| ,
8
▒▒▒▒
Mögen sie es auch leichter gehabt haben als unser-
eins — zu solchem Verzicht neigt unwillkürlich auch
der, der sich auffraffen will,um das Errungene zu
prüfen. Das ist eine Vieharbeit, denn der Untersucher
gerät vor dem Schlichtesten an alle Probleme der Logik
und der Moral, daß ihm der Atem vergeht, Hören und
Sehnvergeht, das Lachen, die Lust, und wenn sich die
Sprache findet, vergeht sie sich wieder im Irrgarten
tausendfacher Antithetik, wo sich die Motive stoßen
und ein Wort das andere gibt : sie erlebt die
Schmach, sich zu verlieren, und das Glück, zu sich
zu kommen, immer hinter einer Wirklichkeit her,
von der sie nichts trennt als das Chaos. Wer sich
da einem Führer anvertrauen könnte ! Wer sich da
alles ersparen könnte, um schlicht zu sein wie
jene ! Denn das eben ist ja das große Wunder, daß der Schöpfer des neuen
Deutschlands (welches immerhin im Genitiv biegbar erscheint) die bezwingende Gewalt besitzt, selbst die kompliziertesten
Mitmenschen wieder zur volkhaften Schlichtheit zu
formen. Und ich soll mich in das Problem vertiefen, ob
sich die ungeheure Erfüllung des Gebots »Deutsch-
land erwache !« so reibungslos vollzogen hätte, wenn
ihm nicht die einfachere Weisung »Juda verrecke !«
angeschlossen und unmittelbar befolgt worden wäre !
Zwar, als ich einst gebannt jener Ruferin im Streite
auf den Mund sah, die sich zwischen den bunten
Parolen »Wachsstreichhelza !«, »Bezetammittach !«
und »Die ersten duftenden Frühlingsboten !« mit
»Fridericus ! Der eiserne Besen !« durchrang und
Bahn brach mit der unverdrossenen Frage : »Warum
vadient der Jude schnellerundmehr Jeld als der
Christ ?« — da hatte ich’s, da stieß ich an die
Wurzel, da konnte ich ahnen, was zu sagen so
schwer ist.
eins — zu solchem Verzicht neigt unwillkürlich auch
der, der sich auffraffen will,
prüfen. Das ist eine Vieharbeit, denn der Untersucher
gerät vor dem Schlichtesten an alle Probleme der Logik
und der Moral, daß ihm der Atem vergeht, Hören und
Sehn
Sprache findet, vergeht sie sich wieder im Irrgarten
tausendfacher Antithetik, wo sich die Motive stoßen
und ein Wort das andere gibt : sie erlebt die
Schmach, sich zu verlieren, und das Glück, zu sich
zu kommen, immer hinter einer Wirklichkeit her,
von der sie nichts trennt als das Chaos. Wer sich
da einem Führer anvertrauen könnte ! Wer sich da
alles ersparen könnte, um schlicht zu sein wie
jene ! Denn das eben ist ja das große Wunder, daß der Schöpfer des neuen
Deutschlands (welches immerhin im Genitiv biegbar erscheint) die bezwingende Gewalt besitzt, selbst die kompliziertesten
Mitmenschen wieder zur volkhaften Schlichtheit zu
formen. Und ich soll mich in das Problem vertiefen, ob
sich die ungeheure Erfüllung des Gebots »Deutsch-
land erwache !« so reibungslos vollzogen hätte, wenn
ihm nicht die einfachere Weisung »Juda verrecke !«
angeschlossen und unmittelbar befolgt worden wäre !
Zwar, als ich einst gebannt jener Ruferin im Streite
auf den Mund sah, die sich zwischen den bunten
Parolen »Wachsstreichhelza !«, »Bezetammittach !«
und »Die ersten duftenden Frühlingsboten !« mit
»Fridericus ! Der eiserne Besen !« durchrang und
Bahn brach mit der unverdrossenen Frage : »Warum
vadient der Jude schnellerundmehr Jeld als der
Christ ?« — da hatte ich’s, da stieß ich an die
Wurzel, da konnte ich ahnen, was zu sagen so
schwer ist.
Wie vermöchte ich, was einer Welt trotz allem
Anlauf nicht gelingen will ! Das Unbeschreibliche,
das so schlicht getan ist und vor dessen Hekatom-
ben das menschheitliche Gefühl der Weltzwar
schaudert, doch ins Nichtbegreifen flüchtet ; woran
die Herzensleere einer noch geschützten Sprach-
genossenschaft zum Greuel wird ; wovor eine Soli-
darität versagt, die sich einst für den Einzelfall
einer Formenjustiz alarmieren konnte— dieses Un-
beschreibliche, das die Existenz an die Bedingung
Anlauf nicht gelingen will ! Das Unbeschreibliche,
das so schlicht getan ist und vor dessen Hekatom-
ben das menschheitliche Gefühl der Welt
schaudert
die Herzensleere einer noch geschützten Sprach-
genossenschaft zum Greuel wird ; wovor eine Soli-
darität versagt, die sich einst für den Einzelfall
einer Formenjustiz alarmieren konnte
beschreibliche, das die Existenz an die Bedingung
|₰
|₰
| und
| :
Jerusalemer Konvolut, fol. [8] recto
Pagination oben rechts: "8". (Tinte, schwarz (Karl Kraus))
Textträger
Standort, Signatur:
Grundschicht, Material: Fahnenabzug, Höhe 210 mm, Breite 142 mm
Zustand
Bibliotheksstempel der National Library of Israel, Jerusalem, recto, unten rechts.
Weitere Textschichten
- #undefined
- Buntstift, rot
- Bleistift
- Tinte, schwarz (Karl Kraus)
- Markierung für den Druck der Fackel Nr. 890:
- vertikale Linie Links
- vertikale Linie Rechts
Datierung (terminus post quem)
Grundschicht: 11. 05. 1933 (zitierter Text)