Treibens, von der ich darstellen will, wie voll-kommen sie seiner Definition der Verleumdung in beiderlei Begriffgerecht wird.

II.

1) Den „Kernpunkt“ bildet für ihn – und dieser Punktzerfällt wieder in sechs arabisch numerierte Punkte – meine Be-hauptung, dass er im Krieg in einer Grausamkeit versiert war(„versiert sein“ als die Fähigkeit, aus dem fremden Unheil flotteVerse zu machen), die das eigene Leibeswohl hinter der Schanzeeines Schreibtisches deckt. Dass ich da nun „wider besseres Wis-sen“ verleumde, gehe aus der Tatsache hervor, dass er sich frei-willig „zum Heeresdienst nach Kriegsausbruch“ gemeldet habe. Ichhätte von dieser Tatsache Kenntnis, verleumde also wider besseresWissen. Selbst nun zugegeben, dass Herr Kerr wirklich entschlos-sen war, in den Krieg zu ziehen. Überzeugt, dass man ihn „alsSechsundvierzigjährigen“ und als Redakteur des Berliner Tageblatts in den vordersten Schützengraben und nicht in das hinterste Pres-sequartier lassen werde, so ist ganz und gar nicht zu verstehen,worin da die Verleumdung, ja auch nur die Behauptung wider besse-res Wissen liegen soll. Wir wollen nicht darüber sprechen, ob dieBereitschaft bei Kriegsausbruch, also zu einer Zeit, wo eine ziem-lich geringe Vorstellung jener Kriegsrealität verbreitet war, dieweiterhin doch Gedichte ermöglichte, etwa auch noch die Lust zupersönlicher Aktivität sagen wir 1917 verbürgt hat und ob nichtder Schreibtisch als Deckung für ein kriegerisches Fühlen um dieseZeit schon vielfach dem Schützengraben vorgezogen wurde. Ich willauch ganz davon absehen, ob es einem, der in schwerer Stunde dieNot der Allgemeinheit teilt, nicht zu allerletzt einfallen sollte,seinen Opfermut in einer Zeitschrift zu publizieren und mitFloskeln zu begründen wie „Aus dem Schlaf erwacht; gepeitscht vondem Bewusstsein, dass die Engländer Togo besetzen“. Also abgesehendavon, dass es etwa einem Schriftsteller wie Richard Dehmel, der,

eben kein Tyrtäus des Hinterlandes, war, sondern seine Kriegsgedichtean der Front geschrieben hat, nicht in den Sinn gekommen wäre, eben gelungen ist, vorher seine die Marschbereitschaft zu annoncieren, in die Tat umzusetzen, habe ich in demAufsatz „Ein Friedmensch“ (S. 84) doch nur wörtlich wiederholt, wasHerr Kerr geschrieben hatte: dass er zwei Gesuche eingereicht undim zweiten statt von seiner „mittleren Schiessfähigkeit“ von sei-ner perfekten Kenntnis des Französischen gesprochen hat. Es konn-te also, bei genauester Wiedergabe des Sachverhalts, immerhin die(nicht in der Fackel, sondern in einem Schriftsatz meines Anwal-tes ausgesprochene) Vermutung entstehen, dass er sich lediglich lieber als Dolmetsch nützlich machen wollte. (Vergleiche auch die Auffassung Theodor Haeckers in dem schon vorgelegten Werk, Satire u. Polemik) Da er abgewiesen wurde, sohat er es eben vorgezogen, sich ausschliesslich als Kriegsdichter zubetätigen und zwischen seiner doch tatsächlich unangetastetenkörperlichen Sicherheit und der gewitzten Grausamkeit seiner Verse,die durch zahllose Fälle erweisbar ist, einen der peinlichstenKontraste der Kriegszeit herzustellen. Eine Gesinnung, die sichehrlich dem Vaterland opfern wollte, hätte, wenn es ihr versagtwar, doch wenigstens die Versifizierung des Kriegsleids und desKriegsgrauens unterlassen. Ist es schon eine schwere Zumutung,Herrn Kerr zu glauben, dass er von dem Bewusstsein der BesetzungTogos aus dem Schlaf gepeitscht wurde, so sind Wendungen im Mundeeines Theaterkritikers, der sonst einen sehr nuancierten Stilschreibt, wie die schlichte Zeile

Die Hunde,oder, ein geschriebener Schwertgriff,Sie sollen nicht.

geradezu peinlich, und Herr Kerr ist doch selbst hinreichend sa-tirisch veranlagt, um nicht wenigstens nach Jahren die Wirkungseines Ausspruches (Nr. 22 im „Tagebuch eines Hirnwesens“) zu

kein Tyrtäus des Hinterlandes, seine Kriegsgedichte an der Frontschrieb, eben gelungen ist, die Marschbereitschaft in die Tatumzusetzen, habe ich in dem Aufsatz „Ein Friedmensch“ (S. 84)doch nur wörtlich wiederholt, was Herr Kerr geschrieben hatte:dass er zwei Gesuche eingereicht und im zweiten statt von seinermittleren Schiessfähigkeit“ von seiner perfekten Kenntnis desFranzösischen gesprochen hat. Es konnte also, bei genauesterWiedergabe des Sachverhalts, immerhin die (nicht in der Fackel,sondern in einem Schriftsatz meines Anwaltes ausgesprochene)Vermutung entstehen, dass er sich lieber als Dolmetsch nützlichmachen wollte. (Vergleiche auch die Auffassung Theodor Haeckers in dem schon vorgelegten Werk ‚Satire und Polemik‘) Da er ab-gewiesen wurde, so hat er es eben vorgezogen, sich ausschliess-lich als Kriegsdichter zu betätigen und zwischen seiner dochtatsächlich unangetasteten körperlichen Sicherheit und der ge-witzten Grausamkeit seiner Verse, die durch zahllose Fälle er-weisbar ist, einen der peinlichsten Kontraste der Kriegszeitherzustellen. Eine Gesinnung, die sich ehrlich dem Vaterlandopfern wollte, hätte, wenn es ihr versagt war, doch wenigstensdie Versifizierung des Kriegsleids und des Kriegsgreuens unter-lassen. Ist es schon eine schwere Zumutung Herrn Kerr zu glauben,dass er von dem Bewusstsein der Besetzung Togos aus dem Schlafgepeitscht wurde, so sind Wendungen im Munde eines Theaterkritikers,der sonst einen sehr nuancierten Stil schreibt, wie die schlichteZeile

Die Hunde,oder, ein geschriebener Schwertgriff,Sie sollen nicht.

geradezu peinlich, und Herr Kerr ist doch selbst hinreichend sati-risch veranlagt, um nicht wenigstens nach Jahren die Wirkung seinesAusspruches (Nr. 22 im „Tagebuch eines Hirnwesens“) zu spüren: „Undwie dem dreimal sei: zu Hause stirbt man und er-

stickt, wenn sie einen nicht mitnehmen.Man ist nicht gestorben, sondern hat just darüber Kriegsgedichtegemacht.

2) Völlig unergründlich scheint, wieso eine „Verleumdungwider besseres Wissen“ auch in der wörtlichen Zitierung von Ge-dichten des Herrn Kerr aus diesem Aufsatz in der ‚Neuen Rundschau(September 1914) gelegen sein könnte. Ich wusste „durch Bemäntelungdes Zusammenhangs den Eindruck hervorzurufen“, als ob er „diese Ge-dichte nicht selber missbilligt hatte“, als ob er „den Inhalt billig-te“. Wenn dieser Eindruck entstanden ist, was ich keineswegs leug-nen möchte, so liegt gar keine Bemäntelung irgendeines Zusammenhan-ges durch mich vor, so geschah es nicht wider mein besseres Wissen,sondern er selbst schien mir den Eindruck hervorrufen zu wollen undich musste annehmen, dass er den Inhalt seiner Gedichte billige,weil er sie sonst doch nicht verfasst und nicht veröffentlicht hätte.Ich weiss schon, dass ein Hirnwesen ein äusserst kompliziertes Ge-schöpf ist, das, wie ich noch später dartun will, gleichzeitigzwei Eisen im Feuer hatte, nämlich eines auch gegen das Feuer. Aberdie Besonderheit seiner Anschauung und seines schalkhaften Stilszugegeben und dass er etwa an das Ende der Verse von „Bandwurm,Krätze, Rheumatismus im Popo“ u. dgl. die Worte setzt: „Es geht nicht – was ich ja auch in Nr. 717/723 ausdrücklich zitiert habe –, ist esdoch klar, dass Herr Kerr eine Anschauung, der er gleichfalls zu-gänglich war, zum Ausdruck bringen wollte und dass es eben noch„ging“, mochte er sich auch der Unmenschlichkeit und Problematiksolchen Geschreibes einen Moment lang bewusst sein, hätte sichja füglich damit begnügen können, den Drang zu derartigen Kriegs-gedichten zu verzeichnen und sie selbst ungeschrieben zu lassen. Ernennt sie aber doch geradezu einen „Segenspruch“. Von

spüren: „Und wie dem dreimal sei: zu Hause stirbtman und erstickt, wenn sie einen nicht mit-nehmen.“ Man ist nicht gestorben, sondern hat just darüberKriegsgedichte gemacht.

2) Völlig unergründlich scheint, wieso eine „Verleumdungwider besseres Wissen“ auch in der wörtlichen Zitierung von Ge-dichten des Herrn Kerr aus diesem Aufsatz in der ‚Neuen Rundschauneu(September 1914) gelegen sein könnte. Es soll eine „Bemäntelungdes Zusammenhangs“ sein, wenn der Eindruck hervorgerufen wird, alsob der Autordiese Gedichte nicht selber missbilligt hätte“, alsob er „den Inhalt billigte“. Wenn ich diesen Eindruck hervorge-rufen habe, was ich keineswegs leugnen mochte, so lag gar keineBemäntelung irgendeines Zusammenhanges vor, so geschah es nichtwider besseres Wissen, sondern ich musste vielmehr glauben, dassder Autor den Inhalt seiner Gedichte tatsächlich billige, weil ersie sonst doch nicht verfasst und nicht veröffentlicht hätte. Ichweiss schon, dass ein Hirnwesen ein äusserst kompliziertes Ge-schöpf ist, das, wie ich noch später dartun will, gleichzeitigzwei Eisen im Feuer hatte, nämlich eines auch gegen das Feuer. Aberdie Besonderheit seiner Anschauung und seines Schalkhaften Stilszugegeben und dass er etwa an das Ende der Verse von „Bandwurm,Krätze, Rheumatismus im Popo“ u.dgl. die Worte setzt: „Es geht nicht 4– was ich ja auch in Nr. 717/723 ausdrücklich zitiert habe –, ist esdoch klar, dass Herr Kerr eine Anschauung, der er gleichfalls zu-gänglich war, zum Ausdruck bringen wollte und dass es eben doch‚ging‘, mochte er sich auch der Unmenschlichkeit und Problematiksolchen Geschreibes einen Moment lang bewusst sein. Er hätte sichja füglich damit begnügen können, den Drang zu derartigen Kriegs-gedichten zu verzeichnen und sie selbst ungeschrieben zu lassen. Er nennt sie aber doch geradezu einen „Segenspruch“ Von

einem besseren Wissen, gegen das ich Herrn Kerr nie Verantwortungfür seine eigenen Produkte auferlege, kann somit nicht die Rede sein.Vielmehr war ich und mit mir wohl jeder Leser der ‚Neuen Rundschaudavon durchdrungen, dass es dem Herrn Kerr mit diesen Gedichten,wenigstens im Moment, blutiger Ernst sei und dass er sie, die erdoch ausgeführt hat, keineswegs „missbilligen“ wollte, etwa in demSinn einer Parodie auf kriegshetzerische Lyrik. Denn damit hätteer wohl seiner selbst gespottet, da ja doch eben diese Gedichtenicht einmal annähernd an die gewitzte Grausamkeit der hunderteStrophen hinanreichen, die er den ganzen Krieg entlang im ‚Tagveröffentlicht hat und deren Inhalt er selbst ausdrücklich imSchriftsatz billigt, indem er sie wieder als ein patriotischesWerk zu rechtfertigen sucht, geleistet zum Ersatz dafür, dass sieihn nicht mitnehmen wollten. Diesen offenbaren Widerspruch mirhier wie dort als eine Verleumdung wider besseres Wissen aufzu-lasten – das „geht“ gewiss nicht.

3) Es soll an und für sich eine Verleumdung sein, vonden Gedichten, die der Beklagte entschieden nicht missbilligt, indem Sinne zu sprechen, als ob ihr Autor im Kriege „die Scherlsche Livree“ getragen hätte. So habe ich auch nicht gesprochen, HerrKerr entstellt den Wortlaut meiner Behauptung, denn ich habe ge-2.)sagt, dass er die „Kriegslivree des Hauses Scherl“ (S. 85), „die2.) Scherl’sche Livree des Kriegsdienstes“ (S. 87) trug und darin miteinem anderen alternierte. Das tat er doch ganz gewiss, wenn mander Metapher den Sinn einräumt, dass er ein vom Verlag Scherl ein-geführtes Pseudonym – „einen Sammelnamen der Redaktion“, wie erspäter selbst sagt – mit „vielen“ teilte. (Und ich dachte blossmit einem, so dass die Agnoszierung der Person ja noch schwierigerwar.) Herr Kerr mag nicht die „Scherlsche Livree“ getragen haben,aber das Pseudonym, das er trug, war sicherlich die Scherlsche

Livree des Kriegsdienstes. Dieser Feststellung widerspricht nunkeineswegs der von ihm hervorgehobene Umstand, dass er „dasvon mir getadelte Ostpreussengedicht“ (auch) in der demokrati-schen ‚Frankfurter Zeitung‘, andere in der politisch selbststän-digen Zeitschrift ‚Pan‘, wieder andere – nämlich jene, die HerrKerr selbst missbilligte – in der fast zwischenstaatlichenNeuen Rundschau‘ veröffentlicht hat. Eine umfassendere Ausdehn-ung der kriegslyrischen Tätigkeit widerstreitet gewiss nicht derFeststellung, dass er ständig und hauptsächlich die Firma Scherl beliefert hat, der doch auch niemand eine Berücksichtigung „derWünsche ihrer Frühstückleser“ verargen wird und die einem Ge-dichte von gegenteiliger Tendenz die Aufnahme wohl kaum bewusstgewährt hätte. Es ist aber mit keinem Wort von mir angedeutetworden, dass Herr Kerr seine Haltung nach diesen Wünschen erstgerichtet“ und sich etwa eines Widerspruchs zwischen seinerinnersten Gesinnung und seiner Betätigung für den Verlag Scherl schuldig gemacht habe. Er hat gewiss nicht „im Frondienst“ derFirma „als ‚Kriegshetzer‘ gewirkt“; vielmehr hat seine Gewinnungmit den Wünschen ihrer Kundschaft harmoniert, er brauchte seineHaltung nach diesen gar nicht erst einzurichten. Die Zitierung:weil die Leser es zum Frühstück verlangten, sagt er .....S. 87“ ist ungenau. Vielmehr wurde von mir gesagt, er habe „gewusst“,dass die Kunden, „die beim Frühstück .. blutige Witze habenwollten und dabei sicherlich keine stilistischen Untersuchungenangestellt haben, die Einheitsgesinnung goutierten, die unter derMarke Gottlieb geführt wurde“, und er habe sich mit keinem Ster-benston gegen die Verwechslung, auch „durch bessere Kenner“, mitjenem andern Gottlieb, dessen Masurengedicht er heute missbilligt,gewährt. Ich meine, dass hier ein anschauliches Beispiel für dieMethode des Zitierens vorliegt, die der Beklagte mir nachsagt, um

mich der Verleumdung zu überführen.

4) Herr Kerr hatte sich im Berliner Tageblatt in einem5.) Artikel über einen meiner Berliner Vorträge (siehe Nr. 649–656,S. 78, Anfang Juni 1924) gerühmt, dass ich ihn „gestern, am Lützow-ufer war es“ besucht habe. Also auf eine Art von dem angeblichenVerkehr zwischen uns gesprochen, die wenigstens den flüchtigenLeser glauben machen musste, dass dieser Verkehr sich vor nichtallzu langer Zeit, wenn nicht tatsächlich gestern, abgespielthabe. Er wiederholte das Wort „Gestern“, wenngleich mit dem Zu-satz „Das Leben lag dazwischen“, was ja in diesen gehaltvollenZeitläuften auch zwischen gestern und heute der Fall sein könnte,eine Auffassung, gegen die auch die Klammerbemerkung (Schiller:pfeilgeschwind) selbst den geübtesten Kenner Kerrscher Nuancennicht schützt, wiewohl er ihr die fliehenden Jahre entnehmen kann.Aber warum sagt Herr Kerr das, wenn er nicht die frische Erinnerungan eine Freundschaft vorspiegeln wollte, die in Widerspruch zumeinem jetzigen Verhalten gegen ihn stehe, zu meiner „heutigenThersituation“, in der mich zu sehen er neugierig war, wie er miteinem greulichen Kalauer versichert. Jene schillernde Nuance habeich – nebst allen sonstigen aufgetragenen Entstellungen des Ein-drucks und Erfolgs – mit der Erklärung entkräftet, es handle sichum eine dichterische Wendung, denn ich hätte Herrn Kerr tatsächlichnicht am 20. Februar 1924 besucht, sondern die Begegnung habe sich,wenn überhaupt, so im Jahre 1897 zugetragen. Ich konzedierte ihmein noch besseres Gedächtnis als mir und schrieb nieder, woran ichmich nach fast dreissig Jahren eben noch erinnern konnte: dass ichmit ihm nie, auch nicht 1897 in einer andern persönlichen Verbin-dung gestanden sei, „als dass ich ihn einmal, vor der scheusslichenGerichtsverhandlung, durch die er den greisen MusikschriftstellerTappert um sein Brot brachte, einen Moment sah und dann angewidert

nicht mehr kannte“. Der Beklagte sagt nun, dass ich auch hier be-wusst die Unwahrheit spreche. Ich hingegen mache mich zu eidlicherAussage erbötig, dass mir von einer persönlichen Verbindung mitHerrn Kerr weiter nichts in Erinnerung geblieben ist als eben dasSubstrat der Darstellung, die ich nach bestem Wissen und Gewissengemacht habe. Es ist möglich, dass ich mich nicht so gut wie ererinnere und dass ihm das Erlebnis dieser gewiss flüchtigen Be-kanntschaft länger haften geblieben ist; aber dass ich bewusst dieUnwahrheit spreche, könnte er niemals beweisen. Ich tue nicht des-gleichen, räume die Möglichkeit ein, dass sein Gedächtnis meinenBesuch oder „Besuche“ am Lützowufer bewahrt hat, und will ihm dieWahrhaftigkeit dieser Aussage oder den guten Glauben nicht bestrei-ten. Was mein Gedächtnis jedoch treu bewahrt hat, ist der beklem-mende Eindruck seines Auftretens gegen einen Greis, dessen „Be-stechlichkeit“ damals keineswegs „durch das Gericht festgestelltwurde und den er tatsächlich um sein Brot, um seine Existenz ge-bracht hat, wiewohl das ‚Kleine Journal‘ ihm seinen dürftig be-soldeten Posten schliesslich nicht entzogen hat. Es ist unwahr,dass diese Zeitunges bei einer öffentlichen Abbitte desdurch Geld bestochenen Musikkritikers bewenden liess“.Hier versagt das Gedächtnis des Beklagten. Der alte Mann war nichtder Geldbestechung und also des Amtsmissbrauchs überführt worden,sondern nur der argen Inkorrektheit, den wenngleich geringfügigenSpesenersatz für Konzertkarten, Droschken, Abendessen wie auchPrüfungshonorare von Sängern angenommen zu haben. Zu einer „Ab-bitte“ lag schon darum kein Grund vor, weil ja Tappert gegen denVorwurf der Bestechung Kläger war und wegen dieser, selbst wennsie bewiesen worden wäre, den Angeklagten nicht um Verzeihung zubitten hatte; und als Beklagter – wegen des Vorwurfs der Verleum-dung gegen Kempner (Kerr) – hat er gleichfalls keine öffentliche

Abbitte geleistet, vielmehr wurden beide Klagen durch Rück-ziehung ausgeglichen. Dagegen hatte der Vertreter des be-klagten Kempner-Kerr in einem kritischen Stadium des Prozesseserklärt, dass er den Vorwurf der gemeinen Bestechung nichtaufrecht halten könne. Eine Veröffentlichung im ‚KleinenJournal‘ ist tatsächlich erfolgt – nämlich eine der Redaktion –,die aber bei offenenem Eingeständnis der Verfehlungen desMusikkritikers die schwerste Anklage der Unmenschlichkeitgegen den damaligen Beklagten enthielt. Sie lautet:

22. Dez. 1897.

Wir erhalten von Herrn Tappert folgendes Schreiben:

An den Verlag des ‚Kleinen Journals‘ Hier.

Hierdurch bitte ich Sie, mich mit dem heutigen Tage vonmeiner Stellung als Musikkritiker des ‚Kleinen Journals‘ ent-heben zu wollen. Hochachtungsvoll Wilhelm Tappert.

Nach reiflicher Erwägung haben wir diesem Ersuchen desHerrn Tappert nicht stattgegeben. Wir verhehlen uns nicht, dass die Beweisaufnahme des gestrigenTages höchst ungünstig gewesen ist; wir sind uns mit dem Be-troffenen darüber klar, dass er leichtsinnig und inkorrektverfahren ist; wir stehen nicht an zu erklären, dass seineHandlungsweise mit der Berufsehre eines vornehmen Kritikersin bedenklichster Weise kollidiert.

Der alte Mann hat jedoch zwei Mal an dem Marterpfahl derÖffentlichkeit gestanden, an welchen ihn sein jugendlicherBüttel Dr. Alfred Kempner gezerrt hat: hohn-lachend sind Neid und Bosheit an dem grauhaarigen Gelehrten vorüber gezogen, hämisch hat ihm die Schadenfreude in dasrunzelige Gesicht gegrinst. Nun sei es genug des grausamenSpiels! Der Freund und Vertraute eines RichardWagner hat gebüsst. Wir erachten es für unsere heili-ge Pflicht, den achtundsechzigjährigen Mann nunmehr seinenPeinigern zu entreissen und ihn auf dem Platze zu belassen,auf welchem er zu Nutz und Frommen des gesamten Musiklebensin Deutschland seit langen Jahren Erspriessliches und Se-gensreiches gewirkt und geschaffen hat.

Herr Tappert hat in seinem Leben keine Reichtümergesammelt. In einer kleinen Wohnung im vierten Stocke einesHauses in der Belle-Alliance-Strasse führt er sein beschei-denes Dasein und mühevoll ernährt er seine grosse Familie.Sein einziger Stolz ist seine Musikbibliothek und die Liebezu dieser Sammlung mag den alten Herren vielleichtzu den Fehltritten verleitet haben, welche auch wir aufsTiefste bedauern und beklagen. Und nun breche der Entrüstungs-

sturm der Herren Kollegen von der Feder über uns los!Mögen alle diejenigen den ersten Stein auf uns werfen,welche der Ueberzeugung sind, dass sie niemals menschlichgefehlt haben und niemals sündigen werden. Bald werdendie Weihnachtsglocken läuten. Wir haben das Bewusstsein,recht zu handeln, und beneiden Niemanden um den traurigenRuhm, einer armen Schriftstellerfamilie zum heiligen AbendSorge, Kummer und Not bescheert zu haben. Im Zeichen desFriedensfestes sei der Fall „Tappert“ verziehen und ver-gessen!

Was mir dauernd und deutlich im Gedächtnis blieb, ist dasBild dieses um sein Restchen Existenz ringenden greisenKlägers, an dem ein um mehr als vierzig Jahre jüngererseine antikorruptionistischen Sporen verdienen wollte undgegen den er in einer völlig unerheblichen Sache, die sei-nem Interessengebiet fern lag, im Gerichtssaal losging.Was mir noch heute vor Augen steht, ist dieses alte Gesicht,durch dessen Sorgenfurchen die hellen Tränen liefen. Indem schon damals unermess baren lichen Ozean von Presskorruptionwar der Fall Tappert wohl der armseligste Tropfen, einumso nichtigeres und übersehbareres Faktum, als es sichnicht nur um einen steinalten Mann handelte, sondern umeinen anerkannten Musikpädagogen, der bloss im Nebenbe-ruf für die Zeitung Kritiken schrieb und dessen eigentli-cher Erwerb der Musikunterricht war, den er auch ohne denjournalistischen Rückhalt an Sänger zu erteilen berufenwar, aber durch den Skandal des Prozesses verlor. Er istbald den ihm verursachten Aufregungen und Entbehrungenerlegen und in grosser Armut gestorben. „Es unterliegtkeinem Zweifel“, schreibt mir ein Berliner Leser, derüber den Ablauf der Sache Erkundigungen eingezogen hat,die meine Erinnerung bestätigen sollten, „dass gerade derProzess dem alten Mann im vollsten Sinne den Hals gebrochenhat“. Die hässliche Art, in der der damalige Beklagte gegen

den Armen, der wirklich nicht wie ein Journalist, sondern wieein alter Lehrer aussah, sein „Material“ gesammelt hatte, ist inden Verhandlungen zu lebhaftester Anschauung gekommen. Ich lege6.)hier in Abschrift den in der Berliner Staatsbibliothek exzer-pierten Gerichtssaalbericht des ‚Kleinen Journals‘ bei – derdie Inkorrektheit seines weltfremden und sicherlich nicht inder Korruptionssphäre gewandten Musikkritikers unverhüllt liess –,nebst den zugehörigen Dokumenten, und berufe mich zur Kennzeich-nung der Rolle, die der heutige Beklagte damals gespielt hat,auf den Pianisten Moritz Rosenthal, auf den jetzigen Redakteurder ‚B.Z. am Mittag‘ und damaligen Mitarbeiter des ‚KleinenJournalsNorbert Falk wie auf den Amtsgerichtsrat Schwindt,Moabit, der damals als Anwalt eines zweiten Klägers gegen Kempner-Kerr interveniert hat, auf diesen Zeugen insbesondere wegen desUmstands, dass der Verteidiger Dr. Bernstein dem Gegner JustizratKleinholz, der sich eben zum Plaidoyer erhob, mit der Erklärungins Wort fiel, dass der Beklagte die Beleidigung zurücknehme. Dennes ist gewiss bemerkenswert, dass er Jahrzehnte nach dem Todseines armen Gegners die ehrvernichtende Beschuldigung wiederholtund behauptet, deren Wahrheit sei „durch das Gericht festgestelltworden, eine Behauptung, die doch schon durch den Umstand Lügengestraft wird, dass der Prozess nicht mit einem freisprechendenUrteil, sondern mit einem Vergleich geendet hat. Im Gegenteilwurde festgestellt, dass „ein tatsächlicher Fall von erfolgterBeeinflussung in der Kritik nicht festgestellt werden kann“.Dass die damalige Haltung des Beklagten mir zum Aufschluss übersein Wesen verhalf, mochte ich ihn im Jahre 1897 auch besuchthaben – dies feststellen zu können, wird er mir wohl oder übelschon zubilligen müssen. Die Unwahrheit, die ich „bewusst auchhier spreche“, glaubt er zunächst durch den Umstand darzutun, dass

ich ihn auch „nach 1897 durch ‚freundschaftliche‘ Besuche behel-ligt“ hätte. Diese Behauptung sucht er durch die anschliessendeglaubhaft zu machen, dass ich ihm „drei Monate nach dem Prozessgeschrieben habe: „Die Ehrlichkeit, mit der Sie den frechenSchund annageln, hat mich wirklich gefreut“ (30. IX. 97) Dieser Be-weis wäre schon aus Gründen der Chronologie nicht sehr zwingend,und in Bezug auf die Tatsache von Besuchen nach dem Jahre1897 würden also doch nur zwei Aussagen, die sich auf das Ge-dächtnis stützen, diametral einander gegenüberstehen, es wäredenn, dass Herr Kerr über Tagebuchaufzeichnungen verfügt, ausdenen hervorgeht, dass ich ihn auch nach diesem Jahre noch behel-ligt habe. Aber selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, würde ichbei meiner Erklärung bleiben, dass der Eindruck von jener Prozedur,der sich vielleicht erst nach dem Ableben seines Gegners befestigthat, zur Grundlage der Erkenntnis seines Wesens geworden ist. Darankann ich mich auch nach dreissig Jahren ganz genau erinnern unddafür wird wohl auch der Umstand hinreichend zeugen, dass selbstaus den Angaben des Beklagten hervorzugehen scheint, es sei zwi-schen 1897 und 1907, also in einer Zeit, in der die Gründung mei-ner Zeitschrift fiel, kein Lebenszeichen an den freundschaftlichUmworbenen ergangen. Was ist es nun mit jenem Brief, der noch indas Jahr 1897 fällt? Wie gewandt der Adressat mit Daten manipu-liert und wie er durch Tonfall die Tatsächlichkeit zu ersetzenoder zu ergänzen trachtet, geht aus der grosszügigen Angabe her-vor, dass ich ihm „drei Monate nach dem Prozessgeschrieben habe. Wann? 30. IX. 97. Das war nun freilich drei Mona-te nach dem Beginn des Prozesses, dessen erster Termin eben am21. Juni 97 stattfand. Es war aber ebenso drei Monate vor demEnde des Prozesses, dessen zweiter Termin auf den 22. De-zember 97 fiel; und sicher vor Tapperts Ruin und Ende.

(Und also noch im Jahre 1897.) Wenn Herr Kerr selbst tagebuch-mässig beweisen könnte, dass ich dem ersten Termin beige-wohnt habe und nicht dem zweiten, so hätte ich noch immer reich-lich Zeit zur Eindrucksbildung gehabt. Er verschweigt, wann derProzess zu Ende war; „drei Monate nach dem Prozess“ wäre jeden-falls nicht September 1897, sondern März 1898. Dies zur Klärungder Frage, wann ich Herrn Kerr etwas geschrieben habe. Was aber habe ich ihm geschrieben? Er zitiert das Kompliment, dasich ihm drei Monate vor dem Prozessende geschrieben habe, ganz so,als ob es in einem Zusammenhang mit der Prozessache und also ineinem inneren Widerspruch zu dem von mir behaupteten Eindruckstunde. Das könnte ja der Fall sein, wenn ich dem Junitermin bei-gewohnt und einen sympathischen Eindruck von seiner Handlung da-vongetragen hätte, und ich könnte noch immer später, nach demDezember und dessen Folgen, anderer Ansicht geworden sein. DerSatz, den Herr Kerr zitiert (von einem „frechen Schund“) scheintaber eine Kritik eines Theaterstücks zu betreffen. Zur Aufklärungdieses Punktes beantrage ich die Vorlage des Brieforiginals. lchvermute (ohne es zu behaupten), dass sich die Stelle auf einenBerliner Brief“ des Herrn Kerr in der ‚Breslauer Zeitung‘ be-zieht, für die ich gleichzeitig damals „Wiener Briefe“ schrieb.Wäre es wahr, dass ich Herrn Kerr, sooft ich nach Berlin kam, be-sucht habe, so wäre es weniger auffallend als dass ich ihn mitdiesen Besuchen „behelligt“ haben soll. Es wäre sogar begreiflich,dass ich ihn als engerer Kollege b) „herzlichst“ gebeten habe,mit ihm zusammenzukommen, was er seinerseits bei einer Reise nachWien getan hätte, und in Breslau wären wir vermutlich in der ge-meinsamen Redaktion zusammengetroffen. Wann habe ich ihn ge-beten? „Später“. Ich beantrage Vorlage des Schreibens zur Fest-stellung des Datums und ob das „herzlichst“ vielleicht die übliche

Grussformel oder ob es eine besondere Dringlichkeit der Bitteausdrückt, der er dann nur widerstrebend nachgekommen wäre. Des-gleichen beantrage ich, Herrn Kerr zu befragen, ob er sich aucherinnert, mich damals öffentlich – einen Privatbrief bewahre ichnicht mehr – in einem „Berliner Brief“ in der ‚Breslauer Zeitungherzlichst apostrophiert zu haben, so dass ich wohl umso eherwähnen konnte, mich ihm persönlich nähern zu dürfen. Was er c)unternimmt, spätere Versuche zu „Näherungen“ zu beweisen und meineHaltung gegen ihn offenbar auf ein Motiv der Rache wegen derenAbweisung zurückzuführen, bezeichne ich als bewusste Irreführungdes Gerichtes. Mit einem Schwung über zehn Jahre, in denen ich ausirgendeinem Grunde geschmollt zu haben scheine, behauptet er, ichhätte ihn „auch 1907 ‚lobend‘ in der Fackel erwähnt“.Wäre es wahr, zehn Jahre nach dem persönlichen Misseindruck, sowürde es diesem durchaus nicht widersprechen, versteht sichwenn das Lob sich nicht auf seine Haltung in der Tappert-Sache,sondern auf irgendeinen literarischen Essay bezöge. Und warumwäre es nicht möglich, wir waren ja beide damals um zwanzig Jahrejünger. Herr Kerr hat aber ganz recht, mitten im Aufheben, daser von meiner „Erwähnung“ nach so langer Zeit macht, wohl derersten Erwähnung seines Namens in der Fackel, das Wort „lobend“in Anführungszeichen zu setzen. Die Stelle, in einer Brief-kastennotiz, die, wenngleich im kleinsten Druck gehal-ten, der Aufmerksamkeit des Belobten doch nicht entgangen ist,steht in Nr. 216 (9. Januar 1907) auf S. 24 und lautet wörtlich:

Literat. Das trostloseste Bild impressionistischenSchmocktums bietet zur Zeit die Berliner ‚Neue Rundschau‘. WelcheFülle preziöser Nichtigkeit für 2 Mark 50! Herr Alfred Kerr, die-ser Virtuose der Kurzatmigkeit, nützt sich schliesslich auch ab;die vielen Punkte, die seine Theaterbetrachtungen zerreissen,hören auf, Gesichtspunkte zu sein. Immerhin bleibt er ein Origi-nal in dieser Oede angedünkelter Modernität. – –

Folgt eine Darstellung der Sorte Literatur, die sich in der

Neuen Rundschau‘ breit macht. Wenn ich ihr also die Erscheinungdes Herrn Kerr als so relativen Wert entgegensetze, sie mit sol-chem Masstab messend – ist positiv damit anderes bewiesen alsdie Konsequenz meiner durch die Jahrzehnte bewahrten Abneigunggegen seine pointillierte Manier? Und solches nennt Herr Kerr,so genügsam, darin ein Lob zu erkennen, der Versuch einerNäherung“. Desgleichen habe ich aber d) „1908 sogar seinGedicht über den herrlichen Darsteller Girardi in der Fackel mitrühmenden Worten abgedruckt – ohne sein Zutun“. Natürlich ohnedieses, da ich doch nicht auf Ersuchen eines Autors etwas von8.)ihm nachdrucken werde. Es ist nun richtig, dass ich in Nr. 270/71 (S. 19, Januar 1909) Kerrs Verskritik über Girardi („Mein Leopold“,Thalia-Theater) freiwillig zitiert habe, wohl nicht nur, um diebegeisterte Aufnahme des von mir verehrten Künstlers in Nord-deutschland – er hatte Wien in Verbitterung den Rücken gekehrt –zu bekunden, sondern vielleicht auch weil es mir bei meiner Ab-neigung gegen die Prosa des Kritikers gerecht schien, dem Wohl-gefallen an seinen Strophen über den Alten in „Mein LeopoldAusdruck zu geben. Ich tat dies mit der Fussnote: „Diese feineund einprägsame Theaterkritik eines Berliner Schriftstellers, dieschon vielfach zitiert wurde, verdient auch hier ihren Platz.Dies ganz und gar in dem Bewusstsein, dass er zwölf Jahre zuvoreiner anderen Greisengestalt mit weniger Ehrfurcht begegnet war,und gewiss ohne das Gefühl, dass in diesem Nachdruck mein Widerspruch fühlbar werde. Diese beiden Hinweise bezeichnet derBeklagte als Versuch „wiederholter Näherungen.“ Hätte ich solchewirklich und selbst später noch unternommen, so wäre ihnen durchseine Haltung in der Jagow-Affäre (1911) entschieden ein Schluss-punkt gesetzt worden.

5) Er unternimmt es nun, die Erkenntnis, dass ich ein

Verleumder sei, die er sich selbst nicht glaubt, durch Berufungauf Kronzeugen zu stützen, welche sie vor ihm gehabt und Grundzu ihr gehabt hätten. Victor Adler, der hervorragende öster-reichische Sozialistenführer, „den Kraus selber hochschätzt(Kraus, dem also eine gewisse Objektivität zugestanden wird), habesich gezwungen gesehen, mich „öffentlich in einem Aufsatz Ver-leumder zu nennen“. Dies Verleumdungsmotiv ist das einer altenArie, die bei jeder Anstrengung eines literarischen Gegnerswiederkehrt. Victor Adler hat mich aber keineswegs in einem Auf-satz, der seinen Namen trug, einen Verleumder genannt – hätteer es getan, so wäre damit noch immer nicht bewiesen, dass icheiner sei – , sondern das hat tatsächlich die Wiener Arbeiter-zeitung im Jahre 1900 getan, zu einer Zeit, da ein anderer hervor-ragender Sozialistenführer, der alte Liebknecht, ständig an derFackel mitgearbeitet hat. Es geschah im Zuge einer Polemik, inder es sich um das sehr bedeutsame Problem gehandelt hat: dervon mir heftig getadelten Aufnahme grosskapitalistischer Insera-te in eine antikapitalistische Zeitung, Ich weiss nicht, ob imFall einer gerichtlichen Entscheidung mein Angriff für wenigerberechtigt befunden worden wäre, als der gegen mich gerichtete,und ob er nicht den gleichen Anspruch auf moralische Dauergeltungerheben könnte. Aber ich weiss, dass mit einer Praxis, derenganz im Sinne der Lasalle und Liebknecht gehaltene Kritik mirleider den Vorwurf der Verleumdung zugezogen hat, in bessererErkenntnis bald danach gebrochen worden ist. Ich führe den der-zeitigen Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung und einstigen erstenMitarbeiter Victor Adlers, den Nationalrat Friedrich Austerlitz (Wien V. Rechte Wienzeile 97) als Zeugen darüber, ob der in derdamaligen Polemik seines Blattes – die er wohl zum grössten Teileselbst geschrieben hat – enthaltene Vorwurf mehr als der Ausdruck

publizistischer Verärgerung war und ob er eine ernsthafte Ne-gierung der Ehrenhaftigkeit des Angegriffenen bedeuten sollte;ferner darüber, wie er vor jener Zeit und nach ihr über meineliterarische und publizistische Tätigkeit gedacht und öffentlichgeurteilt hat und heute denkt und urteilt; schliesslich darüber,dass Victor Adler selbst später in Ausdrücken grösster Achtungvon dieser gesprochen hat, und dass der Zeuge als der nächsteKenner Victor Adlers die Ausschrotung und systematische Weiter-gabe dieses einen, vor siebenundzwanzig Jahren gesetzten Wortes,zwischen zahllosen Bekundungen eines gerade entgegengesetztensittlichen Werturteils in der Arbeiter-Zeitung, verabscheuenswertfindet. Ich berufe mich ferner darauf, dass Victor Adler selbst,offenbar in bewusstem Gegensatz zu dem ihm als unabänderlich zu-geschriebenen Votum, am 20. Dezember 1917 in der 52. Sitzung derXXII. Session des österreichischen Abgeordnetenhauses – wie früherund später viele andere seiner Parteigenossen – eine Interpellationzugunsten des Herausgebers der Fackel eingebracht hat – eine Tat-sache, die den siebzehn Jahre vorher in der Arbeiter-Zeitung aus-gesprochenen Vorwurf zu entkräften oder doch in seiner Geltungfür die folgenden zehn Jahre und darüber hinaus zu beeinträchtigengeeignet ist.

6) Dass „Kraus in Oesterreich bereits im Be-ginn seiner Laufbahn wegen Verleumdung be-straft“ wurde, ist unwahr. Er wurde tatsächlich im Februar1901 wegen Ehrenbeleidigung von den Geschworenen schuldig erkanntund vom Gericht zu einer Geldstrafe verurteilt, nachdem die In-formatoren der gegenständlichen Behauptungen versagt hatten undein Hauptzeuge, dessen Mitteilung die Stütze des Angriffes gewe-sen und der inzwischen wieder in Beziehung zur Gegenseite getre-ten war, ausgesagt hatte, dass er sich an nichts erinnern könne.

Dass an der Behauptung, der Schriftsteller Bahr habe sichvon dem Theaterdirektor, über dessen Theater er Kritikenschrieb, ein Grundstück schenken lassen, „kein wahres Wortgewesen ist“, ist kein wahres Wort. Es wurde festgestellt,dass er das Grundstück zu einem ungewöhnlich niedrigen Preise„wie geschenkt“, erhalten hatte. Es wurde bewiesen, dass derTheaterdirektor die Stücke des Kritikers, der aus einem ge-hässigen Gegner des Theaters ein enthusiastischer Freund ge-worden war, besonders bevorzugte. Der Kläger Bahr hat baldnach diesem Prozess, der für mich günstig verlief und un-günstig ausging, seine kritische Tätigkeit eingestellt. InGutachten von Sachverständigen wie Paul Heyse, Wilhelm Jordan,Fritz Mauthner, Karl Bleibtreu, Maximilian Harden, Max Marter-steig und dem Herausgeber des ‚Morning Leader‘ war die Un-vereinbarkeit des Kritikeramtes mit dem Bezug von Tantiemenbekundet worden. Nicht von Alfred Kerr, dem aktiven Hüterkritischer Reinheit, offenbar, weil ich ihn gerade wegen die-ser Funktion „nicht mehr kannte“. Denn der Fall, dessen Be-handlung durchaus in der Linie des Kampfes der Fackel gegendie Presskorruption lag, war ein wesentlich anderer als derFall Tappert, wo es sich um einen greisen Musiklehrer gehan-delt hat, der im Nebenamt Kritiken schrieb, der Fall, der vonHerrn Kerr, ohne die geringste Berufung zur Aufsicht überMissbrauche des kritischen Amtes und gar des musikkritischen,zu Zwecken einer Feuilletonplauderei aufgegriffen wurde, miteiner Pauschalverdächtigung der gesamten Musikritik und unterdem Zwang, nach deren Protest Namen zu nennen. Ich lege eineAbschrift des Urteils des Wiener Landesgerichtes vom 23.9.)Februar 1901 bei, nach welchem von einer „Verleumdung“ nichtdie Rede sein kann, wo mir vielmehr der gute Glaube an die er-

haltene „unrichtige Information“ zugesprochen und einUeberwiegen der Milderungsumstände in qualitativer wie inquantitativer Hinsicht“ anerkannt wurde. Dafür, dass der da-malige Angeklagte den Prozess in Ehren bestand und nur vonZeugen im Stich gelassen wurde; dafür, dass es sich um einenhervorragend sittlichen und thematisch erfolgreich durchge-führten Kampf gehandelt hat, für dessen kulturelle Bedeutungfreilich den Geschworenen jedes Verständnis fehlen mussteund zu dessen einstimmung ungünstiger Entscheidung ihnenbloss der Irrtum im Konkretesten wie die Demagogie des einenKlägers die Handhabe bot – als Zeugen dafür beantrage ichmeinen damaligen Verteidiger, den derzeitigen österreichi-schen Finanzminister Dr. Viktor Kienböck (Wien I. Planken-gasse 7) zu vernehmen. Ferner als Zeugen dafür, wie es wegenseiner Aussage zu meiner Verurteilung in einem Hauptpunktkam, Herrn Hofrat Rudolf Holzer, Leiter der amtlichenWiener Zeitung‘, der als Autor der Volkstheaterdirektion,wie ich sagte, „Zeugenschaft ablegen sollte gegen seinenBedränger und Partei nahm gegen seinen Beschützer“. Ich lege10das Heft der Fackel Nr. 387/88 (November 1913, S. 24ff.) bei,worin von einer Gewissensentlastung des Zeugen nach so vielenJahren zu lesen ist, freundlich gewürdigt in einem Bericht der christlichsozialen ‚Reichspost‘ über eine Rede desSchriftstellers Holzer, mit der Stelle, dass ich für eindiesem Autor vom Direktor zugefügtes Unrecht zu büssen hatte,dass ich „juridisch verurteilt werden musste, sachlichaber, wie Holzer nach Jahren er-kannte, im Rechte war“. Ist es danach nichtungeheuerlich, dass Herr Kerr diesen fast drei Jahrzehntezurückliegenden Fall als eine mir nachgewiesene „Verleumdung

bespricht? Und ist es nicht geradezu eine Irreführung desGerichtes, wenn er tonfallmässig durch die Wendung „Kraus ist in Oesterreich bereits im Beginn seiner Laufbahnwegen Verleumdung bestraft“, vor fremdem Forum den Eindruckerwecken möchte, dass ich, der „bereits“ im Beginn der Lauf-bahn wegen Verleumdung bestraft wurde, dieses Handwerk offen-bar mit dem gleichen Resultat seit damals fortgesetzt habe!Ist es nicht geradezu ein Schulbeispiel für die Methode, diemeiner Art des Zitierens und Gruppierens von Tatsachen nach-gesagt wird, für eine Art Verleumdung, die „manchmalnicht darin liegt, dass er Tatsachen erfände, sondern darin,dass er scheinbar Wahres hinsetztund ihm durch einen Kniff in derGruppierung schillernd-verleum-derischen Inhalt gibt“? Ja: „er kann sichim Wortsinn darauf berufen ‚die Wahrheit‘ gesagt zu haben….Es ist die weniger offene, weniger fassbare, weniger mutigeArt der Verleumdung“! Aber in Wahrheit würde doch selbst dieohne solchen Kniff vorgenommene Berufung auf den verjährtenFall, würde der Vorwurf einer 1901 erlittenen Strafe wegenangeblicher „Verleumdung“ nicht diese, sondern einzig undallein die Vermutung stützen, dass der auf hundert Gebietender öffentlichen Moral geführte Kampf eines polemischenSchriftstellers sich wohl guter Gründe und guter Waffen rühmendarf, wenn ihm in Jahrzehnten nichts als die eine Verurtei-lung wegen Beleidigung nachgesagt werden kann.

III.Soviel über die nachweislich bewuss-ten Verleumdungen; also Verleumdungen im Sinne des Ge-setzes“, sagt der Beklagte, vielleicht doch in seinem Laien-

begriff nicht ahnend, dass er das Gesetz nicht kennt odergar selbst übertritt. „Zur allgemeinen Kennzeichnung desKraus und seiner verleumderischen Manöver“ dienen ihmfernerhin folgende Punkte“. Ich habe – so führt der Be-klagte aus – die Verfasserschaft eines Gedichtes, dasdie in den Masurischen Seen Sterbenden verspottet, wahrheits-widrig ihm nachgesagt. Der Beklagte macht nun durch seineVersicherung glaubhaft, dass er „dieses Gedicht niemals ver-fasst“ habe, welche Aussage ich freilich schon in dem Ar-tikel „Ein Friedmensch“ vermerkte, der ihn zu der Abwehrseiner beleidigenden Notiz veranlasst hat. Der Beklagte führtaus, er habe „niemals Grausamkeiten geäussert, wie diesesGedicht sie enthält, das qualvoll in den Tod Sinkende ver-höhnt“. Er „legt Wert auf die Feststellung, dass ein solchesVerspotten Hinscheidender ihm unendlich widerstrebt hätte“.Ich hätte demnach „bedenkenlos und prüfungslos die Unwahrheitgesagt“ (in dem Artikel „Kerr in Paris“, meint er, der demArtikel „Ein Friedmensch“ voranging, worin ja die Feststel-lung, dass er nicht der Autor des Masurengedichtes sei, schonbeantwortet wurde). Die wirklich im Krieg von ihm verfasstenGedichte, führt er aus, hatten „immer nur dieTendenz gehabt, dem eigenen be-drängten Lande zu helfen“. Sie seien „oftsatirisch derb“ gewesen, aber „wesensverschieden“ von diesemGedicht, das ich „willkürlich und auf gut Glück“ ihm zuge-schrieben hätte. Seine Verse seien „oft derbste Abwehr undAufforderung zur Abwehr“ gewesen, „abernicht Sadismus gegen Sterbende“. Der Beklagte irrt: wenn ernicht bedenkenlos und prüfungslos, willkürlich und auf gutGlück die Unwahrheit sagt, wie etwa im Fall Bahr, und zu

ihrer Bemäntelung eine Spiegelfechterei vorhat wie inallen anderen Punkten und insbesondere mit den Datenbereits im Beginn seiner Laufbahn“ und „drei Monaten nachdem Prozess“. Bedenkenlos habe ich das Gedicht von denMasurischen Seen ihm keineswegs zugeschrieben, sondern so-weit meine stilistische Sachverständigenschaft – und eineandere „Prüfung“ war ja nicht möglich –, nach sorgfältigstemStudium dieses wie aller andern mit „Gottlieb“ gezeichnetenProdukte. Nach gewissenhaftester Vergleichung mit den unterdergleichen Chiffre erschienenen Scheusslichkeiten, derenAutorschaft er nicht in Abrede gestellt hat, aber sich wohl-weislich hütet, einzelweis ausdrücklich zu bekennen. HerrKerr hat Grausamkeiten geäussert, wie dieses eine Ge-dicht sie enthält, dessen Autorschaft nun wenigstens be-stritten ist – weit über die Tendenz hinaus, dem eigenenbedrängten Lande zu helfen, dem mit Scherzversen überKriegsgreuel, mit Satirisch-Derben, mit gereimter Aufforde-rung zur Abwehr durchaus nicht geholfen und weit eher inden Augen ausländischer Freunde geschadet war. Nein, will-kürlich und auf gut Glück ist ihm dieses Gedicht keineswegszugetraut worden, sondern – unter gewissenhafter Ausschei-dung zahlloser anderer Gottlieb-Werke, die seine stilisti-sche Marke nicht zu haben schienen, und unter sorgfältigerBeibehaltung ebensovieler, die sie hatten – bloss irrtüm-lich. Dass unter den vielen zitierten nur die Verfasser-schaft eines einzigen von ihm bestritten wurde, das alleinzeugt doch schon von der peinlichen Sorgfalt, mit der ich –nicht allein, sondern in Verbindung mit einem Spezialisten,der in der Nationalbibliothek diese ganze Literatur exzer-piert hat – an die Entscheidung gegangen bin. Er muss mir

doch selbst das Zeugnis ausstellen, dass ich mit stilisti-schem Sachverstand am Werke war, wenn ich nur in dem einenFall unter so vielen danebengegriffen habe, und er möge mirdoch sagen, welche sonstige „Prüfung“ im Bereich der Möglich-keit lag und wie ich mich denn hätte „vergewissern“ sollen,wenn nicht etwa durch direkte Anfrage bei ihm, der mir wohldie Antwort verweigert hätte, oder bei der Redaktion desTag‘, die mir mit Recht geantwortet hätte, das Gedicht seivon Gottlieb. Es ist doch einmal eine Sache, wo die von ihmverlangte Vergewisserung gewiss schwieriger war als etwa dieErforschung des Sachverhalts meines Prozesses im Jahre 1901wie die Ueberprüfung anderer gegen mich erhobener Anwürfe. Ja,blosses Nachdenken sollte hinreichen, sich selbst darüber zuvergewissern, dass eine unanfechtbare Feststellung der Autor-schaft eines Gottlieb-Gedichtes ein Ding der Unmöglichkeitist und ein Irrtum entschuldbar. Es wäre doch Zeit, der Logikdie ihr gebührende Ehre zu geben und einzusehen, dass manselbst ohne stilistische Ueberprüfung, zu der ja nicht alleLeser imstande sind, das Recht hätte, sämtliche Gottlieb-Gedichte jedem der „Vielen“, die unter dem „Sammelnamen derRedaktion“ wirkten und deren Namen nachträglich bekannt wer-den, zususchreiben, ohne dem einzelnen nahezutreten, indemnoch jeder auch für das Gedicht des andern, in Gesinnungund Form, verantwortlich ist, da er eingewilligt hat, sagenwir nicht die Livree, aber doch die Uniform dieses Pseudonymszu tragen. Ein Unrecht ist dem einen Gottlieb mit der Zu-schreibung des einen Gedichtes unter hundert analogen, dieer verfasst und nicht verfasst hat, nicht zugefügt worden.Er gibt derbste Abwehr und Aufforderung zur Abwehr zu – dennMinnelieder kann er seiner damaligen Produktion ja nicht

nachsagen –, unterlässt es aber leider, sie mit Beispie-len zu belegen. Wenn Gottlieb ein Sammelname der Redaktion war, den er stolz führte, glaubte er im Ernst, dass erdurch mich zum erstenmal das Opfer eines stilkritischenIrrtums geworden ist? Nimmt er an, dass die Leser desTag‘ täglich an diesem Problem Anteil hatten wie nurspäter an Kreuzworträtsel – um in dem Fall des Masuren-gedichtes zu sagen: „Nein, das kann nicht von Kerr sein!“Wenn er in der Scherlschen Livree des Kriegsdienstes keinSklave war, sondern ein freier Dichter – der sogar einmalein defaitistisches Gedicht unterbringen konnte –, jawarum hat er dann nicht Front gemacht gegen die Möglichkeit,dass ein nach seinem Empfinden sadistisch-grausames Ge-dicht („nicht nur grausam, sondern grausam schlecht“, hater mir im Berliner Tageblatt versichert), ein Gedicht,das qualvoll in den Tod Sinkende verhöhnt, willkürlichihm „in die Schuhe geschoben“ werde? Oder hat er imStillen alle die Leser, die es gutgläubig und vielleichtin lobender Absicht taten, Verleumder genannt? Wenn dasVerspotten Hinscheidender „ihm unendlich widerstrebthat – er legt Wert auf die Feststellung – , so konnte ernatürlich keinen Vers darauf machen, das ist klar. Aberwarum hat er nicht dem Unwürdigen, der es vermocht hatund der sein Pseudonym kompromittierte, die Gemeinschaftaufgesagt? Warum nicht wenigstens den Verlag um Zuweisungeines andern Pseudonyms gebeten, das nicht das Sammel-becken von Gesinnungen bildet, die er als Infamien empfand?Eines Pseudonyms, das ihn zur Not als Persönlichkeit vonden andern unterschieden hätte, solange er sich nichtentschliessen konnte, seinen Namen für den nom de guerre

zu setzen! „Nicht nur die Redaktionen“, die die Gottlieb-Gedichte vielfach nachdruckten, „wussten, dass unter denGottlieb-Gedichten zahlreiche von mir stamm-ten“, sagt er. „Die Tatsache war allgemein bekannt“, sagt er.Auch Herr Kraus“, fährt er mit zwingender Logik fort,bekennt, gewusst zu haben, dass durchaus nichtalle Gottlieb-Gediehte von mir waren“. Aber doch, dasszahlreiche von ihm waren. Warum hat er nicht aufgemuckt gegendie Möglichkeit einer Verwechslung, warum nicht die Nachdrucker,nicht auch für alle Fälle Herrn Kraus vor ihr gewarnt? Freilich,es galt „die Stimmung Aufrichtendes rasch in die furchtbareZeit zu rufen“, die zwar gross war, aber offenbar noch nichtZeit für solche Unterscheidungen liess: „Fast jeden Tag flogein Gottlieb hinaus“. Er meint leider nur das so gezeichneteGedicht. Aber vielleicht hätte er es auch mit dem Dichter durch-gesetzt und das Hinausfliegen so schändlicher Verse verhindert,wenn er sich tüchtig gewehrt hätte. Gewiss, „die ästhetischeForm konnte nicht immer ersten Ranges sein“, sagt er – wohl zurEntschuldigung der Kollegen; aber wo ihm auch die Gesinnungunendlich widerstrebt hat, wäre schon ein kräftig Wörtlein derVerwahrung angezeigt gewesen. Er müsste denn logischer Weisevon mir, weil ich mich auf mein Stilgefühl nicht verlassenkann, verlangen, statt ihm auch nur in einem einzigen FallUnrecht zu tun, ihm überhaupt kein Gottlieb-Gedicht zuzuschrei-ben, sondern lieber alle zum Beispiel dem Dr. Franz Oppenheimer,den er als den „Begründer“ des Sammelnamens preisgibt, ohne zusagen, ob vielleicht er der Verfasser des Masurengedichtes sei.Aber warum beschimpft er heute so inkollegial die Männer, die mitihm Leid und Freud des gemeinsamen Pseudonyms getragen, und

auch diejenigen unter den „Vielen“, die das Gedicht gleich ihm, nie-mals verfasst haben? Warum nennt er nicht, um diesen den Verdachtzu ersparren den Namen dessen, der es getan? Es hat den Anschein,als ob ich ihn durch die Bemerkung (im Artikel „Kerr in Paris“,S. 55) „Vor dieser Scheusslichkeit bleibt wohl alles im Hintertref-fen …“ erst auf die Gefahr eines Sammelnamens der Redaktion auf-merksam gemacht hatte, gegen die er sich bis dahin nie geschützthat – zu spät aus der Livree in Harnisch gebracht.

Aber ich will und muss bekennen, dass ich, mag er auch meineEmpörung über die Scheusslichkeit teilen, mit diesem Urteil dem Ver-fasser des Gedichtes, das er anerkenntermassen niemals verfasst hat,unrecht getan habe. Ich habe das Gedicht dem Herrn Kerr wegen dervon ihm nicht verleugneten Gedichte zugetraut – aber diese bleibenin nichts vor jenem zurück. Im Gegenteil, die Masurenstimmung warein gangbares Motiv der damaligen Lyrik und ein österreichischerDichter hat unter seinem eigenen, berühmten Namen ihr sogar ono-matopöisch durch Nachbildung der Gurgellaute des Sumpfes, der dieRussen verschlingt, Rechnung getragen. Ist es denn nicht die äus-serste Groteske, wenn der durchhaltende Mitträger eines Sammelnamenssich darüber entrüstet, dass man ihm sadistische Regungen zuschreibt,da er doch, ohne es abzustreiten, bloss der Autor einer „Aufforde-rung zur Abwehr“ ist:

Und vertobakt sie von hinnen.Peitschet, das ist Menschenruhm,Knutentum, Knotentum.

Denn sie sollen bei

Stallupönen und WirballenUeber ihre Haxen fallen; Peitscht sie, dass die Lappenfliegen. Zarendreck, Barbarendreck,Peitscht sie weg! Peitscht sieweg!

Und ist der Ueberschlag:

Rüde Russen sind dreitausendStücker fest von uns gefangen

nebst der Aufforderung:

Hütet nun die struppige Beute.Wanzenpulver nicht vergessen!Und „bewahrt das Licht“, ihr Leute,Weil sie jeden Wachsstockfressen

ist dergleichen vielleicht ein Gegenbeweis von Empfindsamkeitgegen den Verdacht, auch den Sumpfwassertod der Durstigen inOrdnung zu finden? Die Hoffnung, dass die Wodkitrinker sichans Wassertrinken gewöhnen, „damit der Geschmack sie nichtüberrasche, wenn sie in die Seen Mazurens versinken“, istgewiss ein besonderes Greuel, wäre aber ein Verspotten derhungernd in Gefangenschaft geratenen – die „mal was Leckreshaschen wollten“ – nicht auch danach angetan, „einem unend-lich zu widerstreben“? Ist die Vorstellung

Murgens eins auf dem Poposcu!

in der höhnischen Perspektive des Schlachtgewinns denn so ganzfrei von „Sadismus gegen Sterbende“? Die Sehnsucht nach „allenFreuden der Armada“ für England kein Hohn auf qualvoll in den TodSinkende? Die Hoffnung auf „Senge“ und „Dresche“, der Wunsch-traum von

Bandwurm. Hühneraugen, Krätze,Zur Ernährung Schimmel feuchtes Stroh –Und noch Rheumatismus im Popo

eines Dichters der Menschheit würdig? Freilich, Herr Kerr reduziert das Verlangen nach jenen „ humoristischenKrankheiten“ (er meint Krankheiten, die sein Humorvorschlug ) auf die „Führer“ und hat im Übrigens“ – diese Versezwar gemacht und gedruckt, aber „missbilligt“. Ich seine sämt-lichen und dass ich eines dazu getan habe, könnte vielleicht

eine pressgesetzliche Berichtigung mir zuziehen, aber doch keines-wegs den Vorwurf der Beleidigung oder gar der Verleumdung. Dennes geht doch wirklich nicht, dass eine dichterische Phantasie,die zur Ernährung schimmelfeuchtes Stroh bereit hat, sich gegendie Zumutung aufregt, dass sie auch für Sumpfwasser gesorgt habe.Man hat ihm, als er in Paris seine menschheitliche Wendung pro-duzierte, fälschlich zugerufen, er sei der Autor der Kriegsparole„Serbien muss sterbien“. So weit habe ich, der ihn sofort gegendiesen Verdacht verteidigte, in der stilistischen Bestimmung dochnicht gefehlt, als ich ihm fälschlich das Mazurengedicht zu-schrieb, eine Möglichkeit, die er sich nach hundert analogenLeistungen selbst zuzuschreiben hatte. Nicht um die „Aesteti-sche Form“ handelt es sich, die, ich weiss, nicht immer erstenRanges sein konnte und die gerade in jenem Gedicht besser istals in den Kerr’schen. Das hätte mich vielleicht stutzig machenkönnen – aber die Gesinnung war es, was mich beirrt hat, undhier handelt es sich um die Frage, ob man einem Kriegslyriker,der nachweislich in zahlreichen Fällen eine bestimmte Gesinnungbetätigt hat, durch irrtümliche Zuschreibung eines ganz analogenProduktes unter dem gleichen Namen, den er danachnicht abgelegt hat, in der Absicht der „Ver-leumdung“ nahetritt. Alles das habe ich in dem Aufsatz „Ein2.) Friedmensch“ (Oktober 1926) dargelegt, auf den sich seine be-leidigende Notiz beziehen soll, während sie sachlich eher den4vorhergegangenen Aufsatz „Kerr in Paris“ (März) zurück-gehen würde, in welchem doch die Unterschiebung des Mazuren-gedichts enthalten war.

2.)In dem zweiten Aufsatz (Oktober) habe ich von einemBegriffsmogler“ (Seite 83) gesprochen, der so tut, „als

hätte man ihm vorgeworfen, dass er den Krieg um des Krieges willengewollt habe“. Da nun zugestanden wurde, dass er natürlich „ge-gen den Krieg“ war und eine Premiere bei Reinhardt ihm lieber;da gesagt wurde, er habe nicht zum Krieg, „nur zum Sieg gehetzt“,vollbringt der Beklagte das folgende Kunststück der Zitierung.Er führt meine Bemerkung aus dem März-Aufsatz an: „Vor dieserScheusslichkeit bleibt wohl alles im Hintertreffen ….“ undsetzt wörtlich fort: „Herr Kraus nennt mich in diesemZusammenhang einen ‚Kriegshetzer‘.“ Völlig wahr-heitswidrig, da ich das ihm fälschlich zugeschriebene Gedicht bloss in Zusammenhang bringe mit dem ihm keinesfalls gebühren-den Lob der Frau Zuckerkandl, die von Menschen spricht, „diewährend des Krieges die Kraft hatten, abseits vom Hass zubleiben“, und die das geistige Paris zum Telefon mit den4Worten rief: „Es gilt Alfred Kerr zu begrüssen.“ (März 1926,Seite 55 und 56). Er tut nun so, als ob jener Satz über die2.)Scheusslichkeit im Artikel „Ein Friedmensch“ (Oktober)enthalten wäre, denn es heisst nun, unmittelbar anschliessendan die Worte: „Herr Kraus nennt mich in diesem Zusammenhangeinen ‚Kriegshetzer‘“, wörtlich: „Er gibt zwar nach seinerrabulistischen Gewohnheit zu, dass ich vielmehr ‚zum Siegegehetzt‘ habe. Doch er nennt das (Seite 86) eine Or-dinärheit‘ …“ Die S. 86 ist aber eine aus demOktoberheft, auf der freilich das Wort „Ordinärheit“ steht.Ich fragte mich, als ich das Zitat las, wie denn das nur zuge-he, dass ich so etwas gedanklich und stilistisch Unmöglichesgeschrieben und zum Siege hetzen platt eine Ordinärheit ge-nannt hätte. Da ergab sich das Folgende. Auf S. 85,oben, steht, Herr Kerr habe nicht zum Krieg, „er hatnur zum Siege gehetzt“ und zwar indem er die Mächte „mit

Couplets befehdet hat“. Nun werden diese behandelt, es wird vonder Gesinnungsbrüderschaft unter dem Pseudonym „Gottlieb“ ge-sprochen und gesagt, dass es doch nicht in allen diesen Fällenmöglich sei, unzweifelhaft zu bestimmen, „welche Or-dinärheit der eine und welche der andere auf dem Kerb-holz hat“. Vierunddreissig Zeilen ste-hen zwischen der Wendung „zum Sieggehetzt“ und dem Wort „Ordinärheit“.Dieses tatsächlich auf Seite 86. Aber wo jene vorkommt, unter-lässt der Beklagte anzugeben. Wenn man nun – ohne nähere Prüfungdes Zusammenhangs, der ja ein total anderer ist – nichts weiterzur Kenntnis nimmt, als dass das eine Wort von dem andern durcheine volle Seite getrennt ist, das Wort „Ordinärheit“, dassich auf das Gottlieb-Genre bezieht und auf die Schwierigkeiteiner autorrechtlichen Unterscheidung bei gleichem Pseudonymund gleicher Tendenz – so hat man ungefähr ein Bild von derMethode des Beklagten, durch Zitieren die Methode meiner Ver-leumdung, mindestens meiner Rabulistik sinnfällig zu machen.Schon die Loslösung des „zum Sieg Hetzens“ als eines Vorwurfs,der dem Patrioten aus seiner Gesinnung gemacht werde,während er ihm doch nur aus den Mitteln ihrerBekundung gemacht wurde, ist ein Kunstgriff, durchden dem Gericht die Gesinnung des Gegners anrüchig gemachtwerden soll. Der Beklagte trägt aber kein Bedenken, diesenErfolg noch durch eine Fälschung zu sichern, indem er so zi-tiert, als ob ich den Wunsch, dass das eigene Vaterland siege,eine „Ordinärheit“ genannt hatte und nicht vielmehr denWunsch, der auf Bandwurm, Krätze und Rheumatismus im Popo derFeinde abzielt. Heisst das nicht: „gedruckte Stellen auszu-schneiden, einen so wiedergegebenen Text des Kerns zu entklei-den; zu entstellen“? Ist da nicht „ein Gewirr von verstümmel-ten Zitaten, Irreführungen, Wortklaubereien getätigt, bis ein

verleumderisches Bild entsteht“? Ist da nicht erfüllt, was ermeiner Methode nachsagt: „Er kann sich im Wortsinn darauf berufen, ‚die Wahrheit‘ gesagt zu haben“! Auf diesemWeg fortfahrend zitiert er auch, ich hätte ihn einen „Vor-kämpfer des Bestialischen und der Ueberalterten Schmierigkeit(S. 73)“ genannt. Aber ich erkenne meinen Stil nicht wieder,da ich weder so direkt noch so manieriert zu sprechen glaube,sage mir sofort, das klinge doch eher nach Kerr, und blickeauf die Seite 73, wo jedem schon aus den gesperrten Stellen des Zitatdrucks das „Bestialische“ unddie „überalterte Schmierigkeit“, deren Ende Herr Kerr heuteerhofft, als seine Worte entgegen springen und wozu ichdann im Text freilich sage, man solle sich keinen Zwang an-tun und von jenen Erscheinungen, „deren Vorkämpfer man ingrösserer Zeit war“ bis zur Selbstverleugnung abrücken. Ausder Herstellung meines Bildes – hier wohl scheinbar nur stilistisch ent-stellt – durch eine solche Art der Zitierung folgert der Be-klagte unmittelbar und immer wieder, ich sei ein Verleumder.

So auch, indem er zitiert, wie ich seine Anerkennungfür den „Tischnachbarn Hoesch“ beurteile. Ich soll „erklärthaben: Herr Kerr hat „den deutschen Gesandten um seiner Weinewillen zu den Wertvollen gezählt (S. 77)“. Auf dieser Seite der Nr. 736–742 ist jedoch eine solche Kausalität keineswegshergestellt, die ja ein ziemlich törichter Vorwurf der Beste-chung wäre; sondern es ist dort zitiert, was Herr Kerr geschrie-ben hatte, nämlich: der Tischnachbar Hoesch zähle für uns Künst-ler zu den Wertvollen, „weil er etwas von unserem Saft in sei-nen Adern führt“. Diese von Herrn Kerr hergestellte und fürden deutschen Gesandten wenig schmeichelhafte Ursächlichkeitwird nun karrikiert durch die Fortsetzung: „während wir etwas von seinem Saft, den bekannten fabelhaften Weinender deutschen Gesandtschaft, übernehmen“. Damit wird, aus-

drücklich, die angeregte Stimmung“, in der Herr Kerr in Paris alles rosig fand und französische Greise „auf das Podium klet-tern“ sah, illustriert. Die fabelhaften Weine der deutschenGesandtschaft bildeten ja schon vorher eine ständige Erinnerungder Literaten, die zu Zwecken der Menschheitsverbrüderung nachParis reisen, so dass man zwar nicht glaubt, dass sie die Wahr-heit berichten, wohl aber dass sie Weinreisende sind. Aber hatteHerr Kerr nicht selbst in einem Interview (siehe Nr. 717–723,S. 59) den Wert dieser Weine wörtlich so hervorgehoben, eheer den Gastgeber selbst wertvoll nannte? Dass mit jener sati-rischen Wendung die Albernheit einer „Erklärung“ beabsichtigtsein soll, Herr Kerr sei durch solche Genüsse bestochen undnicht bloss animiert gewesen, wird er mir ernsthaft nicht zu-trauen. Was nun die französischen Staatsmänner betrifft, sohatte er keineswegs bloss geschrieben, „dass man mit diesenwohl auskommen könnte“, sondern ein Entzücken zur Schau ge-tragen, das eben mit seiner Würde als Kriegsdichter auch dannin Widerspruch steht, wenn er schon seinerzeit beteuert hat,dass das „edle Frankreich“ überstimmt war. Er befand sichauf einer „Insel in der See des Weltenwahns“, mit seinenHörern war es – vom kleinen Zwischenfall abgesehen – „einköstliches Einvernehmen; eine brausende Harmonie“. Ich binaber der Meinung, dass noch die verbohrteste antipazifistischeKonsequenz würdiger ist als die humanitäre Bereitschaft vonIntellektuellen, die im Kriege mit ihrem Rausch andere ange-steckt haben und nun die Zeitungsfahne nach dem Weltenwinddrehen möchten. Ich halte die Art, wie Herr Kerr mit demfranzösischen Kriegsminister wohl auszukommen behauptet, fürunwürdig, wenn solche Schilderung nicht zugleich mit einemReuebekenntnis gepaart ist und wenn er nicht jenen selbst

auf seine Kriegsgedichte aufmerksam gemacht hat. Die „deutsch-freundlichen Staatsmänner“ hatten doch ihrerseits gewiss zudenjenigen gehört, von denen Herr Kerr gedichtet hat, dass sieuns „vertilgen“ wollten und gegen die es darum zu billigenwar, dass wir „prompt“, dass wir „stramm“, dass wir „fixarbeiten“ (S. 85). Aber gar so fix und prompt müssen wir wie-der nicht arbeiten, wenn die Konjunktur eine andere geworden istund die Versuche der „Näherung“, die da Herr Kerr unternimmt,sind gewiss bedenklicher als die meinen vom Jahre 1897. Die ver-einzelte Wendung von dem „edlen Frankreich“ macht das Schau-spiel, dass einer der enragiertesten Kriegsbarden dort als Frie-denstaube gastiert, keineswegs erquicklicher. Dass er, der dochin alle ehemalige Feindeswelt, und ich glaube auch zu den „Por-tugiserichen“, von der Firma Mosse entsandt wurde, eine solcheAnnahme gerade für die Reise nach Frankreich, über die er dochgleichfalls für Mosses Blatt berichtet hat, als „verleumderi-sches Drauflosfaseln“ empfindet, heisst doch auch wieder einenAnspruch auf tatsächliche Berichtigung masslos übertreiben. Wowurde da „bedenkenlos Unwahres behauptet“? Warumselbstverständlich“ auf eigene Kosten?War denn seine amerikanische Mission eine „journalistischeGeschäftsangelegenheit“, als die ich angeblich die französi-sche hinstellen will? Entspricht es denn nicht immer „eige-nen sachlichen Wünschen“, wenn Herr Kerr auf Reisen geht, umden Lesern des Berliner Tageblatts was zu erzählen? Was dieStimmung in Paris nach dem Auftreten des Beklagten anlangt,so ist auf S. 59 und 60 des Aufsatzes im März-Heft, in einemBericht, den er freilich „spasshaft unwahr“ nennt und des-sen Gewährsmann jederzeit zur Bekundung der Wahrheit bereitwäre, alles Tatsächliche mitgeteilt. So auch erwähnt, dass

ein französischer Schriftsteller, dem Herr Kerr vergebens dieBeziehung zu Angelegenheiten deutscher Kultur bestreiten würde,und der offenbar sein Auftreten als unwürdigen Kontrast zu sei-ner Kriegsvergangenheit empfand, es ausdrücklich abgelehnt hat,mit Herrn Kerr zusammenzutreffen. Er hielt es als Pariser offen-bar mit dem Leipziger Tagblatt, dem Herr Kerr nationale vaterländische Gesinnung nicht so leicht wie mir bestreiten wird unddas völlig in meinem Sinn sich zu dem rein moralischen Problemgestellt hat, welche Haltung Kriegsdichter vor und nach der Tateinnehmen, die nach Schiller bekanntlich das „andere Antlitzzeigt. Es schrieb (Zitat S. 49 im März-Heft) wörtlich:

Alfred Kerr sollte nicht ableugnen, sondern feststellenund, wenn nötig, sich an die Brust schlagen und bekennen. Hat erein ‚Serbien – Sterbien‘ – Gedicht geschrieben? Wenn nicht,so hat er doch leider viele andere Kriegs-hetzerische Verse verfasst, da er, wiedie meisten Intellektuellen, der Kriegshypnose erlegen war. Dahilft kein Ableugnen, und gerade fürdie Völkerannäherung, der Kerrs Vorträge inParis dienen sollen, wäre es höchst wertvoll, wenn die Geistigen,die in den ersten Kriegsjahren schwer gesündigt haben, ihre versifizierten Feindbe-schimpfungen öffentlich bereuen würden.

Das hat er leider nicht getan, sondern sich in Paris mit derscheinwahren Beteuerung aus der Schlinge gezogen, „nie habe erdiese idiotischen Verse geschrieben“, und nachher mich,der ihm gleichfalls ein falsches Beispiel vorhielt, einen Ver-leumder genannt. Aber hatte nicht sein eigenes Blatt, in Er-kenntnis der prekären Situation, in die sein Mitarbeiter, wenn-gleich durch eine falsche Beschuldigung, mit Recht geraten war,geschrieben:

… Ausser diesem Zwischenfall gab es keinen Missklang.Es hätte allerdings noch anders kom-men können …. Es wird gut sein, vorläufig mit neuenBesuchen deutscher Dichter und Künstler zu warten …“ (S. 57.).

Ich habe diesen Rat nicht befolgt und darum weiss ich aus un-

mittelbarster Erfahrung, dass mein Bericht in der Fackel aufernsthafter Wahrheit beruht hatte und dass man in Paris denBesuch des Herrn Kerr, den der Rektoramtlich auf dem Bahn-hof durch den offiziellen Vertreter der Sorbonne hatte empfan-gen lassen“, als ein wesentlich geringeres Kulturereigniseingeschätzt hat als er selbst, wovon ich mich insbesonderean der Sorbonne überzeugen konnte, wo ich mit der Szene mei-nes Kriegsdramas „Kerr am Schreibtisch“, die sein Rumänen-lied enthält, das beifälligste Verständnis erzielte. Mit ebenjenem Kriegsscherz, dessen häufige Zitierung mir der Beklagte so übel nimmt, weil ihm die Schlusswendung „Murgens eins aufdem Poposcu“ heute mit Recht als ein Misston in der Völkeran-näherung erscheint. Ich habe aber, im Gegensatz zu ihm, stetsmit der wortgetreuen Wiedergabe seines Textes die sichersteWirkung erreicht.

Er glaubt besser mit einer Interpretierung meinesTuns zum Ziel zu gelangen. Nichts wäre einfacher. Mein Kampfgegen sein Wirken, schon durch den verschmähten Versuch derNäherung in Jugendzeiten erklärt, lässt sich sichtbar daraufzurückführen, dass er eine meiner Berliner Vorlesungen „durch-aus massvoll, aber nicht zustimmend“ kritisiert hat. Dennvon da ab setzen“ meine „Angriffsversuche“ wider ihnintensiv und systematisch ein“. Erst im Juni 1924; bis da-hin hat sich wenig begeben. Man kann wohl sagen, dass hier eineKonzeption entworfen ist, deren kühnem Schwung die Absicht einerIrreführung der Behörde nicht abzusprechen sein dürfte. Wohl imVertrauen darauf, dass es doch untunlich erscheint, vor ihr Ge-genbeweise auszubreiten, die ganze Jahrgänge der Fackel umfas-sen. Dass der Beklagte ein Sätzchen sanfter Ablehnung für Lobausgeben kann, solange er es nicht im Wortlaut zitiert, ist ein

Kinderspiel dagegen, sowohl was sein Wagnis betrifft, wie meineMühe, auf der Stelle den Gegenbeweis beizubringen. Herr Kerr will offenbar einen kaum je unterbrochenen geistigen Kampf vonJahrzehnten dem Gericht so darstellen, dass ich, immer bestrebtseiner Abneigung durch Näherung beizukommen, verschmäht, ja nach27 Jahren massvoll, aber nicht zustimmend kritisiert, „von daab“ gegen ihn losgegangen sei. Diese Lesart durfte in der Ge-schichte der polemischen Literatur kein Beispiel haben. Der Be-klagte unterlässt es, dem Gericht auch nur andeutungsweise zuverraten, dass eine ganze Reihe von Angriffen, intensiv undsystematisch, vornehmlich in der Jagow-Sache – vielleicht schonals Folge missglückter Näherung – vor der Zeit liegt, in der erals Kriegsdichter sich sofort meiner Beachtung empfahl. Aberkein literarischer Leser in Berlin war sich 1924 darüber imUnklaren, dass die ungünstige Kritik des Herrn Kerr – weitausgünstiger als seine berühmte Antwort in der Jagow-Sache – nochimmer ein Echo jenes unverschmerzten Angriffes gebildet hat undvor allem die Quittung für alles zwischen 1914 und 1924 gegendie Kriegslyrik Vorgebrachte. Ich hatte, von zahllosen anderenAeusserungen über die stilistische Figur abgesehen, im Jahre1911 (31. März, Nr. 319/20: „Der kleine Pan ist tot“; 29. April,Nr. 321/22: „Der kleine Pan röchelt noch“; 2. Juni, Nr. 324/25:Der kleine Pan stinkt schon“; 8. Juli, Nr. 326/28: „Derkleine Pan stinkt noch“) eine Polemik gegen ihn geführt, vonder man kaum sagen könnte, sie sei nicht intensiv und nichtsystematisch gewesen. Von ihr dadiert wohl in deutscher Geistes-welt – nicht bei den Gläubigen des Zeitungsruhms – einige Klar-heit über die literarische Gestalt, die ich für deren grösstenSchädling halte. Dieser Angriff bezog sich auf die ungeheuer-

liche und gewiss noch erinnerliche Ausschrottung der Privat-und Familienangelegenheit, die zwischen einem Ehepaar aus derSphäre des Theaters und des Kunstgeschäfts und dem damaligenBerliner Polizeipräsidenten spielte, durch die „politischvollkommen selbständige Zeitschrift ‚Pan“ des Herrn Kerr,die bloss vom Verlag Cassirer abhängig war. Ich lege dem Ge-richt die Hefte mit den Aufsätzen vor, deren Abschluss derwörtliche Abdruck der Antwort des Herrn Kerr bildete, in derer schon 3 Jahre vor Kriegsausbruch für die Methode des „Ver-tobakens“ ein Lied fand und durch die er sich im Umkreis gei-stiger Menschen für alle Zeit erledigt hat. Wie diese selbst-mörderische Antwort noch nach 15 Jahren wirkte, da sie vielleichtohne sein Zutun, sicher ohne seinen Einspruch in dem berüchtig-ten Wiener Erpresserblatt ‚Die Stunde‘ wieder auftauchte, alswäre sie frisch verfasst worden, und wie Herr Kerr polemisch vormir bestand, das geht mit grosser Anschaulichkeit aus dem Urteileines Prager Blattes über den „polemischen Selbstmord“ hervor,dessen Zitat in der Fackel Nr. 697/705 (S. 107/08) ich gleich-falls vorlege. Keinem Kenner der Verhältnisse konnte es verbor-gen sein, dass die missgünstige Kritik des Beklagten im Jahre1924, eine allen sonstigen Aeusserungen selbst der feindlichstenPresse widersprechende Fälschung des Eindrucks, vor allem aufdiesen alten Kampf zurückzuführen war, dessen Gedenken durchmeine Betrachtung seiner Tätigkeit im Krieg nicht verwischtwerden konnte. Dass ich nun die spätere Friedenswendung desHerrn Kerr für nicht minder fragwürdig hielt – dies nicht alsdie natürliche Fortsetzung der Kampflinie zu deuten – sondernals Vergeltung für eine Vortragskritik, deren Absurdum doch imVergleich zu allem andern nichts wog, das ist das Absurdestevon allem. Man sollte glauben, eine solche Verkehrung der Kau-

salität könnte gar nicht gewagt werden, und zumal nicht vor dergerichtlichen Instanz, die mit solcher Materie zu belasten zwarungewöhnlich sein mag, die der aber dokumentarischen Beweisen gegenBehauptungen gewiss zugänglich ist nicht widerstreben werden . Eben weil es der Beklagte versteht, durch Anführungszeichen und Angaben von Seitenzahlenden Eindruck zu erwecken, dass er mit Tatsachen operiere, istes leider unerlässlich, Punkt für Punkt dem Gericht die Durch-sicht der Dokumente zuzumuten, die er „auf gut Glück“ zitiert,und solcher, die er unerwähnt lässt.

IV.

Er geht gewiss sicherer, wenn er bloss seine eigenenAeusserungen im Wortlaut reproduziert, und da macht er denn aufein Gedicht von ganz anderer Gesinnung aufmerksam, das er imDezember 1914 „im Scherlschen(!) ‚Tag“ veröffentlichthat. Er wendet mit Recht dieses Rufzeichen an, denn das Gedicht zeigt weniger „die Stimmung Aufrichtendes“ als Deprimierendes,es ist tatsächlich von einer friedmenschlichen Gesinnung erfüllt,die zu allen sonstigen Versproduktionen dieses und sämtlicherGottliebs grell kontrastiert. Wie Herr Kerr damals so etwas imScherlschenTag‘ unterbringen konnte, ist gewiss verwunderlichund ich bekenne offen, dass ich, wenn ich es gekannt hätte, auchdie Verpflichtung gefühlt hätte, dem Einzelprodukt – ähnlich wiejenen Girardi-Versen – gerecht zu werden und das Problem dieserDoppelhaltung zu erörtern. Ich lerne dieses Gedicht erst jetztkennen, sonst hätte ich mir auch versagt, im Jahre 1917 eineVerszeile zu schreiben, die an die erste Zeile bei ihm erinnert– beide freilich der furchtbaren Alliteration des täglichenSchlachtberichts entnommen; von den Leichen, die vor den Linien

liegen. Ich erwähne dies ausdrücklich, um es dem Beklagten zuermöglichen, mit dieser Zeile, aus einem Lebenswerk von einerMillion Zeilen, den Nachweis für seine Behauptung zu stützen,dass ich ein Plagiator sei. Das würde mich keineswegs abhalten,der Gesinnung seines Gedichts Anerkennung und dem grimmigen Kon-trast zu den anderen Gedichten Bedauern zu zollen.

V.

Dass er auch solchen Stimmungen zugänglichwar, war übrigens nicht unbekannt, und ich wusste wohl, dass eraus der allzuverständlichen Alternative „gegen den Krieg – aberfür Deutschland“, die er als „Dualismus in jedem fühlendenMenschen“ bezeichnet, auch noch einen andern Dualismus betätigthat, nämlich den, zugleich mit der vorschriftsmässigen Kriegs-dichtung auch schon das Alibi der Weltgesinnung vorzubereiten.Er hat für Scherl – mit Ausnahme des einen Gedichts – alles ge-tan, was dem Nationalen Bedürfnis entsprechen konnte, und erhat im ‚Zeitecho‘ (München) nicht unterlassen, gegenüber denWorten eines Autors, dass der Tod nun „einen neuen Sinn bekommenhabe, das ganze heroische Erlebnis auf die „Unfähigkeit, die Dingebesser zu ordnen“, zurückzuführen und dem Krieg als „Lift-Ein-sturz“ zu rationalisieren. Er erzählte, dass ihm aus dem FeldeMenschen „mit steingrau andren Väteridealen“ geschrieben hätten,die sich nun erst, „vor ihrem Tod“, zu Kerr’schen Feuilletonsbekannten: „jetzt wissen sie, dass an solchen Schmiedungen etwasRechtes war“. Diese Dinge waren also in Ordnung. Er möchtezum Abschied jedem die Hände drücken; dennoch hält ihnen dieWahrheit stand“. Und diese ist, dass sich die grosse Gelegenheit,dem bedrängten Vaterland zu helfen, als Anlass zu Briefen anHerrn Kerr darstellt:

Solche Briefe zu bekommen ist herr-lich – darum der Anlass noch lange nicht.Es war billiger zu machen.Diese Erzählung betitelt Herr KerrStandhalten“. (Siehe dieBeilage ‚Zeit-EchoNr. 4.) Er bemüht sich aber nachzuweisen, dasser „dauernd“ seine Abscheu vor der Institution des Krieges be-kundet habe – „dauernd während des Krieges“. Wenngleich mit Un-terbrechungen. Anders könnte er es doch selbst solchen nicht ein-reden, die bloss den Aufsatz vom Hirnwesen aus der ‚Neuen Rund-schau ‘ nachlesen, auf den er sich dafür beruft. Denn gerade indiesem Aufsatz werden die kleinen Wendungen zur Menschheit hinimmer wieder von Ausbrüchen eines Kriegsfurors abgelöst, den einhingesetztes „Es geht nicht“ vor den Intellektuellen kaum zu bän-digen vermag, zu denen er sich mit so dürftigem Dualismus sal-vieren wollte. Die Gesinnung „für Deutschland“, mit deren dick-ster Unterstreichung er sichtlich auf nationale Antriebe bei derRechtsprechung in einer Beleidigungssache abzielt, hätte mit ganzanderen Mitteln betätigt werden müssen, um ungestraft denjenigeneinen Verleumder nennen zu dürfen, der nichts getan hat als unterhundert Hassgesängen einen dem unrechten Gottlieb zuzuschreiben.Sicherlich kann er aber seine pazifistische Ausdauer „während desKrieges“ jenen nicht einreden, die ihn nur als den Verfasserzahlreicher Gottlieb-Gedichte“, auf die er noch wieder zum an-dern Zweck hinweist, kennen und vielleicht schätzen. Man kann ebennicht von allem haben wollen und der Dualismus, auf den er sich soviel zugute tut, hat nicht in der gleichzeitigen Betätigung zumAusdruck zu kommen, das „viehische Begebnis“ zu geisseln und mög-lichst viele Aufforderungen zu Senge und Dresche erscheinen zulassen. Er hat nicht nur „dauernd, während des Krieges, gegen diebestialische Torheit dieses menschlichen Atavismus gewettert“,sondern auch dauernd für sie – und dies, dem Genre und der Tribüne

entsprechend, lauter und hörbarer. Er mag ja behaupten, dass erwährend des Krieges offen alles den Krieg Verdammende, Wider-legende, seinen Unsinn Belichtende nachdrücklicher als Herr Kraus betont hat“, aber dieser kann beweisen, dass er am 19. November1914 die Rede „In dieser grossen Zeit“ gesprochen dass er in ebendieser grossen Zeit das achthundert Seiten grosse KriegsdramaDie letzten Tage der Menschheit“ geschrieben und niemals dazwischenauch nur eines der Gottlieb-Gedichte verfasst hat. Herr Kerr iststolz auf die Logik des Wunsches, dass, wenn schon der Wahnsinnüber die Menschheit hereingebrochen war, wenigstens sein Vaterlandsiegreich daraus hervorgeben möge. Diesen Wunsch hätte ihm nichtFeind noch Freund verargt und ein Denken darüber hinaus, dass die-ser in allen Vaterländern vortretende Wunsch eben die Verlängerungdes Wahnsinns verbürge, war gewiss nicht zu verlangen. Sein beson-derer Irrtum war nur, zu wähnen, dass man dem bedrängten Vaterlandzu Hilfe komme, wenn man aus Greueln Gstanzeln macht. Er stellt dieSache so dar, als ob ein „nurpazifistischer Idiotenstandpunkt“ vonihm persönlich verlangte, nicht sich seiner Haut zu wehren und drein-zuschlagen, wenn der böse Nachbar bis zu seinem Schreibtisch vor-dringt. Aber dorthin, wo der böse Nachbar faktisch wütete, an dieFront Bonmots zu liefern, das eben war das ungemässe Kriegsmittel.In der Situation, sich wehren zu müssen, da einem „jemand den Adams-apfel eindrücken will“, waren doch nicht die lyrischen Heimarbeiterdes Krieges, und sie sind es in Wahrheit, die, indem sie „die Stim-mung Aufrichtendes rasch in die furchtbare Zeit riefen“, zur Ver-längerung des von Herrn Kerr beklagten Wahnsinns, zur weiteren Ver-wirrung des „elenden Verbeissungsknäuels“ das meiste beigetragenhaben. Er „half“ mit seinen Mitteln: der ernsten Dichtung und dersatirischen – nachdem er es „als Soldat nicht gedurft“. SolchemEntsagenmüssen, dessen Schmerz wir Herrn Kerr glauben wollen, hätte

zumindest der Verzicht auf des satirische Kriegsmittel wohl ange-standen. Dass Herr Kerrkeineswegs die rechte Backe hinhält, wennihn einer auf die linke schlägt“ – solche Absage an die christlicheEthik ist durchaus seine Angelegenheit, aber in dieser Situationwar nicht einmal der Frontkämpfer im Krieg der Maschinen und gewissnicht Herr Kerr in Berlin, nicht einmal, als er einen Familienzwistmit einer bösartigen Feuilletonwendung über eine Schauspielerin indie Öffentlichkeit getragen hatte und aus der Gefahr, der er ent-ging, ein politisches Martyrium machte. Wäre der Feind bis zu seinemSchreibtisch vorgedrungen, der verbohrteste Pazifist hätte ihm nichtuntersagt, zur Waffe zu greifen, während selbst in dieser Situationdas Verslein „Peitscht ihn, dass die Lappen fliegen“ keine Abhilfebedeutet hätte.

Wie Herr Kraus dazu kommt, „sich überhaupt um seinenStandpunkt im Krieg zu kümmern“? Aus dem Recht zur freier Meinungs-äusserung über kulturelle Angelegenheiten, zu denen die Kriegsleist-ung eines namhaften Literaten ganz gewiss so gehört wie Theater-und Familienaffären. Wenn Herr Kerrglaubt, gezeigt zu haben“, dasses aus anderen Ursachen geschah, so dürfte er das Fassungsvermögender Leser, die seiner Argumente ansichtig werden, unterschätzen.

VI.

Er erinnert an das heilige Gelöbnis, das er im erstenKriegsmonat geleistet hat: „Wir wollen helfen.. bis zum letztenWurf Speichel“. Damit meinte er jedenfalls nicht die eigene Kriegs-dienstleistung in Versen, sondern es sollte wohl nur die unappetit-liche Umschreibung jenes letzten Hauchs von Mann und Ross sein, derHinterlandsphrase, die ein so furchtbares Erleiden der andern orna-mentiert hat. Er benützt die Gelegenheit, um darauf hinzuweisen,dass er schon damals, im September 1914 in der ‚Neuen Rundschau

unter den „für ihn bindend gebliebenen Leitsätzen“ das BekenntnisDeutschland, Deutschland über alles“ abgelegt habe. So hinlänglichals Mann der Tat beglaubigt, kann er von mir sagen: „Der Schrift-steller wagt es“, Dinge von säkularem Ernst auszunutzen „fürSchmähungen und Verdrehungen. Verdächtigungen und Verleumdungen“.Unter diesen Dingen ist hauptsächlich der „drohende Untergang desGeburtlandes“ zu verstehen und nicht sein Aufsatz in der ‚NeuenRundschau‘. Immerhin auch dieser, da ich auch die „seelische Teil-nahme“ an den Dingen von säkularem Ernst so auszunutzen wagte. Damitist der Effekt erzielt, dass ich eigentlich schon durch den Zweifelan der heroischen Regung des Herrn Kerr Dinge von säkularem Ernstherabgesetzt und also „den einsamsten Kampf eines überraschtenVolkes“ entpathetisiert habe, den Herr Kerr in einer Kulturzeit-schrift mit einem Lift-Einsturz verglich. Während in diesem Bekennt-nis der einsamste Kampf eines überraschten Volkes als „Anlassgewürdigt wird, um Anerkennungsschreiben von der Front zu bekommen– es war aber „billiger zu machen“ –, habe ich es gewagt, Dingevon säkularem Ernst zu Verleumdungen des Herrn Kerr auszunutzen,welcher doch auch der Vorkämpfer jenes heroischen Kampfes war. Erhat „Deutschland, Deutschland über alles“ bekannt und ich bin derVerkleinerer dieses Gedankens, auf dessen Pathos er jetzt gericht-lichen Anspruch erhebt. Nachdem dieser Kunstgriff bewerkstelligtist, kann Herr Kerr mit bemerkenswerter Aufrichtigkeit das Kapitelschliessen:

Ich habe das alles nicht für seine unwesentliche Persongesagt: sondern für das von ihm bemühteGericht.

Aber das hätte er weiss Gott nicht hinzusetzen müssen,das hätte man ihm ohnehin geglaubt. So übertreibt er die Zuversicht,auf das von mir wegen einer Schmähung bemühte Gericht Eindruck zumachen. Wenn nicht durch den Nachweis einer Verleumdung, die darin

besteht, dass ich ihn nicht als Defaitisten gelten lassen wollte,so wenigstens durch die Feststellung, dass ich einer war – er je-doch der Wahrer der heiligsten Güter, die ich verraten habe, weilich ihn auch in dieser Position nicht anerkennen wollte. MeineCharakteristik ergänzt er in

VII.

durch die schon zitierte Darstellung meiner verleumderischen Methode,für die es ihm gelingt so anschauliche Beispiele zu liefern. Seinermenschlichen Mischung aus deutschnationalen und kosmopolitischenEigenschaften bewusst, unterlässt es hierbei nicht, auf meine Un-kompliziertheit hinzuweisen, indem ich „die entsetzlich trivialeRolle des edlen Tugendboldes spiele, der alle Untugendhaften vollEmpörung tadelt“ (was er eben „moralischen Kitschton“ nannte).Sollte es aber ein sinnfälligeres Beispiel für dieses Genre geben,als die Bereitschaft, sich ausdrücklich „für das Gericht“ als denunbeugsamen deutschen Patrioten darzustellen und den Gegner alsden Träger antinationaler Gesinnung? Und wäre ein plumperer Moral-kitsch denkbar als die aufgetragene Erwartung, die Justiz werdesolchen Trug nicht durchschauen und die Ehre des im nationalen PunktVerdächtigten und die des sich offerierenden Musterdeutschen mitungleichem Masse messen? Dass einer, der zu den geistigen Menschengezählt, ja als ihr Führer gefeiert sein will, eigenhändig solcheArgumente in einen Schriftsatz gesetzt hat und sich extra um ihrenEindruck auf das Gericht bemüht, ist eine Tatsache, die alleinihm vorjedem andern Forum zur Verurteilung verhelfen müsste. Dass aber dasGericht, weit entfernt, ihnen vor juristischen Erwägungen Spielraumzu lassen, nicht die blosse Absicht als die Zumutung befangenen Ur-teilens abweisen sollte, wäre undenkbar. „Der Schriftsteller wagtes“, das Vertrauen in solche Befangenheit noch durch Berufung auf

eine angebliche Notorietät mich belastender Dinge zu befestigen, fürdie er nicht den Schatten eines Beweises beibringt, indem er, weitüber das Recht hinaus, den konkreten Vorwurf zu begründen und sichgegen die Anklage zu wehren, mich als einen Publizisten hinstellt,der sich „mit dem Moralrevolver Geltung zu erzwingen sucht“ und derbeständig „Korruption enthüllt“, die ihm „Stoff“ für seine Zeit-schrift liefern müsse. Und dies vor einer Stelle, an der sich ver-mutlich nicht gerade jener unter tausend Menschen an der Spree be-findet, der die Fackel kennt. Der Beklagte sagt wider besseresWissen die Unwahrheit, es leben Leute, die andersgerichtete Bekennt-nisse aus seinem eigenen Munde kennen, und es wäre nicht schwer,hundert Zeugnisse anderer, die ihn Lügen strafen könnten, vor eineInstanz zu bringen, die so schnöde über mich informiert werden soll.Was das Korruptionsriechen und das Enthüllen anlangt, so hat derProzess Tappert wie nicht minder die Affäre Jagow hinlänglich dieBerufung des Beklagten zur Verleitung solchen Makels erwiesen. Wasaber das Moralheldentum und die Selbstgerechtigkeit eines Tugend-boldes betrifft, so kann ich, gegen den das längst widerrufene Zeug-nis einer Presspolemik wachgerufen wird, es doch nicht unterlassen,aus der Zeit, da solche Eigenschaften einen alten Musiker in Notund Tod geführt haben, das Dokument eines Unbeteiligten zu zitie-ren:

Kleines Journal‘ vom 30. Juni 1897.

Aus einem Brief des Pianisten Rosenthal an denChefredakteur des ‚Kleinen Journals

… Und nun stillen Sie meine Neugier, mein Interesse.Ich höre Tappert, unser Tappert hätte einen Prozess an denHals bekommen – Bestechung etc. Wie lächerlich! Wer diesen knorrigen, unbeugsamen, grundehrlichen Mann kennt, weissdass er schnöden Geldes wegen seine Meinung nicht zu verkaufenim Stande ist. Erinnern Sie sich an einen ähnlichen, viel ärgerenProzess gegen Hartmann in Dresden. Alle mögliche Unbillwurde dem Manne angetan und nun feiert ihn die öffentliche Meinungals den ersten Musikkritiker Dresdens. Und wenn Tappert nun wirklich Unterricht erteilte, wenn er vielleicht (ich sage vielleicht) nach felsenfest dastehender Kritik, mit demKünstler in freundliche Beziehungen trat, so kann nur

ein Moral-Maulheld wohlfeilster Sor-te diesen Mann angreifen. Wir, die wir unserHerz weit gemacht haben für die Begriffe „gut und böse“, die wirdas Talent schätzen und nicht die Charakterposaune, die sich selbstanpreist, wir werden diesem Manne, der der ersteMusikkritiker Deutschlands ist, stetsmit unseren Sympathien zur Seite stehen. Was würde Berlin an die-sem Manne verlieren, der das feinste, korrekteste Urteil hat, deres im hahnebüchenen, grundoriginellen Stil veröffentlicht, der Vor-kämpfer für die Wagner’sche Sache war, der einer dergrössten Musikgelehrten der Gegen-wart ist? Was verlöre nicht das ‚Kleine Journal‘ an diesemunersetzlichen Manne? … Dixi et animam salvavi etc.

Herzlichst und freundlichstIhr ergebenster

Ischl, 27. Juni 1897 Moritz Rosenthal.

Nach einer Antwort des so Charakterisierten in dem Blatte,das dem alten Mann Unterstand gewährt hatte, das Folgende:

Kollektiv-Antwort der Redaktion des ‚Kleinen Journalsam 1. Juli 1897 wo u.a. heisst;

… lieber Kempner, Sie werfen uns Feigheit vor. Das hatuns aufrichtig geschmerzt, denn Sie haben Mut, sehr viel persön-lichen Mut. Das haben Sie in der Affäre mit Skowronnek bewiesenund neuerdings in der Affäre Tappert. Sie haben den Mut ge-habt, die grössten Künstler, denen Sie gänzlich unbekannt waren,aufzusuchen, um Ihr Material zu sammeln, und Sie sollen bei dieserBeschäftigung unzählige Treppen viel schneller hinunter- alshinaufgegangen sein. Bei einem so mutigen Manne wundert uns nurEines: Herr Moritz Rosenthal nennt Sie einen Moral-Maulhelden wohlfeilster Sorte. DiesenAusdruck halten Sie wohl für beleidigend, aber gerichtlich nichtfassbar …. Vielleicht täuschen Sie sich …

Herrn Kerr war der Vorwurf nicht fassbar genug. Aber erbegnügt sich selbst zumeist mit Vorwürfen, die nicht fassbar ge-nug sind oder deren gerichtliche Erörterung ins Uferlose gehenwürde. Darum muss ich es mir zunächst genügen lassen, aus diesemKapitel seines Schriftsatzes die Behauptung hervorzuziehen undunter Anklage zu stellen, die er hoffentlich nicht auf gut Glückund ohne sich zu vergewissern aufgestellt hat:

Er hat österreichische Schriftsteller des Plagiats beschuldigt,während er selbst Plagiate beging.Diese Behauptung, die er mit keinem Beleg unterstützt, wird HerrKerr hoffentlich im kurzem Verfahren beweisen können, wenn ich ihmnicht mit besserem Recht den Vorwurf zurückgeben soll: „ Er

verleumdet mit einer kalten hand-werklichen Routine“. Ich glaube zu wissen, worindieser Beweis bestehen wird. Vielleicht nicht in der Berufung aufeine der Unwahrheiten, die mein Prozessgegner Bahr im Jahre 1901im Plauderton vorgebracht hat: die guten Witze, die in meinerSchrift „Die demolierte Literatur“ (1896) vorkamen, könne er umsoeher anerkennen, als sie von den Angegriffenen selbst gemachtworden seien. Darauf wurde ihm, so unernst die Wendung vorgebrachtwar, natürlich sofort – wie aus dem Protokoll hervorgeht – geant-wortet, dass ihm unter Zeugeneid eine Unwahrheit entglitten seiund in der Schrift nur das nicht vom Autor stamme, was dort zitiertwird. Der Plauderer schwieg darauf ebenso wie auf die Antwort, dieseiner Erzählung zuteil wurde, dass ich ihn nur angriffe, weil ichmich vergebens bemüht hätte, ins „Neue Wiener Tagblatt“ zu gelan-gen; es wurde nachgewiesen, dass daran etwas wahr sei, nämlichdas Gegenteil; es lag eine geradezu enthusiastische Einladung desRedakteurs Kalbeck vor, der ich nicht gefolgt war. Wiewohl meinPlagiat in der „Demolierten Literatur“ bereits als Motiv in diePolemik gegen mich eingeführt ist, sei Herr Kerr auf die Schwierig-keit dieser Materie aufmerksam gemacht. Eher vermute ich jedoch,dass er sich auf einem andern Weg bemüht, der noch tiefer in dasLabyrinth der hysterischen Legende führt, die abtrünnige Verehrerum mein Werk gewoben haben. Einer der Verehrendsten und Abtrün-nigsten hatte es sich seinerzeit in den nicht sehr produktivenKopf gesetzt, nachzuweisen, dass mein Gedicht „Apokalypse“ („Wortein Versen“ Band V, S. 84 ff.) ein Plagiat an der OffenbarungJohannis sei. Er hatte mit dem Hinweis auf die Identität insofernvollkommen recht, als das Gedicht tatsächlich den Versuch vorstellt,Sätze der Offenbarung Johannis in die gebundene Sprache zu über-tragen. Wiewohl jeder Leser, dessen Bibelkenntnis nicht ausschliess-

lich auf das alte Testament festgelegt ist, in jedem Satz dasWortmaterial und damit die künstlerische Absicht dieser Umformungerkannt hatte, unterzog sich der gewissenhafte Enthüller der Mühe,das Original, das überdies unter dem Titel „Apokalypse“ bekanntist, und die Nachdichtung, in deren Titel allerdings der Name desJohannes nicht vorkommt, einander gegenüberzustellen. Die schallen-de Heiterkeit, die diese Bemühung weckte, habe ich in Nr. 552/553 (S. 5 – 13. Okt. 1920) noch durch das Bekenntnis gesteigert, dass ichnicht nur, wie der Enthüller, der Schriftsteller Albert Ehrenstein,vermutete, die Grundlage der Luther-Uebersetzung verwendet hatte,sondern dass die von ihm getadelten „Originalwendungen“ der ihmleider unbekannten Übersetzung des Leander von Ess entnommen waren./8In Nr. 572/576 (S. 61–63, Juni 1921) kam ich in einer Sprachbe-trachtung auf die schnurrige Angelegenheit zurück, die auf eineVision vom Weltuntergang ein heiteres Licht warf, und beschuldigtemich eines weiteren Bibelplagiats, das auch dem Fachmann des altenTestaments entgangen war: indem ich anschaulich nachwies, dass ichin dem Gedicht „Gebet an die Sonne von Gibeon“ Stellen aus dem BuchJosua verwendet hatte. Ja, ich verriet sogar dem Kenner derSchlegel’schen Shakespeare-Uebersetzung, dass ich in dem GedichtNach zwanzig Jahren“, gleichfalls ohne Angabe der Quelle undohne Anführungszeichen, das Hamlet-Zitat von dem „Uebermut derAemter und der Schmach, die Unwert schweigendem Verdienst erweisteinfach in die Aufzählung der Uebel, gegen die ich kämpfe, über-nommen habe. Ich vermute, dass der Beklagte, der sonst ein so ge-nauer Kenner der Fackel ist, diese Hefte mit meinen Geständnissenund Selbstanzeigen nicht zu Gesicht bekommen hat, wohl aber dieInformation eines Schwätzers zu Gehör. Er spricht, mit deutlicherBeziehung auf seine Gottlieb-Werke, von meiner „wohlfeilen Methode“,nach der es leicht wäre, „noch die Bibel als ein lächerliches

Schundwerk hinzustellen“. Das liegt mir umso ferner,als ich sie mir doch als Wertgegenstand angeeignet habe,was er zu beweisen haben wird. Man wird nicht leugnenkönnen, dass der Vorwurf des Plagiats gegen einen Autor,der an die achtzig Quartalsbände einer Zeitschrift undeine ganze Reihe Bücher dazu geschrieben hat, wäre erleichtfertig erhoben, schwerer wöge als die Zuweisungeines Gottlieb-Gedichtes an einen Autor, der es nicht ge-schrieben hat. Hätte aber der Beklagte meine Darstellungder grotesken Plagiatsache gekannt, ja auch nur das Plagiatselbst, das er doch als Literaturkenner sogleich als Nicht-plagiat erkannt haben müsste, so hätte er wider besseresWissen eine herabsetzende Unwahrheit verbreitet und seinerDefinition der Verleumdung auch im streng juristischen Be-griffe erfüllt entsprochen .

VIII.

Da der Beklagte aber einmal den Weg betreten hat, diejuristische Sachlage durch Hervorhebung seiner strahlendenpatriotischen Rolle zu verdunkeln, so erhofft er sich einenoch grössere Wirkung, wenn er gleich auch zur Enthüllungmeines gegenteiligen Wirkens übergeht. „Wie verhielt sichHerr Kraus zum Krieg?“ Man erwartet nach einer solchenFrage, dass mir nun die eigene Verfehlung als Kriegshetzernachgewiesen wird und dass somit der Vorwurf gegen ihnals heuchlerischer Widerspruch dasteht. Tatsächlich beginntHerr Kerr auch in diesem Sinn, auf die Gefahr hin, dieEnthüllung meines unpatriotischen Verhaltens zu schwächen.So verblüffend es ist: Herr Kerr, der auch bei anderenzwei Eisen im Kriegsfeuer vermutet, versucht es zunächst,

mich als dynastisch bestrebten Kriegsschreiber vorzuführen,der „(nachdem er das Kriegsmanifest Franz Josephs anfangspanegyrisch gelobt und ‚erhaben‘ genannt hatte)“ später „denKrieg verdammt“ hat. Diese Haltung zu Beginn des Krieges – eineder schartigsten Waffen aus dem Arsenal meiner „Feinde“, dochimmer wieder hervorgeholt – muss tatsächlich in sich selbstwiderspruchsvoll genug sein, denn das panegyrische Lob des er-habenen Manifests steht gleich in dem kriegsverdammenden AufsatzIn dieser grossen Zeit“, den ich am 19. November 1914 öffent- /9lich vorgetragen und am 9. Dezember (Nr. 404) habe erscheinenlassen und in den es doch eigentlich gar nicht zu passsenscheint. Aber Herr Kerr ist ganz genau darüber unterrichtet,welches längst erledigten Unsinns er sich da als Argumentsgegen mich bedient, und dass es sich in dem Passus über dasManifest um nichts anderes gehandelt hat als um die Betrachtungdes Sprachwunders, wie alles Unheil der Welt in der gebundenenZeile „Ich habe alles reiflich erwogen“ enthalten und aus ihrentfesselt war. Dass die vehementeste Kriegserklärung gegen denKrieg keinen Raum für ein Lob der Kriegserklärung bergen kann,ist doch an und für sich klar, aber immerhin könnte Nichtinfor-mierten noch eingeredet werden, dass einer, der später denKrieg verdammt hat, eben „anfangs“ noch auf der anderen Seitegestanden sei. Welcher bewusste Trug jedoch mit dieser Aus-schrotung der Manifest-Kritik getrieben wird, geht aus dem Um-stand hervor, dass ich in meinem Epilog nach Kriegsende20(„Nachruf“, Nr. 501/507, S. 7, 25. Januar 1919), sicherlich demstärksten Kriegsfluch, der in deutscher Sprache geschrieben wurde,wieder den Satz des Manifestes gewürdigt habe, „dessen ausge-sparte Fülle den Schwall aller Kriegslyrik aufwog“. Der Beklagte,der natürlich ganz gut den Sinn dieser sprachlichen Würdigung

versteht, dürfte auch wissen, dass ich später wiederholt demlächerlichen Vorwurf des Widerspruchs – auch mit der Erklä-rung des Epithetons ‚erhaben‘ – geantwortet habe. (So in21/22 Nr. 531/543, S.127–133, Nr. 622/631, S. 87–90.) Zuletzt unter anderemdas folgende:

Es ist also ganz richtig, dass ich 1914–1919 der Ansicht war,dieses Manifest sei das stärkste, das einzige, das wahre Kriegs-gedicht, und ich muss gestehen, dass ich dieser Ansicht auchheute noch bin. Ich hielt und halte dieses Manifest, diese eineisolierte Zeile – so gross wie das Unglück, welches sie beschloss –,diese Katastrophe von fünf Worten, diese vertönende Stimme vomMars für stärker als Lissauers Hassgesang, als Ginzkeys Gluck-gluck, als alles was Kernstock und Strobl und das ganze Kriegs-archiv zur Befeuerung der Front hervorgebracht haben. Nun istes aber doch eigentlich ganz ausgeschlossen, dass es unter denlesenden Menschen und gar unter jenen, die Schriftsteller sind,einen Kretin gegeben haben kann, dem, wenn er selbst im November1914 das Lob dieses Kriegsgedichtes für ein Lob dessen, der essigniert hat, und für ein Lob des Krieges gehalten hätte, nichtder himmelschreiende Widerspruch zu dem ganzen sonstigen Inhaltebendesselben Aufsatzes der den stärksten Abscheu gegen denKrieg bekundet, aufgefallen wäre. Nein, einen solchen Kretinkann es nicht gegeben haben, denn selbst er hätte mich ja füreinen Tollhäusler halten müssen, der eine Absage an den Kriegmit einem Hymnus auf das Kriegsmanifest einleitet – vorausgesetzt,dass er nicht auch enthüllen wollte, ich hätte darin jene Zeitdie „grosse Zeit“ genannt …

Herr Kerr, der hier nicht unter den Dichtern aufgezählt ist,die schwächere Kriegsgedichte als Franz Joseph geschrieben haben,gehört auch nicht zu den Missverstehern, die hier charakterisiertsind. Er hat wissend um die Unwahrheit – denn ich habe sie zuoft schon dargestellt und er ist ein Kenner – den Plunder her-vorgeholt, um vor einem naturgemäss uneingeweihten Forum miteiner schielenden Klammerwendung den Eindruck zu erwecken, dassich in der Haltung zum Krieg ein Kalfakter war oder doch einDoppel-Hirnwesen gleich ihm, in der Hoffnung, es werde allzuschwierig sein, den Sachverhalt klarzustellen. Wenn aber HerrKerr sagt, ich hätte als der, der später den Krieg verdammt hat,es „zunächst“ mit Spott „gegen die Schicksalsgefährten“ getan,so lügt er, wenn er nur den Aufsatz kennt, dem er das Lob des

Manifests entnommen haben will. Wenn er dann schnurgerade sagt:Kraus erblickt in dem Kriege das,worüber man witzeln kann“ , so lügt derVerfasser des Rumänenlieds, der Ersinner der „humoristischenKrankheiten“ vor jeder der viertausend Seiten, die ich im Krieggeschrieben habe, und wie sehr er lügt, soll dem Gericht unterden zahllosen Dokumenten aller möglichen Sprachen, die es be-kunden, der Satz dartun in dem Werk „‚Die Tragödie Deutschlands‘.Von einem Deutschen“: „Ein stärkeres Buch über das Dogma ‚Krieg‘und ein hinreissenderes ist nicht geschrieben worden“, (Zitat23in Nr. 697–705, S. 110); das Urteil in der Encyclopaedia Britannica 24(Prof. Bettelheim, ebenda, S. 114); und vor allem das ZeugnisDr. Alfred H. Frieds, des Trägers des Friedens-Nobelpreises25(zitiert in Nr. 657–667, S. 7–10), in dem am Schluss die Wortestehen: „Man wird dieses Werk (‚Die letzten Tage der Menschheit‘)gelesen haben müssen, wenn man künftig gegen den Krieg wirdwirken wollen. Ich stehe nicht an, es zu den höchsten Schöpfungender Geistigkeit zu zählen, zu jenen Büchern der Menschheit, dieEwigkeitswert besitzen.“ Ich habe im Kriegstagebuch Frieds denNamen des Herrn Kerr nicht erwähnt gefunden; aber dieselbeArbeiterzeitung‘, auf deren Ausspruch, dass ich ein Verleumdersei, er sich beruft, hat mich um jenes Werkes willen für denzweifachen Nobelpreis vorgeschlagen. Ich habe nicht einmal ge-witzelt, als ich im Krieg die Gedichte des Beklagten abdruckte.Es ist wahr, ich habe ihm eines in die Schuhe geschoben, das erniemals verfasst“ hat. Aber ich habe kein einziges verfasst,während er doch eben das, was er mir in die Schuhe schiebt, be-stimmt tut und getan hat. Wie kein anderer hat er im Kriegdas erblickt, worüber man witzeln kann. Mein Hohn traf allesHinterlandsgelichter, die Kriegsgewinner hinter der Front, die

Honoratioren, die Verwundetentransporte empfingen, um in derZeitung genannt zu werden, und alle Parasiten des Heldentods,die durch seine Empfehlung sich selbst ihn erspart haben. Umin einem Beleidigungsprozess meine Gesinnung zum corpus delicti,nein zum corpus vile zu machen, sagt er mit verachtender Ge-bärde „das deutsche Bedrohtsein war ihm weniger aufregend“.(Als was?) Doch um vorzubauen, dass ich mich wie in der Fackel auf Goethes Brauch, den Volksgenossen die Wahrheit zu sagen,berufen könnte, nimmt er schon die Zitate vorweg, zeigt siegleich selbst als Verbrechen gegen die Majestät des Kriegs anund entschuldigt Goethe mit „Augenblicken des Missmuts“, diesemit der „Stunde stärkster deutscher Gefährdung“ konfrontierend,worin ich sie drucken liess. Wieder ein „journalistischer Dreh“,wie er ihn mir vorwirft. Denn es war eine Zusammenstellung unter26dem Titel „Goethe und alles“ (Nr. 445/453, S. 87–90, Januar 1917),enthaltend: Goethe und die Tiere, Goethe und die Journalisten,Goethe und die Deutschen, Goethe und der Krieg, Goethe und dieWeiber, Goethe und die Menschen. Herr Kerr, vor dem Goethe nichts beschönigen muss, wiewohl er auch in bedrängter Zeitseinen Landsleuten Wahrworte gesagt hat, unterlässt es, unterden zitierten Versen auch diese anzuführen:

Zu zeigen, was moralisch sei,Erlauben wir uns frank und frei,Ein Falsum zu begehen.

Auch Goethes Verse über die Journalisten würde sich Herr Kerr nicht zu eigen machen, seine Ansicht von dem Ertrag der Press-freiheit: „Tiefe Verachtung der öffentlichen Meinung“. Ichaber glaube, der deutschen Sache während des Kriegs nicht nurdurch Zitierung Goethes (dessen Name ja nicht einmal von einerPariser Strassentafel entfernt wurde), sondern auch durch Be-

rufung auf Jean Paul, Claudius, Hölderlin, Schopenhauer undBismark gedient und ihr besser „geholfen“ zu haben, als esmit verifizierter Dresche möglich war. Ich glaube insbesondere27durch Zitierung Schopenhauers (im Mai 1917, Nr. 457/461, S. 47–52)keinen Kriegsschaden gestiftet zu haben, bloss den Nutzen derVerbreitung von Erkenntnissen wie:

Ich weiss nicht warum mir eben einfällt, dass der Patriotismus,wenn er im Reiche der Wissenschaften auftreten will, ein schmutzi-ger Geselle ist, den man beim Kragen packen und hinauswerfen soll.

Oder:

Ich habe den Schleier der Wahrheit weiter gelüftet, als irgendein Sterblicher vor mir. – Aber den will ich sehen, der sichrühmen kann, eine elendere Zeitgenossenschaft gehabt zu haben,als ich.

Ferner hat SchopenhauerNiederträchtigkeit“ als den „Grundcharak-ter der deutschen Literatur dieses Jahrhunderts“ erkannt undwenngleich er einräumte, dass die Sprache „der einzige entschie-dene Vorzug“ sei, „den die Deutschen vor andern Nationen haben“,so beklagte er doch, dass die schlechten Schriftsteller eifrigbeflissen seien, „sie zu zerfetzen und zu zerstückeln“. Und mussetwa Bismark erst durch Augenblicke des Missmuts entschuldigt28werden, wenn ich (Nr. 455/456, S. 5, April 1917) seinen Ausspruchzitiert habe:

Ich habe einen Lieblingsgedanken in Bezug auf den Frie-densschluss. Das ist, ein internationales Gericht niederzusetzen,das die aburteilen soll, die zum Kriege gehetzt haben – Zei-tungsschreiber, Deputierte, Senatoren, Minister.

Die unpatriotische Haltung, die sich in solchen Nach-drucken Zitierungen bekundet, wird aber noch leichter durch meine eigenenSätze im Krieg bewiesen und durch sie lässt sich von der Schuld-frage in einem Beleidigungsprozess noch weit wirksamer ablenken.So stellt Herr Kerr seinem „Spottgedicht“ gegen die Rumänen – „eswar immerhin ein Versuch zur Abwehr“, konstatiert er

schlicht – Verse entgegen aus meinem Kriegsdrama, von denener, wiewohl sie dort der extremste Schwerindustrielle spricht,glatt behauptet, sie seien „gegen Deutschland gerichtet“: DasLied des Alldeutschen“, eine Brandmarkung des Geistes derKriegshetze und Kriegsverlängerung. Das lässt Herr Kerr abernicht gelten, denn als Verfechter des Alldeutschtums würde erdoch eine zu eigenartige Figur machen. Darum zieht er es vor,das Lied als einen „kläglichen Hassgesang gegen Deutschland“ zudenunzieren. Er, der mir nachsagt, dass ich „Zusammenhänge zubemänteln“ wisse, verschweigt aber, in welche Szene und in wel-che Situation, in welches von seinem eigenen Blatt hinreichendgezüchtigte seelische Milieu dieses „Lied des Alldeutscheneingestellt ist. Er beklagt sich nun, dass derjenige, der gewagthat, dieses Lied zu verfassen und „im Krieg öffentlich vorzu-tragen“, „es wagt“, ihm die „paar satirischen Strophen“ vorzu-werfen, die er doch gegen die Feinde Deutschlands schrieb. Ichräche mich darum an ihm“, indem ich sie immer wiederabdrucke. Von der geringen Schlüssigkeit abgesehen, wieder einFalsum. Nicht „Satiren“ wurden ihm vorgeworfen, sondern dieversifizierte Aufforderung zu Greueltaten, gegen deren Fort-setzung sich die Tendenz meiner Verse wendet. Dass in der Tatnicht nur mehr Mut, sondern auch mehr Moral dazu gehört hat,einer solchen Tendenz im Krieg Ausdruck zu geben, auf die Ge-fahr hin, noch nach dem Krieg als Hochverräter angezeigt zuwerden; dass mehr menschheitliche Ehre damit zu erwerben sei,im eigenen Hause die Wahrheit zu sagen als dem hundert Meilenentfernten Feind „Senge“ zu wünschen, das scheint dem europä-ischen Kopf nicht einmal zu dämmern. Wie sollte er da zugeben,dass meine Verse nicht gegen die „Nächsten und Bedrohtesten

gemacht sind – zu denen er nicht gehört hat –, sondern gegen ebenjenen Typus, der aus der Weite von der Gefahr nicht genug habenkonnte, mochte er nun von den Kriegsgewinnern oder bloss von denhelfenden Kriegsschreibern vertreten sein. Einer Stelle, diegleichfalls dem „Lied des Alldeutschen“ entnommen ist, setzt derBeklagte die Worte voran: „Von des Deutschen sagter, im Krieg“ und gibt als Quelle „Fackel 484–498, S. 13ff.an. Nun ist aber weder dieser Teil des Gedichts noch irgendeinanderer Teil in dem angegebenen Heft der Fackel, das tatsächlicham Ausgang des Krieges (15. Okt. 1916) erschienen ist, enthalten.In Wahrheit ist das „Lied des Alldeutschen“ noch später, nämlichin Nr. 499–500, und nicht auf S. 13ff., sondern auf S. 7–12 er-schienen. Dieses Heft ist datiert vom 20. November 1918,also nach dem Krieg erschienen. Was der Beklagte mitdieser Angabe eines falschen Datums bezweckt, ist nicht ganz klar,möglicherweise ist ihm im Eifer der Materialsuche ein Irrtum unter-laufen. Die absichtliche Verlegung in den Krieg konnte sich janicht lange ihrer Wirkung erfreuen. Sicher ist aber, dass er mitden ausdrücklichen Behauptungen: „Von den Deutschen sagt er, im Krieg“, „Herr Kraus“ habe dies „mitten im Kriege gesungen, spä-ter im Druck veröffentlicht“, nicht die volle Wahrheit sagt, son-dern den Sachverhalt verschleiert, denn am 20. November 1918 konntenicht mehr die Rede davon sein, dass sich das Lied gegen die Be-drohtesten wende. Die falsche Datierung mag ein Irrtum sein, dierichtige hätte aber jedenfalls die Angabe „später“ in ihrer ganzenUnaufrichtigkeit blossgestellt. Es geht jedoch weiter: als HerrKraus dies mitten im Kriege gesungen, später im Druck veröffent-licht hatte, „folgten die nachstehenden ‚Verse‘ des Kraus (aus einem anderen ‚Gedicht‘)“. Hier setzt er, nach zwei Zitatenmit zwei Kommentaren, zum Schluss das richtige Datum: Nov. 1918.

Denn dieses Gedichtfolgt,“ im gleichen Heft, fastunmittelbar auf das andere, es ist gleichfalls nach Kriegsendeerschienen. Den Sinn dieser Strophen, die Herr Kerr herabsetztund die eine Sprachgroteske sind, in welcher durch Zuruckführungaller möglichen Metaphern auf die Wirklichkeit des Einssein imLeben der Phrase und der Not dargestellt wird, hat er nicht ver-standen; er bricht zwei Strophen aus dem Zusammenhang, um sieals Invektive darzustellen. Er mag das „Gedicht“ getrost in An-führungszeichen setzen und als „Heine und die schrecklichstenFolgen“ verulken. Ueber die Qualität selbst der losgelöstenStellen, verglichen mit meinen Vollzitaten aus seinem Schaffen,mit ihm vor Gericht zu streiten, dürfte weder möglich noch er-forderlich sein. Immerhin ist bemerkenswert, dass einer, der dasin Deutschland unbekannte „Blättchen“ nur gelegentlich zu Gesichtbekommt, sogar beim Gerichtshof die Kenntnis der Tatsache vor-aussetzt, dass ich einmal einen Essay gegen „Heine und die Folgengeschrieben habe, von dem ich mir weiss Gott nicht einbilde, dassihn auch nur einer unter tausend Menschen an der Spree selbst nurdem Namen nach kennt. Der Beklagte zitiert noch einen Satz, dergleichfalls am 20. November 1918 erschienen ist und der, einemdurchaus geistigen Gefüge entnommen, gleichfalls eine Anklage we-gen Landesverrats begründen soll, und setzt fort; „trotzalle dem“ habe „1919, als diese Haltung des Kraus in Ver-gessenheit geraten (und Kraus in die Nähe politischerLinksparteien gerückt) war, der zeitweilige Vorsitzende der öster-reichischen Nationalversammlung, Herr Bürgermeister Seitz, ihmzum zwanzigjährigen Erscheinen der Fackel gratuliert und geäussert,Kraus habe zur Reinigung, Versittlichung des öffentlichen Lebensin Wien beigetragen usw. Besonders der Kampf gegen den Krieg seiverdienstlich gewesen …“ In logischem Wirrsal bietet wirklich

die Absicht der Denunziation noch den einzigen Anhalt. JedesGlied des Satzes scheint das vorige aufzuheben. Man möchte dochglauben, dass der „zeitweilige“ Vorsitzende der österreichischenNationalversammlung eben wegen „dieser Haltung des Krausihm gratuliert hat, nicht trotz ihr, nicht weil sie „in Ver-gessenheit geraten war“, sondern um ihrer zu gedenken! Denn nichteinmal, was ich 1914 gegen den Krieg geschrieben habe, war in Ver-gessenheit geraten, wie der ganze Brief beweist, der sich ja aufdie Haltung im Krieg bezieht – wie sollte die nach dem Krieg, wiesollte, was am 20. November 1918 erschien, am 1. Mai 1919 nicht er-innerlich gewesen sein? Wie sollte ferner mein „in die Nähe poli-tischer Linksparteien rücken“ in Widerspruch stehen zu Aeusserun-gen gegen den Krieg und insbesondere zu solchen, die damals er-schienen, als ich rückte? Und kann schliesslich selbst Herr Kerr mit dem Vergessen meiner Haltung im Krieg einen Brief moti-vieren, wenn er, obschon mit einem verdünnten Sätzchen, zugibt,dass so etwas wie Anerkennung dieser Haltung dem Brief zu ent-nehmen sei? Man wird gleich sehen, welchem textlichen Sachverhaltdas Sätzchen gerecht wird. Man wird sehen, wie Herr Kerr für Ge-richtszwecke zitiert, um einen Ausdruck höchster Achtung zu einemkonventionellen Glückwunsch an eine „Zeitung“ zu machen. Der Gra-tulant soll „geäussert“ haben, Kraus habe zur Reinigung, Versittlich-ung des öffentlichen Lebens in Wien beigetragen usw. So zitiert der Beklagte den „aufrichtigsten Dank für dasgrosse Werk, das Sie zur Reinigung, Versittlichung und Vergeistigungdes öffentlichen Lebens geleistet haben“. Freilich nur in Wiendenn für den geistigen Bezirk, in dem solche Methode der Wieder-gabe möglich ist, kann die Anerkennung nicht gelten. Und wie derBeklagte diese Aeusserung des „zeitweiligenPräsidenten herabzu-setzen sucht, um für den gefürchteten Fall ihrer Verwendung

(gegen den Wiener Ruf des „Verleumders“) Prävenire zu spielen!Aber es hilft ihm nicht; denn wenngleich ich mich auf das Schrei-ben sonst nicht berufen hatte, nun muss ich es tun, um durch denWortlaut erkennen zu lassen, wie sehr sich Herr Kerr bewusst war,dass es eine „Vergessenheit“ meiner Haltung im Krieg durchaus nichtbezeugt. Wie lautet das Sätzchen von dem verdienstlichen Kampf imOriginal?

30Insbesondere wird Ihr tapferer, mutiger, beharrlicher Kampf gegenden Krieg und gegen alles Gemeine und Herabwürdigende, das von ihmausging, unvergesslich bleiben. Hier fand die sittli-che Empörung gegen die Kriegsbarberei ihren leidenschaftlichen Aus-druck und die Gewalt der Empfindung vermählte sich mit der Gewaltder Form, so den Geist zur Tat gestaltend. Jeder Republikaner wirddankbar anerkennen, was Sie mit Ihrem Wort zur Vertagung der altenGespenster beigetragen haben.“ (Nr. 514/518, S. 21)

Das stellt Herr Kerr, um das Berliner Gericht zu informieren, indie Kategorie der Glückwünsche, die „in Oesterreich Behörden zumJubiläum‘ einer Zeitung schicken“ (wiewohl derBürgermeister von Wien der Neuen Freien Presse wohl zu keinemJubiläum gratulieren würde). Aber diesem Brauch entsprechend, hatHerr Seitz Herrn Kraus nachher auch zum Geburtstag gratuliert“.Er hat nämlich am 28. April 1924 zugleich zum fünfundzwanzigjähri-gen Erscheinen der Fackel und zum 50. Geburtstag ihres Herausgebers ein Schreiben verfasst, worin ein von Herrn Kerr verhöhnter Satzfolgendermessen lautet:

Wir haben Ihnen für Ihren mit sittlichster Leidenschaft geführtenKrieg gegen den Krieg zu danken, dessen Unmenschlichkeit Sie inIhrer unsterblichen Tragödie so geschildert haben, dass die Mensch-31.heit es nie vergessen kann. (Nr. 649/656, S. 148–150).

Es ist aus dem Grunde wichtig, diesen Satz im Wortlaut anzuführen,weil aus ihm hervorzugehen scheint, dass auch noch fünf Jahre spä-ter meine Haltung im Krieg nicht „in Vergessenheit geraten“ war –ein Schicksal, vor dem ich ja die Haltung des Herrn Kerr bewahrthabe, da er nun die Vorlage dieser beiden Glückwünsche zu Jubiläeneiner Zeitung als eine immerhin ausgiebige Widerlegung der no-

torischen Tatsache befürchtet hat, dass ich in Parteikreisen desGratulanten als Verleumder gelte, ist er sichtlich bemüht, ihrzuvorzukommen und ihre Beweiskraft zu entwerten, indem er denguten Bürgermeister“ und „diesen freundlichen Beamten“ als uni-formiert hinstellt und aufs Geratewohl behauptet, sein Gesamtur-teil fiele anders aus, wenn er „unwahrhaftige Manöver des Kraus an sich selbst erfahren hätte“. Ich muss es dem Bürgermeister vonWien überlassen, sich gegen den Verdacht zu wehren, dass seinGesamturteil über die sittliche und künstlerische Existenz derFackel von persönlichen Gründen abhängig sei. Immerhin aber kannich feststellen, dass der Bürgermeister diesem Verdacht schon in-soweit widersprochen hat, als ihn frühere Angriffe in der Fackel gegen seine Parteigenossen wie gegen ihn persön-lich nicht dazu vermocht haben, das mir so freundliche Bekennt-nis zu unterlassen, während mich selbst wieder dieses nicht ver-hindern konnte, späterhin seine Passivität in meinem Kampf gegeneinen journalistischen Erpresser an Wien tadelnswert zu finden.Was die Unabhängigkeit des Urteils betrifft, scheint Herr Kerr denSchreiber jener Briefe nicht minder zu unterschätzen als denEmpfänger und an beide das Mass des eigenen kritischen Verhaltensanzulegen; was er ja ausdrücklich mit der feinen Wendung zugibt,dass „die besseren Kenner des Herrn Kraus das Recht hätten alsmindestens gleichwertig neben diesem freundlichen Beamten zu stehnzumal wenn es die berechtigte Wahrnehmung ihrer eigenenEhre gilt.“ Er vergisst jedoch, dass es sich in diesem Fall mehrum die Wahrnehmung der meinen handelt, und er tut unrecht zu ver-langen, dass auch alle andern, gegen die ich etwas zu sagen habe,mich darum einen „kleinen miessen Verleumder“ nennen.

IX.

Nachdem der Beklagte das ganze Alteisenmaterial, mit dem

ausgediente Verehrer seit Jahren erfolglos gegen mich hau-sieren – mit den Prunkstücken der Verleumdung Victor Adlers unddes erhabenen Manifestes Franz Josephs erstanden hat, darfnatürlich auch die „Eitelkeit“ nicht fehlen, eine Naturgabe, diemich seit dreissig Jahren unmöglich macht und selbst jenen Men-schen an der Spree vom Hörensagen bekannt sein muss, die dieFackel auch nicht dem Namen nach kennen. Alles was ich von Anbe-ginn beginne, geschieht aus dieser Eitelkeit, zumal wenn sie ver-letzt wird. Kerr bringt einen krassen Fall vor, wo diese Eitelkeit,gepaart mit Hass, so recht ursprünglich zum Ausdruck kommt. In derDeutschen Tageszeitung‘ – ein Blatt, dessen Tendenz ihm eigent-lich nicht blutsverwandt ist, aber das er in Schutz nehmen muss,weil er gut zu tun glaubt, sein deutschnationales Gefühl zu über-spannen, nicht für meine unwesentliche Person, sondern fürs Ge-richt –, in der ‚Deutschen Tageszeitung‘ war also „einer meinerVorträge abfällig glossiert worden“. Wie würde nun ein andererintellektueller auf so etwas reagieren? Kerr selbst würde imBerliner Tageblatt, wo er ja nicht den Furor teutonicus wie ineinem Schriftsatz übertreiben muss, sich in solchem Fall begnügen,etwas Unverständliches von „Wenden-Sorben vom Kitz“ zu antworten,was offenbar auf die rassenmässige Minderwertigkeit des alldeut-schen Typus hindeuten soll. Cato selbst hätte vielleicht erklärt,Carthaginem esse delendam. Während ich – es ist nicht zu glauben:Da schreibt Kraus aus diesem, diesem, diesem Anlass wörtlich“ –während ich also Versailles als eine zu massvolle Vergeltung füreine abfällige Kritik meines Vortrags ermesse und ceterum censeo:

Alles in allem geht meine Ansicht dahin, dass die Entente halbeArbeit geleistet hat.

Sagt er wörtlich wegen einer abfälligen Besprechung seines re-zitatorischen Auftretens.“ So wirksam weiss Herr Kerr abzukürzen,

so zitiert und resümiert er, so weiss er Stimmung für ein Gerichts-verfahren zu machen. So setzt er glatt voraus, dass ein deutschesGericht, von einem Ausbruch des Nationalhasses aus verletzterEitelkeit verblüfft, die Ehre des Verräters, nein des Tollhäuslersfür die einer „unwesentlichen Person“ erachten werde, um dem vater-ländischen Mann zu einem Erfolg zu verhelfen. Denn während ihm derWeltkrieg ein Anlass war, Komplimente von der Front zu bekommen,ist mir der Tadel ein Anlass, die Niederlage zu wünschen. Es istder „Schlager“ des Herrn Kerr, dem wirklich kein Mittel zu gewagtscheint, um meine Zusammenhänge zu bemänteln. In Wahrheit folgtnämlich dem Fluche auf dem Fuss die Erklärung, auf wen er sich be-zogen und welcherlei Endsieg die Entente unterlassen hat; der Nach-satz:

So unbesiegt wie die Deutsche Tageszeitung war noch nie ein Be-siegter!

In Wahrheit geht also, selbst für den, der mir Kriegsrepressalienfür eine abfällige Kritik zutrauen würde, schon aus diesem folgen-den Satz, wenn nicht aus allen vorangegangenen hervor, dass essich um die Darstellung eines ganz besonderen, das Deutschtum kom-promittierenden Typus gehandelt hat, der natürlich auch nicht ineiner „abfälligen Besprechung“, sondern in seiner abgründigenHoheit und Verlogenheit zum Ausdruck kam. In Wahrheit steht derSatz am Ausgang einer fünf Seiten langen Charakteristik, der dieKritik nur der zufällige „Anlass“ ist, einer Betrachtung, die nichtan das völlig nebensächliche kritische Urteil anknüpft, sondern aneine Eindrucksfälschung, wie sie vielleicht noch nie, ausser inder extremst andersrassigen Revolverpresse, verübt wurde. Vom Titelan „Auch ein Vortragender“ angefüllt mit aller persönlichsten,die Körpersphäre berührenden Hohn, wie auch mit Insulten einer un-schuldigen Hörerschaft, die „bunt-orientalisch-christlich-galizisch

genannt wurde – gleichwohl ein Erzeugnis, dessen impressionisti-sche, fast dem Kerr nachgeahmte Manier ich als „letzten Juden-journalismus mit arischem Misslingen“ darstellte. „Man merkt schon“,sagte ich, „dass der Kerl vom Kerr kommt“, und eben dieser Satzhat offenbar die Aufmerksamkeit des Mannes erregt, der die Fackel nie liest. In Wahrheit war das eigentlich Kritische, soweit esmich als Autor betraf, zwar dumm, aber gar nicht abfällig, denn derRezensent schrieb: „Dann Kraus als Dichter. Einige scharf umrisseneGedanken in poetischer Form. Nicht schlecht, sogar gut.“ Empörendjedoch die Unredlichkeit in der Zitierung nie gehörter Ausrufe wie:Fabelhaft! Solchene Dichtung! Was ä Dichter!“, dieder Schreiber erfand, um sie als „Symbol deutscher Kultur“ zu ver-spotten. Und vollends, unter der beschimpften Zuhörerschaft, dieVerhöhnung einer mit Namen genannten Dame, weil sie teilnehmend wiedie andern zuhörte und mit den andern ihrem Beifall Ausdruck gab.Alles von beispielloser Niedrigkeit bis zu dem Schlussatz:

Mir würgte etwas im Halse. Ich spuckte drei-mal aus. Eins-zwei-dreimal!!! Pfui Deibel!!

Diese Art, eine Vorlesung (und eine in der Reihe von solchen zuwohltätigem Zweck) mit ihrem Publikum zu besudeln, schien mir indenkbar krassestem Widerspruch zu stehen zu der Parole die einBlatt als seinen Untertitel erkoren hat; „Für deutsche Art!“ DieUnwahrhaftigkeit, die in einem Referat, das sich als Eindrucksbe-richt gibt, die „tiefste Ergriffenheit“ nach dem Anhören eines Ge-dichts zwar verhöhnt, aber zugibt, „rasendes Geschrei nach Wieder-holung!“ erlügt, von „platzenden Handschuhen!“, „knallroten Bei-fallshänden!“ schmockt und Ausrufe wie „Unerhört! Unerhört!!!“ demLeser einredet, all das erinnerte mich, zum kleinsten Anlass, andie Technik der Kriegslage, an die in der geistigen Munitionsfabrikhergestellten „Bomben auf Nürnberg“. Hier wie dort vermag Drucker-

schwärze alles, um den Eindruck zu bewirken, den die Schwärzerwollen; und ich schloss damit, wie unbesiegt eben dieser Typussich gebärde. Herr Kerr aber will den Eindruck bewirken, dass ich,der eine abfällige Kritik nicht verwinden konnte, sie planvollmit der Herbeirufung des Feindes und mit Bomben auf Berlin be-straft sehen wollte. Seine Art, Sachverhalte wiederzugeben, über-trifft noch die jenes Rezensenten. Er hat zwar das Heft derFackel, dem er den Beweis meiner Eitelkeit entnimmt, bezeichnet.Zum Beweise seiner Grosszügigkeit Genauigkeit lege ich es trotzdem noch bei32(Nr. 546–550, S. 16–21).

X.

Dem Beklagten scheint es nötig, gegenüber meiner Methodeeiner „tendenziösen Auswahl“, die ich ihm gegenüber befolge, einigeseiner Gedichte anzuführen – „mit der wiederholten Versicherung“,dass er dergleichen niemals für mich getan hätte (wäre auch nichtmehr nötig, da ich die Gedichte kenne), „sondern dass es für dieRichter geschieht“. Gewiss, nur diese Tendenz verfolgt er mitseiner Auswahl, keine andere. Das erste Gedicht, das er anführt,ist von Kriegsbeginn datiert und hat die Schlusszeile:

Es wird nicht untergehn.

Das letzte, vom Kriegsende, hat die Schlusszeile:

ES DARF NICHT UNTERGEHN.

Womit der Dichter seine Gesinnung nicht nur als einwandfrei, sondernauch als konsequent ganz im Sinne seines Gelöbnisses vom September1914 dargetan hat. Diese Gedichte widerstreiten zwar nicht, gleichjenem, in dem eine defaitistische Gesinnung zum Ausdruck kommt, derBehauptung, dass er ein Kriegsdichter war, aber sie erfüllen offen-bar den Zweck, ihn als Träger einer Sinnesart zu empfehlen, diesich von der meinen leuchtend vorteilhaft abhebt. Dabei widerfährt es ihm

freilich, ein Gedicht vorzuzeigen, das ich bereits abgedruckthabe, weil mir eben an ihm der Widerspruch zwischen fremder Le-bensgefahr und der eigenen Möglichkeit, sie in Verse zu bringen,besonders deutlich erschien. Es ist das Gedicht, wo der Autor zumSchluss „die wir fern vom Felde sind“ bekennen lässt: „Wir kämpfenmit; wir sterben mit.“ Ich habe diese Zusicherung in Nr. 743–750,3.S. 103 reproduziert, so dass ich mindestens in diesem Punkte freivon den Vorwurf tendenziöser Auswahl bin. Ich habe ungefähr davongesprochen, dass zu dem Mute, den Schuss an der Front „in dieeigne Stirn“ treffen zu lassen, schon eine solche gehört, wennman doch fern vom Felde ist und zu den „beiden Berichten“ täglichseinen Vers parat haben kann. Die Vorstellung, dass einer, der imKrieg ausserdem über Theaterpremieren schreiben durfte, seinenSchmerz darüber, dass sie ihn nicht mitnehmen wollten, mit demTrost betäubt, dass er mitkämpfe und mitsterbe, ist beklemmend. Sieist nach meinem Gefühl keine Vorstellung, die in Widerspruch stün-de zu dem Bild, das ich von der Haltung des Beklagten im Krieg ent-worfen habe. Sein Eindruck sollte durchaus nicht der der Feigheitsein, aber einer Ehrfurchtlosigkeit, die nicht schweigen kann unddie Routine der täglichen Versbereitschaft noch für eine patrioti-sche Leistung hält. Und ich mochte fragen, wie sich dieses feier-liche „Wir kämpfen mit; wir sterben mit“ auf die „Kriegs-schande“ reimt, als die Herr Kerr im ‚Berliner Tageblattunlängst die heldische Aktion gebrandmarkt, auf den „Blut-schwindel“, als den er sie entlarvt hat; und ob es ihmetwa möglich gewesen wäre, auch diese Auffassung „im Scherlschen(!)Tag“ unterzubringen. Nein, dort rief er „die Stimmung Aufrich-tendes“ rasch in die furchtbare Zeit; dort hat der Dualist demBlutschwindel Vorschub geleistet.

XI.

Der Beklagtewiederholt nach alledem“: Den Kernpunktbilde für ihn der von mir wider besseres Wissen geschriebene ver-leumderische Satz, dass er während des Weltkriegs „in Grausamkeitversiert war, in jener scheusslich gewitzten Grausamkeit, die daseigene Leibeswohl hinter der Schanze eines Schreibtisches deckt“.Ich wiederhole, dass seine Tätigkeit für den Verlag Scherl, vonder ich dem Gericht zahlreiche auch von mir noch nicht gedruckteProben überreicht habe, diesen Eindruck gemacht hat, nicht nur beimir, sondern bei allen, die sie kennen gelernt haben. Er „wieder-holt zweitens“, dass er seinen „kurzen (inkriminierten) Abwehrsatzan demselben Tage drucken liess, an dem er „von den hanebüchenenBeschimpfungsversuchen des Kraus Kenntnis bekam.“ Ich wiederhole,dass in dieser „Abwehr“, selbst wenn sie nicht erst nach dreiMonaten erfolgt wäre, dass in dem allgemeinen und mit Formalbelei-digung gepaarten Vorwurf der Verleumdung sich keinerlei Beziehungzur Materie erkennen liesse, und dass somit sein Mittel zur Abwehreiner angeblichen Ehrverletzung ein so untaugliches war wie seineLyrik zur Abwehr des Feinds. In seinem Vorwort hat sich der Be-klagte darüber gewundert, dass Herr Kraus, „obschon er Schrift-steller ist (und obgleich beleidigende Angriffe das sind, weshalbsein Blatt vorwiegend gelesen wird)“ die Beleidigungsklage widerihn erhoben habe, der ihm nun „auf diesem nichtliterarischen Wegefolgen“ müsse. Wenn es wirklich beleidigende Angriffe wären, wes-halb mein Blatt vorwiegend gelesen wird, so müsste allerdings ge-sagt werden, dass die Leser um den Schlusspunkt der Beleidigungdauernd betrogen sind, nämlich um die Prozesse. Denn die beleidi-genden Angriffe sind offenbar so sicher begründet, dass es niemalszu einer Anklage gegen den Verfasser kommt, während dieser sich

freilich manchmal genötigt sieht, seine Beleidiger, nämlich sol-che, die sich für sachlichen und unwiderleglichen Tadel mit Be-schimpfungen rächen, vor Gericht zu ziehen. Man kann ihm gewissnicht nachsetzen dass er den literarischen Weg“ dadurch vermeidenwolle, und niemand hat sich weniger über Mangel an literarischerBeachtung durch die Fackel zu beklagen als Herr Alfred Kerr. Abergerade der Autor, der noch keiner Polemik ausgewichen ist, befolgtden Grundsatz, in Fällen, wo die nackte Ungebühr zu publizisti-schem Ausdruck gelangt, durch strafrechtliche Abwehr den Miss-brauch der Druckerschwärze zu stigmatisieren. Er bleibt damitnur seiner eigenen literarischen Aufgabe treu, die Presse als einInstrument der Willkür, als die Gelegenheit unverantwortlicherRedakteure zu bekämpfen, eine Aufgabe, die der Beklagte freilichals die Narretei verkleinern möchte, „wegen der Unfälle die Eisen-bahn zu bekämpfen“. Es handelt sich aber vielmehr um eine Bahn desVerderbens, von der die Menschheit abgebracht werden soll – ganzim Sinne von Geistern wie Goethe, Lichtenberg, Balzac, Baudelaire,Schopenhauer, Kierkegaard, Lassale, wie Bismark, dem die PresseDruckerschwärze auf Papier“ bedeutet hat, und Richard Wagner,dessen Ausspruch, „er verachte die Presse“, sie in das schmeichel-haftere Bekenntnis umgefälscht hat, dass er sie hasse, durch diesePraktik so recht die Verachtung begründend. Im Fall des Beklagten,der mir doch nicht nachsagen wird, dass ich mit ihm in jahrzehnte-langer literarischer Polemik nicht immer wieder fertig gewordenwäre, hat es sich mir darum gehandelt, die Art, sich mit einerSeitenwendung rein beschimpfenden Charakters eben aus der pole-mischen Affaire ziehen zu wollen, der man nicht gewachsen ist, alseinen Uebergriff zu kennzeichnen, der von selbst aus der Sphäreliterarischer Befassung ausscheidet. Ich habe diesen Weg im Jahre1902 gegen dasselbe ‚Kleine Journal‘ in Berlin gewählt, mit dem

der Beklagte einen Gerichtskkampf ganz anderer Art zu bestehenhatte, in der Erwägung, dass ich zumal „in Berlin, wo ich nichtzu meinem Publikum spreche“, auf den Schutz der Privatehre be-dacht sein müsse, „wenn anders ein paar Leute, die meinen Namenkennen und ihn in so auffallender Verbindung lasen, nicht stutzigwerden sollen“ (Nr. 143, S. 5). In dieser Sache ist im „KleinenJournal“ (10. Juni 1903) tatsächlich eine „Abbitte“ erschienen, nachVerurteilung der Redakteure durch das Schöffengericht und nachdemder Versuch jämmerlich gescheitert war, einen Anwurf, analog demdes Beklagten, auf analoge Art zu beweisen: durch Berufung aufPersonen, die ich „verleumdet“ haben sollte – schon damals aufHerrn Hermann Bahr. Das Schöffengericht hatte von solcher Beweis-aufnahme Abstand genommen, „da es selbstverständ-lich ist, dass ein im öffentlichenKampfe stehender Schriftsteller wieder Herausgeber der ‚Fackel‘ Freundeund Feinde hat“. (S. 8) Wäre es Herrn Kerr um denBeweis zu tun gewesen, dass ich ein Verleumder sei, so hätteer hinreichend Druckerschwärze zur Verfügung gehabt, ihn zu ver-suchen, oder er hätte selber den Weg der Beleidigungsklage betre-ten können, wenn er des Glaubens war, dass ich den sachlichen An-griff überschritten habe oder dass die Behauptung, er sei derAutor des Masurengedichts, in Anbetracht seiner sonstigen Pro-duktion eine Beleidigung ist und nicht bloss ein Gegenstand dertatsächlichen Berichtigung. Das Recht, einen Wahrheitsbeweis fürVerleumdung zu führen, bleibt ihm – jenseits des formalen Momentes –natürlich auch als dem Beklagten unbenommen. Dass ihm aber dieunausgesprochene und nach drei Monaten beschlossene Gedankenver-bindung mit dem Gottlieb-Gedicht, nach längst aufgenommener Dis-kussion, das Recht zur Schmähung geben sollte, darf wohl bestritten

werden. Es liegt ein Fall von journalistischem Uebergriff vor,der für die Willkür dieser Machtvollkommenheit geradezu typischist, und gerade das Blatt des Beklagten unterlässt keine Gelegen-heit, mag diese zum Anlass noch so untauglich sein, um ein frag-würdiges Mütchen an mir zu kühlen. Soll man etwa den „literari-schen Weg“ betreten, wenn ein Kollege des Beklagten, Herr Aubur-tin, seine Plauderei über die Wiener Küche (‚Berliner Tageblatt14. August) dazu benützt, die Wendung unterzubringen, in einemRestaurant gebe es „ein herrliches Schöpsenfleisch, obgleich HerrKarl Kraus dort zu Abend isst“. Eben diese Methode, die Publizi-tät in den Dienst einer beliebigen Privatranküne zu stellen, ohneden Leser in deren Gründe einzuführen, ohne auch nur anzudeuten,welche ungeistigen oder unsittlichen Handlungen des Genannten zusolcher Herabsetzung durch schalen Spatz oder Schimpf berechtig-ten, hat der Beklagte betätigt, und solche r Unfug, der s Treiben, das diekriminalistische Abwehr im allgemeinsten Interesse erfordert, istauch gewiss nicht geeignet, im Gerichtssaal die Aufrollung einerBeweismaterie zu ermöglichen, um die er es sich doch mit einemSchimpf gedrückt hat. Ich habe sie, wie diese Beantwortung desgegnerischen Schriftsatzes dartut, in keinem Punkte zu scheuen.Ich kann aber auch nicht glauben, dass ich, jenseits der Rechts-frage, vor einem deutschen Gericht darum den schwereren Standhaben sollte, wie ich einem Gegner gegenüberstehe, der sich ihmals den besseren Patrioten anbietet. Damit jedoch über den Ein-druck hinaus, den die Parteien von ihrer geistigen Leistung imKrieg hervorrufen oder hervorzurufen wünschen – die eine ihreGesinnung verklärend, die andere in der Abwehr der Verdunkelung –;damit über diesen Unterschied, dessen Nachteil für den Kläger der Beklagte so sichtbar in den Kalkül zieht, auch aussenstehendeUrteiler gehört werden, nämlich solche, die im Punkte der vater-

ländischen Haltung und politischen Gesinnung ganz und gar denBestrebungen der Gegenseite entsprechen, so seien sie zum Schlus-se zitiert. Und ganz im Sinne eines Refrains mit der Versicherung,dass ich diese Urteile niemals um des Herrn Kerr willen hieher ge-setzt hätte, „sondern dass es für die Richter geschieht“. Es han-delt sich um zwei Aeusserungen über meine Haltung im Krieg undüber die des Beklagten, über meine und seine Berechtigung, zumErlebnis des Grauens das Wort zu nehmen, über mein und über seinsittliches Motiv. In der führenden deutschnationalen ZeitungTägliche Rundschau‘ hat am 21. August 1927 (siehe die Beilage)35ein mir persönlich wie literarisch unbekannter Schriftsteller(Franz Hader) einen Artikel erscheinen lassen unter dem TitelDer Triumph des Thersites“, als welcher Thersites aber nicht etwader Verfasser des „Lieds des Alldeutschen“, wie der Beklagte viel-leicht erwartet hätte, dargestellt erscheint, sondern der Verfas-ser des bekannten Buches vom „braven Soldaten Sweijk“, an dessenschärfste Ablehnung, aus dem alldeutschen Gesichtspunkt, sichder folgende Satz schliesst:

Wir trennen ein Buch, dessen literarischer Unwert sich mit Niedrig-keit der Gesinnung paart, von Werken, die genialer Gestaltungskraft,der reinsten Absicht und der tiefsten Einsicht desUrsprung verdanken, wie jene ‚Letzten Tage der Menschheitdeseinzigen Karl Kraus, der berufen war,einem Staate den Fluch und Hohn nach-zurufen, dem er durch Jahrzehnte insAngesicht getrotzt hatte….

Das schreibt ein Mann, der nach der Tendenz des Aufsatzes und demMilieu des Erscheinens gewiss dem Verdacht entrückt ist, michgleich dem Bürgermeister von Wien dafür belohnen zu wollen, dassich „in die Nähe politischer Linksparteien gerückt“ sei, der aberebensowenig wie jener auszudrücken scheint, dass er meine Haltungim Krieg vergessen habe. Doch auch die Erinnerung an die meinesGegners lebt in konservativen Kreisen fort, obschon sie vielleicht

nicht wissen mögen, dass er noch heute in dringenden Fällen dievaterländische Gesinnung betätigt und gelegentliche Versuche, indie Nähe politischer Linksparteien zu rücken, resultatlos verlau-fen sind. In der führenden katholischen Monatsschrift „Hochland36(XXIV., September 1927, S. 647), in dem Aufsatz „Reisebücherdeutscher Schriftsteller“ von Friedrich M. Reifferscheidt (siehedie Beilage) heisst es:

Alfred Kerr, nicht unbekannt als der grosseKapitelmensch des ‚Berliner Tageblatts‘ und als ehemali-ger Kriegs-Coupletist, macht natürlich die litera-rische Neuheit der Auslandsreisen wie etwa eine kapriziöse Westen-mode mit. So hat er bereits Spanien in kleine, lateinisch numerier-te Absätze zerhackt, ist in Paris als ‚Friedens-täuberich‘ tätig gewesen und hat auf seinebesondere Manier auch mit Amerika angebandelt, das er, echt kerrisch‚Yankeeland‘ nennt. So heisst auch sein Buch (Verlag Rudolfs Mosse,Berlin), ein von Amerikanismus Berliner Prägung trunkenes Buch,das jetzt noch, Jahre nach seinem Erscheinen, als grösster Erfolgder Saison annonciert wird. Andere verunstalten die deutsche Spracheweil sie’s nicht besser können, Kerr einerseits deshalb, anderer-seits aus Uebermut. Das ist sogar sein Charakteristikum, wenner schon eines haben muss: Er macht aus seinenNöten die Modetugend. Er ist zeitle-bend ein ‚Friedmensch‘ gewesen; weilaber dieses entmenschte Europa Kriegzu führen für gut erachtet hat, ist er,um nicht Spielverderber zu sein, Kriegsbarde gewor-den. Also gewiss eine zarte, nachgiebige Natur, deren Emanationenschon deshalb nicht fehlen durften, weil sonst Berlin um einen Komiker ärmer wäre.

Damit aber auch die maßgebendste Stimme nicht fehle, für die Bieg-samkeit seiner Ansichten zu zeugen, so sei seine eigne angeführt.Er hat erzählt, dass ich ihn um 1897 durch Besuche behelligt, dassich wiederholte Näherungen versucht habe, deren Erfolglosigkeitmich offenbar in die Angriffsstellung gebracht hat. Ich habe derVermutung Ausdruck gegeben, dass eine von ihm zitierte Anerkennungin einem Privatbrief vom 30.X.97 nicht seine üble Affäre mit demalten Musikschriftsteller Tappert, sondern ein Theaterstück betrof-fen und sich auf einen seiner „Berliner Briefe“ bezogen hat. MeinGedächtnis, vor den verblüffenden Feststellungen des Herrn Kerr indie Defensive gedrängt, hat die Genugtuung erfahren, dass nunmehr

in der Berliner Staatsbibliothek das folgende gefunden ward. HerrAlfred Kerr, der die Formel „herzlichst“ in einem Privatbriefals Gegenbeweis gegen den späteren Misseindruck von seiner Per-sönlichkeit anführt, hat mich nicht nur am 25. Juli 1897 in derBreslauer Zeitung“ kollegial apostrophiert, sondern er hat aucham 26. September 1897 („Breslauer ZeitungNr. 676) in jenemBerliner Brief“, auf den sich die Stelle des von ihm zitiertenPrivatbriefs vom 30. IX. 97 eben bezogen hat, von mir, dessenfragwürdiges „Lob“ vom Jahre 1907 er als Kaptivierungsversuchdeutet, und zugleich von Hermann Bahr, auf den er sich als Zeugenfür meine verleumderische Anlage beruft, in einer Kritik seinesStückes „Tschaperl“ gesprochen. Und zwar – dreissig Jahre, bevorich zum kleinen Verleumder wurde – das Folgende:

Es ist am Ende die Welt eines Weaners, die papierne, gemalte,und wir schenken ihr, obgleich die Theaterwelt in Berlin eingrösserer Faktor als in Wien ist, nicht die Bedeutung, die ihrdie molligen Mehlspeisesser gern gewähren. Und wüste, widerwärtig,raffinierte Effektszenen ältesten Mimenstils, enthält diesesDrama. Um es genügend zu verspotten,müsste man sich einen eigenen KarlKraus verschreiben.

29.10.1927.